Liebe Freunde des OSM,
es gibt manchmal so Ereignisse, die werfen mich kreativ in die Steinzeit der Schriftstellerei zurück, und solch ein Ereignis fand gestern statt, na… okay, sagen wir, in den vergangenen drei Tagen, ehe ich diese Zeilen schreibe. Da sie mit großer Verzögerung in meinem gut durchgeplanten Blog veröffentlicht werden und ich hoffe, dass sich die Verhältnisse bis dahin schon wesentlich gebessert haben, schreibe ich heute mal nicht dazu, welches Datum wir jetzt eigentlich schreiben, wo ich diese Zeilen notiere. Der Person, über deren Arbeit ich sprechen möchte, wäre das vielleicht auch gar nicht so recht.
Ein befreundeter Literat bat mich um einen Freundschaftsdienst. Er sagte via Mail, er habe eine alte Geschichte überarbeitet und wünsche nun ein Statement über den Inhalt. Die Story hatte nur drei Seiten Länge, also dachte ich: gut, mache ich das mal so eben nebenbei. Immerhin hatte er ja schon Geschichten veröffentlicht und machte eifrig Werbung mit Hilfe von Flyern für seine Produkte. Konnte also gar nicht so schwer sein…
Nun, ich wurde unsanft geweckt, würde ich sagen. Auf drei Seiten fanden sich mehr als 40 Schreibfehler, insbesondere orthografischer Natur, und ich war völlig geplättet, konnte einfach nicht glauben, was ich da sah. Und dies war eine Überarbeitung? Hallo, dachte ich, das ist doch jetzt nicht dein Ernst!
Dann kam mir ein finsterer zweiter Gedanke: er hatte mir ja eine seiner gedruckten Geschichten jüngst geschenkt, und ich hatte auch schon Flyer dafür verteilt. Mein Gedanke lautete etwa „Oh Gott, die Geschichte hat doch nicht etwa dieselben Schwächen?! Das will ich doch wirklich nicht ernsthaft in Erwägung ziehen…“
Wer mich und meinen moralischen Impetus kennt, weiß, dass mich solche Gedanken nicht ruhen lassen. Ich nahm mir also, nachdem ich einen ausführlichen, mehrseitigen kritischen Kommentar zu der ersten Geschichte geschrieben hatte (annähernd so lang wie die Geschichte selbst übrigens), jenes andere Werk vor.
Und um es kurz zu machen: meine Befürchtungen erfüllten sich im vollen Umfang. Das publizierte (!) Werk war noch sehr viel grauslicher geraten, als ich es gefürchtet hatte. Folgerichtig bestand meine Reaktion – ich bin eben ein Freund, und Freunde sollten einander vor Fehlern bewahren, wenn sie sie erkennen, das ist mein Credo – daraus, ihm sofort einen Brief zu schreiben und dringend zu raten, dieses Werk aus dem Handel zu entfernen.
Ich schrieb, es weiter in diesem Zustand zu vertreiben, grenze geradezu an kreativen Selbstmord, eigenverantwortlichen Rufmord in eigener Sache, gewissermaßen. Und ich übertreibe hierbei nicht.
Bei der Lektüre fühlte ich mich auf bestürzende Weise an meine eigene kreative Frühzeit erinnert, an Fehler, die ich selbst seit langem – hoffe ich wenigstens – überwunden habe. Hier fand ich sie in Reinkultur vor, munter vor die Leserschaft geworfen in der naiven Annahme: das ist doch gute Schriftstellerei! Das tat richtig weh.
Welche Fehler waren es? Ich nenne mal ein paar, da der Platz hier natürlich begrenzt ist, und ich versuche zugleich, nicht zu viele Informationen zu geben, damit mein Freund sich nicht vielleicht noch langfristig brüskiert oder bloßgestellt vorkommt… das ist nicht meine Intention. Meine Intention ist Hilfsbereitschaft.
Da gab es beispielsweise eine Szene in der Geschichte, in der es um einen Arztbesuch geht. Sie dehnt sich auf mehrere Seiten aus. Der Arzt bekommt nicht nur keinen Namen, man erfährt auch außer der Behauptung, dass er Arzt sei, rein gar nichts weiter mit. Wie sieht seine Praxis aus? Keine Ahnung. Wo liegt sie? Keine Ahnung. Wie muss man sich den Arzt optisch vorstellen? Null Information. Wie alt ist er? Was für Besonderheiten besitzt er? Fehlanzeige auf ganzer Linie. Das gesamte Gespräch der Ehefrau mit dem Arzt (ob er ein Psychologe ist, Neurologe, Allgemeinmediziner oder etwas anderes, das wird auch nicht verraten) überzeugt den Leser – hier mich also – nicht im Geringsten.
Ein kardinaler Fehler dokumentierte sich hier und überall sonst in der Geschichte: der Autor steckte nicht „in“ der Szene. Ich kenne solche Fehler, wie gesagt, von mir selbst. Ich habe sie auch gemacht, und ich stolpere ständig über solche Stellen, weil ich ja alte Geschichten von mir abschreibe und sie so digitalisiere. Aber bitte: ich machte diese Fehler vor 30 Jahren, als ich 17, 18 Jahre alt war. Unser Autor, über den wir reden, ist inzwischen jenseits der 40. Das ist dann doch schon deutlich weniger schön.
Es gab weitere Schwierigkeiten. Ein zentraler davon bestand in einer amorphen Szenerie. Der Leser bekommt von Anfang an keine rechte Vorstellung, wie eigentlich der Handlungsschauplatz aussieht (ein zum Wohnhaus umgebauter, alter Bahnhof). Der Verfasser hätte, insbesondere deshalb, weil der Protagonist der Geschichte zu Grübeleien neigt und sich häufig auf der Wanderung durch seine eigenen vier Wände befindet, zwingenden Grund, dieses Areal, das ja nur er selbst kennt, aber nicht der Leser, gründlich zu beschreiben, und zwar von Anfang an.
Wie viele der so gewonnenen Details er dann letztlich für den Plot gebraucht, obliegt allein ihm. Und das macht ja einen Teil der Spannung für den Leser aus, der schon mal grübeln kann, welchen Sinn bestimmte Handlungselemente oder Einrichtungsgegenstände machen. Unser anonymer Autor, über den ich schreibe, beging hier also einen Fauxpas nach dem nächsten. Von einer Seite zur nächsten tauchten erst ein vorher ungenannter Freund auf, dann ein Billardtisch, dann ein Bruder und schließlich noch ein Klavier… sämtlich etliche Seiten später als sinnvoll.
All diese Dinge waren strikt handlungsgebunden, so dass sofort deutlich wurde: sie sind vorher nie erwähnt worden, sie wurden also für diese Passage der Geschichte erfunden, hastig improvisiert. Das macht deutlich: der Autor war in der Szenerie nicht daheim, er hat nicht vorher einen gedanklichen Rundgang gemacht und sich mit dem Setting vertraut gemacht, ehe er es einsetzte.
Wie gesagt: solche Fehler habe ich vor 30 Jahren auch gemacht. Es sind die klassischen Fehler, die Anfängerautoren begehen. Sie neigen naiv dazu, sich zu sagen „Warum soll ich das Haus beschreiben? Reicht doch völlig aus, zu schreiben: Er ging ins Haus. Ich weiß doch, wie das aussieht!“
Aber der Leser weiß das nicht. Der Leser hat nur nichtssagende Worte vor sich, die mit Leben gefüllt werden wollen. Und zwar vom Autor höchstselbst. Bevor er die Geschichte der Öffentlichkeit vorstellt! Ad-hoc-Erfindungen entwerten die Plausibilität von Geschichten, und wenn das häufiger vorkommt, hat der Leser das Gefühl, der Autor habe ständig gegrübelt, was er wohl als nächstes in die Geschichte aufnehmen wollte… böswillige Leute nennen so etwas stümperhaft.
Bis zum Schluss vermisste ich relevante Details: das Aussehen der Hauptpersonen etwa, das nicht einmal dann beschrieben wird, wenn die Personen sich am Tisch gegenübersitzen. Das Alter der Hauptperson wird bis zum Schluss verschwiegen (die Nachnamen übrigens auch, ebenso wie Handlungsort, Handlungszeit und vieles weitere), und man bleibt als Leser am Schluss völlig frustriert zurück.
Ich war hingegen nicht nur frustriert, sondern schockiert. Und er tat mir leid, mein Freund. Ich bot ihm eine ausführliche Aussprache an (die bis zum Erscheinen dieses Blogartikels sicherlich seit Monaten erfolgt sein wird) und Lektoratshilfe. Denn ich lasse Freunde nun mal nicht ins offene Messer rennen. Was wäre ich dann für eine Art von Freund, täte ich das?
Und heute, einen Tag nach diesen Geschehnissen, kam mir dann ein klassisch kreativer Gedanke: viele Mitmenschen neigen ja dazu, solche Erfahrungen als üble Zeitverschwendung anzusehen. Und ja, selbst wenn mich diese Leseerfahrung mehr als fünf Stunden meines Lebens gekostet hat, habe ich sie doch dann als einen Anstoß gesehen, als Steilvorlage. Das ist so Teil meiner Lebensphilosophie – lerne aus Fehlern, auch aus denen anderer Menschen; verwandle die negativen Erfahrungen durch deine Kreativität in positive Aktion.
Warum sonst wohl schriebe ich hier diesen Blogartikel? Weil ich Schriftsteller bin. Schriftsteller sind Menschen, die die Dinge mit anderen Augen sehen als die Durchschnittsbürger unserer Welt. Sie sind dabei natürlich nicht besser oder schlechter als diese, eben nur anders. Und da, wo der kreativ nicht so rege Mensch nur Frustration empfindet oder gar nichts sieht, was relevant ist, da sieht der Kreative etwas ganz anderes.
Beispielsweise das Potential für Denkanstöße. Verbesserungshilfen für Freunde, Lernpotentiale für das eigene Schreiben.
Das ist auch einer der wesentlichen Gründe, warum ich Lektorat als so nützlich empfinde, wenn ich es mache. Ich lerne dabei nicht nur fremde Texte, fremde Denkwelten und unbekannte Schreibstile kennen, sondern ziehe daraus auch für mich Verbesserungsanstöße.
So sollte Kreativität funktionieren, das ist meine fundamentale Ansicht: sie sollte von Lektüre zu Lektüre dazu führen, besser zu werden, präziser den Strom der Bilder, der den Geist des Kreativen durchströmt, während er schreibt, zu bewältigen, darzustellen und in Worten abzubilden. Denn machen wir uns nichts vor – nur dann, wenn man tatsächlich das, was man vor dem inneren Auge sehen kann, plastisch in den Geist des Lesers transferiert, kann man tatsächlich mit Fug und Recht behaupten, ein Schriftsteller zu sein, der sein Handwerk beherrscht.
Mein armer Freund, der dies schon glaubte, hat leider schlagend demonstriert, dass er hier noch einen weiten und steinigen Lernweg vor sich hat, ehe er diesen Punkt erreicht, wo er das mit Recht von sich behaupten kann. Aber ich helfe ihm gern dabei. Nichts wäre schäbiger, als geringschätzig über dieses Schreibdesaster zu grinsen und mit Herablassung zu reagieren.
Solche Reaktion werdet ihr von mir nicht erfahren, Freunde. Versprochen!
Und wenn ich wieder mal solche „Steilvorlagen“ zu sehen bekomme, werde ich, soweit meine Zeit es halt zulässt, wieder zu helfen suchen.
Für heute möchte ich aber schließen und euch auf den Blogeintrag der kommenden Woche hinweisen, wo ich wieder einmal die Artikelreihe „Was ist eigentlich der OSM?“ fortsetzen werde. Ich würde mich freuen, wenn ihr dann wieder neugierig dabei sein würdet.
In diesem Sinne – bis bald, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.