Liebe Freunde des OSM,
es ist ein wenig schwer, zu glauben, dass ich tatsächlich schon fünfzig Wochen lang an diesem Blog schreibe, also fast ein ganzes Jahr lang. Das im Februar begonnene Experiment, meine Werke allgemein und weltweit für Leser zugänglich zu machen, hat sich schön entwickelt, und monatliche Besucherzahlen von mehr als 2000 zeigen, dass reges Interesse an diesen Beiträgen besteht. Das freut und ehrt mich.
Für den „Jubiläumsbeitrag“, der vermutlich ein wenig länger ausfallen wird als üblich – dem Anlass durchaus angemessen – , habe ich ein Thema ausgewählt, das mich seit neuestem wieder bewegt. Es geht um „Kontrafaktik“. Wer mit dem Fremdwort auf den ersten Blick nichts anfangen kann, dem helfe ich gern ein wenig nach:
Kontrafaktik ist die Lehre von Ereignisabläufen, die im Widerspruch zu den realen Gegebenheiten steht. Üblicherweise bezieht man die Kontrafaktik auf alternative Zeitabläufe, und so soll das auch hier verstanden werden. Wir beschäftigen uns, wenn wir mit der Kontrafaktik zu tun haben, mit der legendären Frage „Was wäre, wenn…?“, von denen die vielleicht prominenteste (weil vermeintlich wichtigste, das indes ist ein Irrtum), die Frage ist „Was wäre, wenn die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten?“
In Wahrheit müsste man nämlich sagen, dass es viel elementarer wäre, sich zu überlegen, in was für einem Jahrhundert wir wohl leben würden, wenn der Erste Weltkrieg nicht stattgefunden hätte. Wären wir dann immer noch in einem deutschen Kaiserreich Untertanen Seiner Majestät? Das ist eher zu bezweifeln. Es ist allerdings auch sehr unwahrscheinlich, dass wir uns, wenn obige historische Abzweigung Realität geworden wäre, in einer Welt befänden, in der es solche Staaten wie Israel, Syrien, die moderne Türkei oder ein kommunistisches China gäbe.
Der Erste Weltkrieg hat das zwanzigste Jahrhundert in einer Weise geprägt, die auch bis ins einundzwanzigste nahtlos fortwirkt. Und wenn man dort die Weichen anders gestellt hätte, sähe unsere Zivilisation grundlegend anders aus. Ich wage allerdings keine Prognose, ob zum Besseren oder zum Schlechteren.
In diesen Kontext verirrte ich mich kürzlich wieder, als ich zur Vorbereitung meines Seminars „Philosophische Texte zum Ersten Weltkrieg“ das wirklich sehr empfehlenswerte, scharfsinnige und spannende Buch „Die Zimmermann-Depesche“ von Barbara Tuchman las (die Lektüre dauert noch an – Nachtrag vom Februar 2014: Das ist inzwischen natürlich Vergangenheit, aber im November 2013, als ich diese Zeilen schrieb, entsprachen sie der Realität. Das Buch ist noch toller als angenommen!).
Nein, nein, sie fabuliert hier nicht von einer kontrafaktischen Kaiserreichsgeschichte des 20. Jahrhunderts, nicht, dass ihr was Falsches erwartet, wenn ihr das Buch aufschlagt… sie hält sich strikt an die Fakten. Aber es gibt da einen Handlungsstrang, der so abenteuerlich ist, dass er geradewegs dazu einlädt, sich Gedanken über einen kontrafaktischen Roman in der Tradition eines Clive Cussler zu machen. Ich habe eine Entwurfsskizze unter dem Stichwort „Die Japan-Mexiko-Connection“ niedergelegt. Ich halte das für ein lohnendes Non-OSM-Projekt der Zukunft.
Worum es darin genau geht? Ach, ich deute es nur an: es hat etwas zu tun mit der japanischen Geheimdiplomatie, einen Stützpunkt in Mexiko in der Zeit direkt vor dem Ersten Weltkrieg zu errichten, eine japanisch-mexikanische Armee aufzustellen und gegen die Vereinigten Staaten zu marschieren… Hirngespinst und Phantasterei? Beinahe, möchte ich sagen. Die Abzweigung in diese Welt wurde nur recht knapp verfehlt, und wer mehr wissen möchte, sollte das oben angegebene Buch lesen. Es ist tatsächlich, wie die Saturday Review schrieb, „vergleichbar einem Thriller von Eric Ambler“.
So stecke ich also derzeit (Anfang November 2013) parallel in meinen historischen Texten zum Ersten Weltkrieg UND in kontrafaktischen Welten fest. Aber so kann ich den Bogen schlagen zum OSM.
Auch im Oki Stanwer Mythos gibt es parallele Welten, alternative Zeitentwürfe. Da ich eure Geduld nicht überstrapazieren möchte und ihr natürlich diese Werke nicht kennt, da sie zumeist noch nicht mal aus der reinen Schreibmaschinenfassung in ein digitales Format übertragen wurden, ganz zu schweigen davon, dass sie auch nicht in gescheit lesbare und genießbare Form überarbeitet wurden, und somit derzeit unzugänglich sind, deshalb werde ich mich auf ein paar wenige Fälle beschränken und ein bisschen den Leseappetit auf die Zukunft schüren.
Die alternative Zukunft des OSM begann schon recht früh, und sie ist sozusagen OSM-endemisch. Das heißt folgendes: als ich die zeitigen OSM-Serien entwickelte, kam ich ein wenig aus dem Tritt, weil ich es unvermittelt mit mehreren, offenbar parallelen Wirklichkeiten der irdischen Zukunft zu tun hatte (vgl. dazu meine Blogeinträge der Reihe „Was ist eigentlich der OSM?“). Da gab es die Erde des Jahres 2123 (KONFLIKT 13 „Oki Stanwer Horror“ (1982-1985)), aber auch die Erde des Jahres 2092 (KONFLIKT 17 „Drohung aus dem All“ (1983-1986)).
In der einen Welt des KONFLIKTS 17 beherrschte die Menschheit ein kleines Sternenreich, in der des KONFLIKTS 13 war sie nicht mal zur Raumfahrt imstande. Wie ihr heute wisst, löste sich der Knoten, indem ich herausfand, dass es sich dabei um zwei verschiedene, zeitlich aufeinander folgende Universen handelte (was mich dann mit dem Problem der Matrixfehler konfrontierte, das ich hier und heute nicht vertiefen werde, das ist unseren Kosmologie-Lektionen vorbehalten).
Von dieser Art der Schein-Kontrafaktik rede ich heute also nicht weiter. Wirklich in alternative Universen eingedrungen war ich kurz darauf. Ich bin derzeit gerade dabei, die Episoden des KONFLIKTS 12 „Oki Stanwer – Bezwinger des Chaos“ (1987-1993) abzuschreiben, und ich kann nur sagen: das ist echt ein gordischer Knoten von beispielloser Komplexität. Da den Überblick zu behalten, ist wirklich knifflig.
Warum?
Vordergründig geht es dort ja darum, dass die kleine Nation der Tasvaner in der Kleingalaxis Pholyar im Halo von Bytharg davon träumt, die Grüne Galaxis Bytharg mit Langstreckenschiffen zu erreichen. Was den Tasvanern dabei nicht klar ist, ist freilich folgendes: sie sind Zeitsiedler. Sie stammen vom Volk der Allis ab (ja, wer da als Leser der Serie „Oki Stanwer und das Terrorimperium“ (TI) jetzt aufhorcht, tut das mit Recht, das ist genau das Volk, an das ihr jetzt denkt!), und sie wurden von Oki Stanwer und den Baumeistern über Zeitreiseportale in die Vergangenheit des Universums geschickt, um hier eine autonome Nation zu erschaffen, dort in der Sicherheit von Pholyar heranzuwachsen und schließlich Oki Stanwer und seinen Allis in der Galaxis Koopen als Streitkräfte zur Verfügung zu stehen.
Dumm ist nur, dass die Situation sich anders entwickelt. Die Tasvaner vergessen ihre Vergangenheit, und dann werden sie auch noch – wie übrigens zahlreiche andere Zeitsiedlerkolonien im Umfeld von Bytharg auch – von den Streitkräften des Bösen kurzerhand untergepflügt, oder wenigstens beinahe.
Noch schwieriger: Oki Stanwer verlässt sich nicht allein darauf, sondern schickt auch zwei seiner besten Freunde in die Vergangenheit. Sowohl Klivies Kleines als auch Salketh-en-torion sollen versuchen, die gestaltwandelnden Berinnyer, die Sklaven des Großreichs Bytharg, gegen TOTAM und die Macht CROSSATH aufzustacheln. Kleines´ Mission ist schon fehlgeschlagen. Salketh soll versuchen, ihn von seinem Versuch nun abzuhalten… und was sich daraus entwickelt, ist Chaos.
Noch schlimmer: auch eine Dämonenwaffe von TOTAM, die in der Zukunft in die Enge getrieben worden ist, nutzt die Möglichkeit dieser Zeitportale und flüchtet inkognito in die Vergangenheit. Es gibt sie dort also dann quasi zweimal, und das führt zu schrecklichen Verwirrungen.
Und so weiter und so fort… es wird eine sehr anspruchsvolle Aufgabe werden, all diese Handlungsstränge bei der Abschrift zu entwirren und zutreffend zu kommentieren. Aber das wird in ein paar Jahren für euch sicherlich ein spannendes Leseabenteuer werden.
Ebenso nutzte der KONFLIKT 23 „Oki Stanwer – Der Dämonenjäger“ (1988-1994) das Potential der Kontrafaktik. Das geht schon mit der Ausgangssituation los. Die Erde, auf der Oki Stanwer erscheint, ist eine nukleare Wüste. Man schreibt das Jahr 2021, und die Erde ist seit einem globalen Atomkrieg im Jahre 1904 zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Russisch-Chinesischen Block fast vollständig zerstört. Es gibt nur einige wenige Enklaven, die unter magischen Schutzschilden liegen. Dort leben die Menschen unter der rigiden Kontrolle der Dämonenwaffen von TOTAM.
Moment, mögt ihr sagen – ein Nuklearkrieg im Jahre 1904? Aber da hatte doch noch niemand eine Ahnung von Nuklearwaffen… und recht habt ihr. Im Verlaufe der Serie kommt recht bald heraus, dass dieser Waffengang in einer Welt, die dafür noch gar nicht reif war, gezielt von auswärtigen Mächten forciert wurde, namentlich von einer Macht, die sich HTT nennt.
Oki Stanwer braucht die Hilfe eines Temporal-ZYNEEGHARS der Baumeister, um mittels einer (leider ebenfalls perfiden) Zeitreise herauszufinden, dass dieser Kürzel „High-Technology-Transfers“ heißt. Das ist ein weltumspannender Waffenkonzern in einer parallelen Welt des 28. Jahrhunderts, der über die Zeitreisemöglichkeit gebietet und dabei ist, die Kontrolle über ein ganzes Bündel von parallelen Erden des „Multizeit-KONFLIKTS“ (so der Beiname des KONFLIKTS 23) zu verschaffen.
Und das sind dann wirklich reinrassige Parallelwelten. Auf einer davon schreibt man das Jahr 1531, und als beispielsweise Klivies Kleines dort eine Reise nach Europa unternimmt, landet er im realen Mittelalter… mit ebenso realen „Reitern der Apokalypse“, Raubrittern, Marodeuren und technisch hochgerüsteten, subversiven Geheimagenten von HTT, die das Ende dieser Zivilisation anstreben.
In einer anderen Welt dieses KONFLIKTS schreibt man das Jahr 1956. Und dort tobt noch immer der Zweite Weltkrieg. Die Nazis sind nach wie vor auf dem Kontinent an der Macht, Hitler ist ins Exil vertrieben und durch Martin Bormann ersetzt worden… und die Totenkopf-SS des Reiches besteht tatsächlich aus Totenköpfen, den monströsen Hilfstruppen TOTAMS, die offensichtlich der Kontrolle entlaufen sind.
Die Kontrafaktik allein dieser beiden Beispiele, die ich aufgezeigt habe, hat damals meine Kreativität in unglaublicher Weise befeuert, und zwar lange, bevor ich begann, Geschichte zu studieren. Wenn man erst einmal begonnen hat, zu verstehen, dass selbst arrivierte Historiker der Verlockung nicht widerstehen können, kontrafaktische Gedankenspuren zu entwickeln und ihnen zumindest partiell zu folgen – lest mal einschlägige historische Standardwerke, ihr werdet diesen Einfluss an vielen Stellen entdecken – , dann kann man sich vielleicht auch mit dem Gedanken anfreunden, dass dies nicht gar so abseitig ist, wie vielleicht zunächst gedacht.
In Wahrheit, und da spreche ich jetzt mit dem Historiker Alexander Demandt, der Ähnliches in seinem beeindruckenden Werk „Ungeschehene Geschichte“ schrieb, in Wahrheit schärft das Denken in Alternativen nämlich unser Urteilsbewusstsein. Wir lernen auf diese Weise, die Bedeutung der realen Entscheidungssituationen klarer zu erfassen und, indem wir die Vergangenheit in Gedanken Revue passieren zu lassen, zugleich analoge Situationen der Gegenwart und nahen Zukunft zu erahnen und hier vielleicht die richtigen Entscheidungen zu treffen. Insofern ist Kontrafaktik nicht eine müßige Spinnerei, wie man vielleicht denken könnte. Es ist eine Übung in Möglichkeiten, das unseren Verstand flexibel hält. Und für uns Phantasten stellt Kontrafaktik zugleich eine profunde Möglichkeit dar, Geschichte und Fiktion in einer intelligenten und sehr anspruchsvollen Mischung dem Leser darzubieten.
Denn machen wir uns nichts vor: Kontrafaktische Geschichten sind sehr ambitioniert. Wir wenden uns als Verfasser sowohl an die Phantasten, die möglicherweise von Geschichte wenig Ahnung haben als auch an die historisch Gebildeten, die vom Faktenaspekt eine Menge Ahnung besitzen. Beide Seiten wollen präzise unterhalten werden. Und, ich weiß das von mir selbst, da ich beide Formen beinhalte, den Historiker ebenso wie den phantastischen Literaten, Historiker können verdammte Erbsenzähler sein. Wenn die Fakten nicht stimmen und die Hypothesen eher flüchtig durchdacht sind, fallen die Kritiken leicht gnadenlos aus.
Schaue darum niemand verächtlich oder herablassend auf kontrafaktische Geschichten herab – wenn die Verfasser Kenntnis und Stil besitzen, sind sie eine großartige Unterhaltung. Ich hoffe, dass ich selbst dazu imstande sein werde, die kontrafaktischen Geschichten, die ich im Laufe der letzten knapp 30 Jahre im OSM verfasst habe, beizeiten in ansprechender Form an euch weiterzugeben. Aktuell ist das nur ein optimistischer Wunsch.
Aber ihr könnt dabei sein und den kritischen Schleifstein bilden, wenn es soweit ist. Ihr erfahrt das dann hier an dieser Stelle.
Natürlich gibt es noch viel zu diesem Thema zu sagen, aber für heute soll das erst mal wieder hinreichen. Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit, hoffe, euch gut unterhalten zu haben und verlasse euch in der Erwartung, dass ihr nächste Woche wieder hereinschaut, wenn ich euch etwas über die kreativen Taten des Monats November 2013 erzähle.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.