Rezensions-Blog 9: Kollaps

Posted Mai 27th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

man unterstellt ja Phantasten ganz gern eine gewisse Neigung zum Eskapismus. Warum sollte man sich, sei es Leser, sei es Autor, in die Zukunft oder fremde Welten flüchten, wo doch die unsere genug an Problempotential bietet, um das man sich vordergründig kümmern sollte. So eindimensional verstanden gäbe es also durchaus Grund, Science Fiction, Fantasy, Vampirliteratur oder phantasti­sche Jugendbücher und dergleichen als eine Form von Luxus und Wirklichkeits­flucht darzustellen.

Diese Argumentation greift aber zu kurz, und das tut sie insbesondere deshalb, weil tätige Phantasten wie ich beispielsweise durchaus nicht die Realität aus dem Blick verlieren. Viele Themen, die in unserer Gegenwart von brennender Relevanz sind, werden in phantastischen Geschichten gewissermaßen camou­fliert übernommen, projiziert und diskutiert. Oftmals ist es sogar erst in solchen Settings möglich, akute Probleme der Gegenwart wertfrei und vor allen Dingen ideologiefrei zu diskutieren.

Außerdem, und das führt uns zum Buch dieses Rezensions-Blogs, ist es nicht so, dass ich als Autor phantastischer Geschichten nur weltfremde phantastische Bücher läse, weit gefehlt. Mit Jared Diamonds hier besprochenem Buch fiel mir sogar ein extrem wichtiges und sehr aufwühlendes Sachbuch in die Hände, das viele Fragen, die mir schon lange quälend durch den Kopf gingen, thematisierte, sortierte und analytisch einer potentiellen Lösung zuführte. Es geht um solche Fragen wie: warum sterben Gesellschaften aus oder gehen zugrunde, und wie kann man aus solchen historischen Fallbeispielen für unsere Gegenwart und Zukunft lernen?

Fürwahr ein topaktuelles Thema, wenn man sich anschaut, was der vermeint­lich so kluge homo sapiens sapiens derzeit mit seiner natürlichen Umgebung anrichtet und wie wenig getan wird, um diesen Planeten in ein gescheites Gleichgewicht zurückzuführen. Klimakatastrophe, Überbevölkerung, Ressour­cenverschwendung, politische Kurzsichtigkeit, ideologische Vernagelung… es gibt viele Worte für die Katastrophen, die uns drohen, vom Aussterben unserer Art einmal ganz zu schweigen.

Jared Diamond legt den Finger auf die Wunde, und ihr solltet ihn mal genauer studieren. Hier ein kleiner Vorgeschmack:

Kollaps

Warum Gesellschaften überleben oder untergehen

(OT: Collapse. How Societies Choose to Fail or Succeed)1

von Jared Diamond

S. Fischer, Hardcover, 730 Seiten

Frankfurt am Main 2005

Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel

ISBN 3-10-013904-6

In unserer heutigen Zeit der Umweltzerstörungen und Frevel gegen die Natur, in der Zeit der nachgewiesenen, wesentlich vom Menschen mit verursachten Weltklimaerwärmung, die unser Leben in absehbarer Zeit zur Hölle machen kann, sind wohlfeile Rezepte des Umsteuerns selten und kostbar. Oftmals wird von resignierenden Zeitgenossen die Klage erhoben, man könne doch gar nichts tun, man sei selbst – wie der Großteil der Menschheit – nur ein Spielball der großen Konzerne und egozentrischen Politiker, der machthungrigen Regierun­gen, die das Schiff namens Erde unerbittlich zu ihrem kurzsichtigen Vorteil ge­gen die Wand führen.

Stimmt das?

Und stimmt es vor allen Dingen, dass dies ein unabwendbares Schicksal ist, das völlig unvorhersehbar gewesen ist?2 Gab es keine Beispiele, die uns zeigen wür­den, was geschehen musste, wenn wir bestimmte Handlungen vollzogen? Und, wie gesagt, gibt es tatsächlich keinen Ausweg als den Untergang?

Der Professor für Geografie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, Jared Diamond, der dieses Buch geschrieben hat, ist gegenteiliger Ansicht, und dieses Buch ist der Beweis dafür, dass er Recht hat: Es wimmelt in der Weltge­schichte von Beispielen, in denen Menschen und ihre Kulturen sich aus ver­schiedensten Ursachen zugrunde gerichtet haben, und wie schon in seinem Buch „Arm und Reich“3, das vor einigen Jahren Furore machte, geht der ameri­kanische Wissenschaftler zurück auf die ökonomische Basis. Ich weise aber schon zu Anfang darauf hin, dass das Buch, wenn man sich darauf einlässt, in je­der nur erdenklichen Beziehung harter Stoff ist. Lehrreich, erschütternd, fakten­gesättigt und mitunter in seinen unabweislichen Schlussfolgerungen fast unge­nießbar. Fast. Man könnte es in weiten Teilen für ein pessimistisches Buch hal­ten, wären da nicht die letzten beiden Kapitel… aber ich greife vor.

Das Buch ist in einen Prolog und vier große Abschnitte unterteilt. Im Prolog stimmt der Autor den Leser sozusagen auf das Thema ein, indem er wesentli­che Punkte herausgreift, die die Gegenwart und die Vergangenheit verbinden. Indem er einen Bauernhof im heutigen Montana und den Wikinger-Bauernhof von Gardar in Normannisch-Grönland (mehr dazu schreibt er in den Kapiteln 7 und 8) miteinander ein wenig vergleicht und die frappierenden Ähnlichkeiten der Wirtschaft, des Werdegangs und ihrer Probleme und zugleich dann die Un­terschiedlichkeit der dort angewandten Lösungsstrategien darstellt (in Montana erfolgreich, in Gardar nicht erfolgreich), skizziert er sozusagen die großen Linien des Buches und trifft zugleich Vorkehrungen gegen voreilige Schlussfolgerun­gen.

Voreilige Schlussfolgerungen können aus verschiedensten Gründen entstehen, wie er darlegt, und die Ideologie ist auf beiden Seiten gern und oft im Spiel. Da gibt es die Vertreter der Position, die meinen, der Untergang von indigenen Kul­turen – z. B. der Maya – sei erst in dem Moment erfolgt, da die Region von eu­ropäischen Einwanderern besiedelt worden sei. Somit hat man einen beque­men Sündenbock: die bösen, bösen Imperialisten. Die indigenen Einwohner sei­en gleichsam (wie im Garten Eden) stets im Gleichgewicht mit der Ökologie ge­wesen, wären sie ungestört geblieben, hätte es die Katastrophe, die ihre Gesell­schaft und Umwelt zerstörte, NIE gegeben. Diamond entlarvt diese These als naive Schönfärberei.

Die andere Seite behauptet hingegen, „natürliche Prozesse“ hätten zur Zerstö­rung geführt, der Mensch hätte, egal, wie er sich verhielte, nichts dagegen tun können, das sei sozusagen „Schicksal“ gewesen. Und nur die moderne Technik und Forschung seien imstande, das zu ändern. Wer heutzutage technische Eingriffe wie Staudämme, Kunstdünger und Demokratie ablehne, müsse eben untergehen. Auch das ist eine kindische Vereinfachung. In Wahrheit ist alles viel komplexer.

Diamond entwirft im Prolog ein fünfteiliges Schema, nach dem er im Buch durchgängig vorgeht, und es erscheint höchst plausibel. Er betrachtet nachein­ander:

  1. Die Schäden, die eine Bevölkerung ihrer Umwelt unabsichtlich zufügt

  2. Klimaveränderungen

  3. Feindliche Nachbarn

  4. Abnehmende Unterstützung durch freundliche Nachbarn

  5. Reaktion der Gesellschaft auf die ökologischen Probleme

Wie man rasch erkennen wird, bedingen sich die Faktoren und sind auf gerade­zu aberwitzig komplexe Weise miteinander verbunden. Es bedarf keiner aus­drücklichen Hinweise darauf, dass Diamond, der jahrelang weltweit nach unter­gegangenen Kulturen und nach Kulturen, die heutzutage am Scheideweg stehen oder bald stehen werden, sich durch die Analyse der Beispielnationen (deren Zahl sich leicht vervielfachen ließe, sowohl in Vergangenheit wie Gegenwart, vgl. dazu Kapitel 9) bestätigt fühlte.

Der erste Teil umfasst lediglich das lange Kapitel über das heutige Montana und ist die Vertiefung des Prologs. Diamond schöpft hier aus der persönlichen, jahr­zehntelangen Kenntnis der Region, außerdem fächert er hier die ökologischen Faktoren auf – Forstwirtschaft, Landwirtschaft, Bergbau, Boden, Wasser, einhei­mische und eingeschleppte Arten sind zu nennen. Er stellt verschiedene Visio­nen der Landnutzung gegenüber und unterschiedliche Auffassungen von einhei­mischen Farmern und stellt Montana als „Welt im Kleinformat“ dar, deren Kenntnis Schlüsse auf das große Ganze zulassen.

Der zweite Teil, „Gesellschaften früherer Zeiten“, umfasst acht Kapitel. Es sind Fallstudien zu früheren und mehrheitlich untergegangenen Kulturen. Leider fehlt der Platz, um hier auf die brillanten Einzelstudien genauer einzugehen. Sie seien jedem Leser dennoch wärmstens ans Herz gelegt. Diamond beginnt mit „Schatten über der Osterinsel“ (was mir, der ich diese Insel liebe, auf erschüt­ternde Weise klarmachte, dass Leute wie Thor Heyerdahl und Erich von Däniken so völlig falsch mit ihren Hypothesen liegen und was dort tatsächlich geschah4) als Extremposition, geht dann über „Die letzten Menschen: Pitcairn und Hen­derson“ weiter.5

Danach springt er nach Altamerika und untersucht in „Altvordere: Die Anasazi und ihre Nachbarn“ die amerikanischen Ureinwohner und zertrümmert die nai­ven Vorstellungen einer auf ökologisches Gleichgewicht bedachten Indianerkul­tur. Im Kapitel 5 wird es noch schlimmer: „Zusammenbrüche bei den Maya“ eröffnet uns beklemmende Parallelen zu modernen, hochentwickelten Gesell­schaften und ihr mögliches Ende.

Die Kapitel 6 bis 8 führen uns schließlich etwas näher an unseren Lebenskreis, in eine europäische, christliche Gesellschaft, die auch zeitlich nicht so richtig weit von uns entfernt ist. In den Kapiteln „Die Wikinger: Präludium und Fuge“, „Die Blütezeit von Normannisch-Grönland“ und „Das Ende von Normannisch-Grönland“ bekommt man auf furchterregende Weise mit, wie falsche Vorstel­lungen von der Landwirtschaft, verkehrte Einschätzung der lokalen Ökologie und kulturelle Vorurteile sowie starres Festhalten an Lebensmaximen, die nicht aufrecht erhalten werden KÖNNEN, zur Selbstvernichtung der eigenen Kultur führen. Am tragischsten ist der Schluss, den Diamond zu ziehen gezwungen ist: die Wikinger in Grönland HÄTTEN überleben können. Aber sie rannten sehen­den Auges in ihr Verderben. Das ist dennoch KEIN Ausweis von „Dummheit“, wie man ihn untergegangenen Kulturen gern unterstellt.

Im Kapitel 9 demonstriert er das an verschiedenen Beispielen. „Auf entgegen­gesetzten Wegen zum Erfolg“, hat er es überschrieben, und er beschreibt hier drei Kulturen, von denen zwei dem Leser vermutlich weitgehend oder völlig un­bekannt sind. Das Japan der Tokugawa-Zeit (bis 1867) ist wahrscheinlich noch ein wenig bekannt. Aber wer war jemals schon im Hochland von Neuguinea, das seit Jahrtausenden bewohnt und kultiviert (!) ist? Wohl niemand. Und auch die winzige Insel Tikopia, die den Weg der Inseln Henderson, Pitcairn oder Man­gareva vermeiden konnte (wenn auch auf ziemlich drastische Weise), kennt wohl kaum jemand.

Das Kapitel vermittelt den ersten Hoffnungsschimmer, möchte ich sagen, auch wenn man hier natürlich ernste Kritik am japanischen Modell üben kann und sollte. Es kann schließlich nicht als ernsthafte Lösung gelten, im eigenen Land die heimischen Wälder zu verhätscheln und im Gegenzug dafür beispielsweise in Indonesien Wälder zu Holzschnitzeln zu verarbeiten, um die heimische Pa­pierindustrie zu mästen…

Im Teil 3 „Gesellschaften von heute“ wird das Buch womöglich noch furchterre­gender, denn nun geht Diamond in die Gegenwart. Die Kulturen, über die er hier spricht, existieren noch. Die Probleme sind akut. Er spricht, wenn man so will, über Zeitbomben, die vor sich hinticken, und er beginnt mit einem echten Genickschlag.

Im Kapitel 10, „Malthus in Afrika: Der Völkermord von Ruanda“ ist die Zeit­bombe bereits einmal explodiert (Wiederholungsgefahr!!). 1994 brachten in ei­nem nur wenige Wochen währenden Blutrausch aufgeheizte Fanatiker der Hutu und der Tutsi rund 800.000 ihrer Landesgenossen um, vertrieben mehrere Mil­lionen als Flüchtlinge ins Ausland. Allgemein wird gerne angenommen, es han­dele sich um einen aus Rassismus geborenen Genozid, eine ethnisch motivierte Gewalttat. Diamond legt durch seine Gesellschaftsanalyse treffend offen, dass diese Sicht der Dinge politisch vielleicht bequem, aber ganz offenkundig falsch ist. Sie zeigt nur einen kleinen und nicht mal den wesentlichsten Teil des Gan­zen, und sie verharmlost die demografische Bombe, die in Zentralafrika schlum­mert, und nicht nur dort. Das Kapitel ist äußerst erhellend, wenn auch zugleich äußerst beklemmend.

Kapitel 11 ist nicht angenehmer. „Eine Insel, zwei Völker, zwei Historien: Die Dominikanische Republik und Haiti“ analysiert ein bizarres Phänomen – wie auf der einstmals Hispaniola genannten Insel, die Christoph Kolumbus 1492 entdeckte, so zwei völlig unterschiedliche Gesellschaftsformen entstehen konn­ten und wie politische Entscheidungen und charismatische, wenngleich auch menschenverachtende und diktatorische Regenten diese Länder so grundver­schieden entwickelten. Hier lernen wir unter anderem einen unangenehmen Zug kennen – dass auch menschenverachtende Diktatoren „gute“ Entscheidun­gen treffen können wie etwa das Gründen und Erhalten von Nationalparks. Und dass der Wechsel zur Demokratie diese zerstören kann. Nicht lustig. Aber leider wahr. Von der Vorstellung, jemand sei „nur böse“, haben wir uns zu verabschie­den.

Kapitel 12 beschäftigt sich mit „China. Der torkelnde Riese“ und beleuchtet hier ein soziales und wirtschaftliches wie ökologisches Feld, das uns vielleicht aus den Tagesnachrichten und Reportagen am nächsten ist. Diamond prognosti­ziert sehr zu Recht, dass hier durch die Verhältnisse, die ökologischen, demo­grafischen wie politischen, in absehbarer Zeit gefährliche Entwicklungen dro­hen.

Kapitel 13 über „‘Abbau‘ in Australien“ zertrümmert das nächste Wunschbild, nicht zuletzt der australischen Politiker, die gern die Bevölkerungszahl ihres Lan­des anheben wollen, um weltpolitisch und wirtschaftlich mehr bewegen kön­nen. Jared Diamond entlarvt auf schonungslose Weise ihre Politik des „mehr Menschen – mehr Wohlstand“ als Illusion und belegt schlagend, dass genau das Gegenteil eintreten wird. Ja, dass der australische Kontinent eigentlich schon an der Kapazitätsgrenze angelangt ist, was die menschliche Einwohnerzahl angeht. Geologisch ist Australien der unproduktivste Kontinent überhaupt, er wird über Gebühr strapaziert, seine ökologische Vielfalt auf dramatische Weise verwüstet, und die Zukunft von „down under“ sieht düster aus. Australien ist eine potenti­elle Osterinsel.

Was also tun?

Nach diesen zahlreichen Fallstudien, die die ersten 500 Seiten des Buches ein­genommen haben, kommt er in Teil 4 „Praktische Lehren“ innerhalb von drei Kapiteln zu einem Fazit. Es geht zunächst in Kapitel 14 „Warum treffen manche Gesellschaften katastrophale Entscheidungen?“ darum, wie es überhaupt zu diesen Desastern kommen konnte. Der wohl schlimmste Faktor ist, wie Diamond betont, etwas, was heutzutage weit verbreitet ist und immer noch unterschätzt wird – die „Tragödie des Gemeineigentums“:

Ökologische Ressourcen, die niemandem „gehören“, sind kurzsichtige Beute für jedermann, der sich davon schnellen Vorteil verspricht. Das betrifft sowohl Bo­denschätze, Wälder oder Fischvorkommen. Hinzu kommen „rationale“ Fehlent­scheidungen, die ebenfalls auf kurzsichtigem Denken basieren. Innerkulturelle Fraktionierung führt dazu, dass machtpolitische Entscheidungen kleiner Grup­pen Entwicklungen in Gang setzen, die dem gesamten Gemeinwesen zum Nachteil gereichen, oftmals mit katastrophalen Resultaten. In jedem Fall sind die Kosten, die daraus entstehen – wenn man noch etwas wieder reparieren kann, was oft nicht der Fall ist! – , um ein Vielfaches größer, als wenn man vor­her nachdenkt und nachhaltig wirtschaftet. In diesem Kapitel legt Diamond die billige Erklärung, untergegangene Kulturen seien einfach „dumm“ gewesen, und uns könne so etwas nicht widerfahren, weil wir eben „klug“ und technisch hoch entwickelt seien, endgültig ad acta. Was den Kulturen in diesem Buch wider­fuhr, kann uns immer noch, jederzeit und, schlimmer vielleicht, noch viel schneller passieren – aus genau den Gründen, die ihre GEGNER gerne als Vor­teile anführen: bessere Technik, mehr Menschen, bessere Erschließung der Welt.

Gibt es keinen Lichtblick? Doch, und das mag angesichts der Fülle desaströser Beispiele verblüffen.

In Kapitel 15 „Großkonzerne und Umwelt: Unterschiedliche Bedingungen, un­terschiedliche Folgen“ und im Kapitel 16 „Die Welt als Polder: Was bedeutet das alles für uns?“ zieht der Autor ein vorsichtig positives Fazit seiner Erörte­rungen. Er beschreibt Ölkonzerne und andere Unternehmen, die auf unter­schiedliche Weise mit der Umwelt umgehen und demonstriert so, dass es selbst für einzelne Verbraucher sehr wohl möglich ist, freilich in Maßen, Einfluss auf die Entscheidungen von Unternehmen auszuüben. Wir sollten unseren sozialen Multiplikationsfaktor aber niemals unterschätzen. Auch dafür nennt er Beispie­le.

Außerdem plädiert Diamond, indem er das Beispiel der Polderbildung in den Niederlanden anführt, nachdrücklich dafür, die ökologischen Ressourcen in All­gemeineigentum zu überführen. Denn nur dann, wenn man etwas besitzt und merkt, dass es eben keine Chance mehr gibt, beispielsweise einen Wald schnell abzuholzen, dann das Weite zu suchen und sich nicht mehr um die Folgen zu kümmern, erst dann wird man ernsthaft nachzudenken gezwungen sein, die Ressource vernünftig und nachhaltig zu bearbeiten.

Die Konsequenz? Das ist diese:

Die Vorstellung, die Fehler untergegangener Kulturen seien für uns bedeutungs­los, weil sich die menschliche Gesellschaft so sehr weiterentwickelt habe, wird von Jared Diamond als billiger Trugschluss entlarvt. Wir sind beispielsweise den Wikingern vom Hof von Gardar oder den Anasazi und den Osterinsel-Be­wohnern mental immer noch sehr nah, und die Katastrophen, die ihre Kulturen auslöschten, können uns sehr wohl treffen, weil unser grundlegendes psycholo­gisches Handeln immer noch dem dieser Kulturen entspricht.

Dennoch gibt es Vorteile: Heutzutage besitzen wir erheblich mehr Wissen, nicht zuletzt über klimatologische und ökologische Zusammenhänge, bessere Analy­semöglichkeiten und mehr Informationen über die gesellschaftlichen Zusam­menbrüche früherer Zeiten. Wie es immer so ist: Wissen als Ressource stellt einen der zentralsten Schlüssel zur Bewahrung unserer Welt dar.

Der zweite Vorteil: mit unserer heutigen Technik (z. B. der Möglichkeit der Ent­giftung von Böden, der Herstellung moderner Materialien, der Gentechnik oder auch den verschiedenen Methoden der Empfängnisverhütung) können wir die Gesellschaft wandeln und die Umwelt schonen. Wenn wir uns der Tatsache be­wusst werden, dass diese vorbeugende Behandlung der Natur weitaus billiger ist als das Nachbessern, wenn alles erst mal zugrunde gerichtet ist. Hier plädiert der Autor des Buches nachdrücklich für eine Ausweitung der umweltverträgli­chen Energiegewinnung und der Abkehr von fossilen Brennstoffen, die uns in Bälde ohnehin nicht mehr zur Verfügung stehen werden. Und er fordert ein kritisches Hinterfragen überkommener Traditionen (mir fällt hier spontan das christliche Vermehrungsgebot ein, das in einer Welt der Bevölkerungsexplosion geradezu ein Rezept zum ökonomischen und ökologischen Selbstmord ist).

Das Buch ist darüber hinaus ein Credo für Umweltschutz und für wissentliche Durchdringung der ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zu­sammenhänge der Weltwirtschaft. Die Beschränkung des Wissens aus ideologi­schen Gründen muss aufhören, das kurzsichtige Denken der Verbraucher hat ein Ende zu haben. Organisationen wie das „Forest Stewardship Council“ oder das „Marine Stewardship Council“6 sind erste Indizien eines Umdenkens, aber lange nicht genug.

Das Buch sollte darum von so vielen Menschen wie möglich gelesen werden. Für jeden, der an der Zukunft unserer Welt interessiert ist und daran, dass un­seren Kindern und Enkeln eine lebenswerte Umwelt zur Verfügung steht, ist es meines Erachtens wichtiger Lesestoff. Man sollte es – wie David Quammens „Der Ruf des Dodo“7gelesen haben.

© by Uwe Lammers, 2007

Harter Stoff, meine Freunde? Viele Worte? Beide Male: natürlich habt ihr da Recht. Aber ich glaube, solche klugen und gut recherchierten Werke sind den­noch dazu da, dass man sie gründlich studiert. Denn wie ich oben schon sagte: Information ist der Schlüssel zur Zukunft der Welt, und das sehe ich nach rund 8 Jahren – seit Abfassung der Rezension – immer noch als absolut essentiell an. Selbst wenn sich langfristig vielleicht erweisen sollte, dass manches an Dia­monds Prognosen nicht stimmig ist… die weitaus meisten Fakten sind wasser­dicht und zwingen darum zum Handeln. Das sind wir uns und unserer Zukunft schuldig.

Gibt es nächste Woche noch so einen Hammer an deprimierenden Informatio­nen? Ach nein, Freunde, schätzt mich nicht so grausam ein. Ich sagte doch schon – ich wechsle zwischen gehaltvollen und eher lockeren Themen ab. Und in der nächsten Woche werden wir uns wieder in die Weiten der Science Fiction begeben, versprochen. Nicht verpassen!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

(BS, 4. April 2015)

1Bedauerlicherweise ist der Titel nicht völlig präzise übersetzt worden. Eigentlich müsste er etwa lauten: „Wie Gesellschaften sich entscheiden, unterzugehen oder erfolgreich zu sein“. Der deutsche Titel ist indes griffiger. Aber dieser Aspekt des absichtlichen Wählens, der Diamond im Buch so wichtig ist, geht dabei leider unter.

2Sehen wir davon ab, dass manche hartleibigen und dummen Politiker wie etwa George W. Bush jr. in den USA bis heute nicht an die Klimakatastrophe glauben und meinen, das alles seien nur „natürliche Schwankungen“. Hört nicht auf diese Idioten.

3Vgl. Jared Diamond: „Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften“, Mün­chen 1998.

4Außerdem musste ich jüngst feststellen, dass die Forschungen auf Rapa Nui, wie die Insel im Sprachgebrauch ihrer Bewohner heißt, alles andere als beendet sind. In der Zeitschrift GEO war 2007 zu lesen, dass Archäologen dabei sind, die Insel mit Magnetfeldarchäologie zu untersuchen und unter dem Boden schon ausgedehnte Fundamentanlagen entdeckt haben, die frühere Forscher übersehen haben. Die Osterinsel birgt also auch weiterhin noch fundamentale Geheimnisse. Man darf weiterhin neugierig sein.

5Die Insel Pitcairn könnte dem einen oder anderen durch die Meuterei auf der Bounty be­kannt sein, hierhin zogen sich die Meuterer um Fletcher Christian zurück. Diamond be­leuchtet unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten, was dann geschah. Eine be­klemmende Geschichte.

6 Darüber wird auch ausführlich im GEO in der Ausgabe von Juni 2007 berichtet.

7 Vgl. David Quammen: „Der Ruf des Dodo“, München 2001.

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