Liebe Freunde des OSM,
bei Anthologien ist es immer eine Art von Hasardspiel für die Herausgeber, sich auf das Risiko einzulassen, sie zu veröffentlichen. Ich habe das lange Zeit nicht wirklich begriffen, zugegeben – ich habe immer gern zu Anthologien gegriffen, auch wenn zumeist erkennbar wurde, dass wenige gute Geschichten eine ganze Reihe von eher „lahmen“ Werken mitschleppten. Und es heißt ausdrücklich in Verlagskreisen, dass sich Anthologien schlechter verkaufen als dicke Schwarten… rätselhafterweise.
Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass das eine verwirrende Fehllenkung des Leserinteresses darstellt. Wer sich aus Prinzip von Anthologien fernhält, dem entgehen eine ganze Menge schöne Perlen der Science Fiction, von spannenden Ideen einmal ganz zu schweigen. Was bringt es einem, sechshundert Seiten von einem Autor zu lesen, der vielleicht doch nur abgedroschene „Standardhandlungen“ ins Rennen bringt (wie das mal einer meiner Brieffreunde früher despektierlich nannte) und in der Schlussgeraden schwächelt? Ist man dann nicht mit 60 Seiten Geschichte, die faszinierende Gedanken zum Vorschein bringt, besser bedient, als Bestandteil eben einer Kurzgeschichtensammlung?
Ich denke schon.
Außerdem muss man sich dagegen wehren, den oben suggerierten Gedanken als Absolutum zu verstehen – es gibt Anthologien, die sind durch die Bank mit Hochkarätern besetzt, mit „Big Names“, könnte man sagen. Und das hier ist eine solche, die vier gestandene Schriftsteller der Science Fiction unter einem Dach vereint und in jeder Weise zu überraschen und zu faszinieren vermag.
Vorhang auf also für diese Anthologie:
Unendliche Grenzen
(OT: Futures)
von Peter Crowther (Hg.)
Bastei 23266
464 Seiten, TB
Oktober 2003, 8.00 Euro
Keine Übersetzerangabe
Die uns vorliegende Storysammlung enthält vier längere Werke, die man weniger als Kurzgeschichten denn als Kurzromane bezeichnen sollte. Keines der Werke besitzt weniger als hundert Seiten. In diesem Band sind vier der aktuellen Meister der Space Opera Englands versammelt, was eigentlich einen guten Absatz des Buches fördern sollte: Stephen Baxter, Peter F. Hamilton, Paul McAuley und Ian McDonald lassen den Leser in ihre Welten eintauchen, und wer mit ihnen ein wenig vertraut ist, sollte sich nicht wundern, auf einmal bekannte Dinge wiederzufinden. Wer ihre Welten nicht kennt, wird möglicherweise sehr neugierig auf weiteres werden…
Stephen Baxter entführt uns in der Story „Wirklichkeitsstaub“ auf den Jupitermond Callisto. Schon auf Seite 2 macht er uns nachdrücklich klar, in welcher Welt wir uns befinden. Dort heißt es bei einem Flug über die Landschaft, noch auf der Erde: „Von den großen Konurbationen abgesehen, glitzerte das Land an vielen Stellen silbergrau: dort hatten Sternenhammer-Strahlen und Qax-Nanoreplikatoren die Erdoberfläche zerkaut und Leben wie Fels samt allem anderen in einen formlosen Silikatstaub verwandelt.“
In Stephen Baxters Xeelee-Universum gibt es die Rasse der Qax mit ihren organischen Spline-Raumschiffen, die eine Zeitreise unternehmen, um die Menschheit – in ihrer Zeit die Geißel der Galaxis Milchstraße – daran zu hindern, genau dazu zu werden. Die Qax unterjochen Jahrhunderte lang die Menschheit und werden schließlich von einem irdischen Aufstand vertrieben. Freilich nur um den Preis, dass die gottgleichen Xeelee auftauchen und sich mit der Menschheit verfeinden. Die Weiterungen dieser Geschichte sind in Baxters Romanen „Das Geflecht der Unendlichkeit“ und „Ring“ nachzulesen.1
Diese Geschichte spielt unmittelbar nach dem Sturz der Qax. Den fast unsterblichen menschlichen Kollaborateuren, sogenannten „Pharaos“, soll der Prozess gemacht werden. Aber eine Kolonie von ihnen befindet sich auf dem weit abgelegenen Jupitermond Callisto. Und hier werden Experimente gemacht, die von den irdischen Milizionären nicht im Mindesten verstanden werden. Experimente, die – vielleicht – den „Pharaos“ die endgültige Flucht vor der irdischen Gerechtigkeit ermöglichen sollen…
Den Bäumen beim Wachsen zusehen, das kann man in Peter F. Hamiltons Geschichte beinahe wörtlich nehmen. Man stelle sich eine parallele Erde vor, in der das Römische Imperium überlebt hat und auch im 19. Jahrhundert noch Bestand hat. Es breitet sich über die ganze Welt aus und die alten adeligen Familien Roms, z. B. die Caesars, stehen an der Spitze multinationaler Konzerne. Sie haben zudem für die Angehörigen ihrer Familien und der mit ihnen liierten Linien eine Möglichkeit gefunden, das Leben auf mehrere Jahrhunderte zu verlängern. Allgemeiner Friede herrscht – bis in Oxford, im Jahre 1832, ein Mord geschieht.
Justin Ascham Raleigh, ein junger, genialer Student, ist brutal ermordet worden, aber obgleich der Ermittler Edward Raleigh alles daran setzt, den Mörder dingfest zu machen, scheint das perfekte Verbrechen gelungen zu sein. Der Mörder entkommt. Und fortan nagt dieser Misserfolg an Edwards Gewissen. Er beschließt, sein langes Leben zumindest zum Teil der Aufklärung dieses Verbrechens zu widmen. So verfolgt er über die Jahrhunderte hindurch die ebenfalls fast unsterblichen Verdächtigen und erlebt auf diese Weise die Entwicklung der Menschheit mit bis hin zu ihrem Aufbruch zu den Sternen. Und schließlich… aber das sollte man wirklich selbst lesen.
Wie geht das, Geschichte machen, das fragt sich Paul McAuley in seiner gleichnamigen Story, in der er einen irdischen Historiker im 26. Jahrhundert zum Saturnmond Dione schickt. Dort ist gerade ein Kolonialaufstand brutal niedergeschlagen worden, und inmitten von Ruinen, vermodernder Vegetation, kontrollierenden Kampfrobotern und Lebensmittelrationierungen geht die Hauptperson der Frage nach, ob es so etwas wie „große Männer“ gibt, die Geschichte machen. Beispielsweise dieser Rebellenführer Marisa Bassi, der seit dem Zusammenbruch der Revolte in der Hauptkuppel der Stadt Paris verschollen ist und von manchen für tot erklärt wurde. Ist oder war er ein „großer Mann“? Hat es ihn überhaupt gegeben?
McAuley hat seine Historiker gelesen, er kennt sich mit den Geschichtstheorien aus, und wenn man die Geschichte liest, kriecht die Gänsehaut über den Rücken, die aus den Ruinen des zerbombten Berlin des Jahres 1945 heranzunahen scheint. Man fühlt den Schatten des „beendeten“ Irakkrieges, die mürbe Ruhe der Unsicherheit im Nachkriegs-Afghanistan.
Und McAuleys Personen beschwören unangenehme Fragen herauf: ist ein siegreicher Militär, der die Rebellen geschlagen hat, nicht trotzdem ein Kriegsverbrecher? Ein Mann, der leidenschaftlich gerne „Informationen eingeholt“, also gefoltert hat? Und die blutjunge, wunderschöne Frau, die von der Erde kommt, um die Kuppel von Paris zur alten Glorie wiederaufzubauen und in die sich der General Dev Veeder über alle Maßen verliebt und daher ganz irrational wird, weshalb fragt sie den Historiker ständig nach den „großen Männern“? Und was bedeutet des Historikers Satz, der schon früh fällt: „Vielleicht hatte sie schon damals die dunkle Vorahnung, dass ihre Schönheit ihr einmal den Tod bringen würde“? Dem Leser wird ganz kalt dabei…
Tendeléos Geschichte führt den Leser in das Afrika der nahen Zukunft, aber einer durchweg alptraumhaften Zukunft. Denn dort hat sich eine außerirdische Lebensform namens Chaga ausgebreitet, und das Mädchen Tendeléo wird auf sehr direkte Weise damit konfrontiert. „Chaga“ kennt der Leser, der mit Ian McDonalds Werken vertraut ist, schon aus anderen Zusammenhängen.2
Wir schreiben das Jahr 1995, als das Mädchen Tendeléo in dem Ort Gichichi in Kenia geboren wird. Als Ten neun Jahre alt ist, verändert sich ihre Welt von Grund auf, denn auf dem Gipfel des Kilimandscharo schlägt eine außerirdische Lebensform ein, die später „Chaga“ genannt wird. Sie ist gewissermaßen nicht Fisch noch Fleisch, nicht Tier und nicht Pflanze, sondern eine gewaltige Makrostruktur von Nanomaschinen, die mit einer stummen Unerbittlichkeit die ganze Welt umzukrempeln beginnt. Tendeléo und ihre Familie verlieren ihre Heimat und geraten in den Hexenkessel der Flüchtlingslager, aber das ist erst der Beginn von Tens Odyssee. Während sich die Menschen, insbesondere aus den industrialisierten Staaten, heidnisch vor dem Chaga fürchten, hat niemand eine genaue Vorstellung, was dort eigentlich vorgeht.
Bis Tendeléo eine schicksalhafte Entscheidung trifft…
Nach der Lektüre dieses Buches ist es wahrhaftig schwer, zu sagen, wer der beste von den vier vorgestellten Literaten ist, aber wenn ich eine Wertung erstellen müsste, fielen mir wenigstens folgende Schwachpunkte der Autoren auf.
Stephen Baxter, ein ausgezeichnet naturwissenschaftlich argumentierender Autor, der physikalisch außerordentlich beschlagen ist, beweist in seinem Beitrag wieder aufs Neue, dass seine Schwäche darin liegt, Personen realistisch agieren, sie „menschlich“ erscheinen zu lassen. Sie besitzen zwar so etwas wie Persönlichkeit, bleiben aber dennoch sehr maschinenhaft. Die philosophischen Implikationen seiner Welt sind jedoch beklemmend intensiv zu erleben und vermitteln vielfache Denkanstöße.
Peter F. Hamilton neigt dazu, weitschweifig zu erzählen, viele Worte für Sachverhalte zu gebrauchen, die mit weniger, dafür präziser gewählten Ausdrücken vielleicht deutlich besser vermittelbar wären. In dieser Story fällt es besonders auf – er kann sich nicht entscheiden, ob er eine „einfache“ Kriminalstory verfolgen soll oder das Leben des Ermittlers oder aber die Genese der zukünftigen Welt. Er macht alles drei, und er macht alles halbherzig. Die Konsequenz ist leider ein unrealistischer Tunnelblick. Aber alles in allem ist die Darstellung von Personen erheblich gelungener als beispielsweise bei Baxter, und es liest sich einfach unwahrscheinlich angenehm. Wer intelligentes Lesefutter sucht, das man richtig verschlingen kann, ist bei Hamilton stets gut aufgehoben.
Paul McAuley wählt meines Erachtens nicht immer die raffinierteste Möglichkeit der Problemlösung. Mir schwebten während des Lesens seines Werkes diverse spannende Alternativlösungen vor, deren Abzweigungen er nicht nahm. Ansonsten überwebt sein Werk eine Aura der Tristesse, der Düsternis und Verlassenheit, doch in das Spinnennetz der Trostlosigkeit sind intensive Juwelen der zeithistorischen Nähe eingeflochten, äußerst realistische menschliche Zwiespälte und innere Zerrissenheiten. Die ganze Irrationalität menschlichen Verhaltens drückt sich sehr gut bei ihm aus.
Und Ian McDonald? Er erzählt eine ergreifende Geschichte eines verlorenen Mädchens, das in einer zerbrechenden Welt aufwächst und sich neu zu orientieren versucht. Und durch die Hintertür dieser phantastischen Welt geleitet er uns in die Dritte Welt der Gegenwart, in Bürgerkriege, Flüchtlingslager und in die Psyche der dort zusammengepferchten, desillusionierten Menschen… sein einziger Nachteil scheint der Verlust der großen Perspektive zu sein. Aber es klingt in Nebensätzen an, wie es in der Welt insgesamt ausschaut… und dann gibt es ja auch noch für Leute wie mich, die nun dringend mehr über das „Chaga“ erfahren wollen, die Romane, die er geschrieben hat. Es kann als sicher gelten, dass auch sie in absehbarer Zeit hier als Rezensionen ihren Nachhall finden werden.
Summa summarum jedenfalls: eine ausgesprochen faszinierende Lesemischung, der man viele Leser wünschen möchte. Da kümmert es auch nur wenig, dass das Titelbild mit dem Inhalt nix zu tun hat und der Herausgeber flugs aus dem Jupitermond Callisto einen Saturnmond (!) macht und so seine Oberflächlichkeit oder Zerstreutheit zur Schau stellt…
© by Uwe Lammers, 2004.
Ihr merkt – sehr heterogene Geschichten mit unterschiedlichsten Ansätzen. Aber dennoch stets eigenständig, zum Nachdenken anregend, Probleme konkretisierend, stets bereit, den Finger auf die Wunde zu legen. Sehr lesenswert, vertraut meinem Urteil!
Auch das Werk der kommenden Woche ist äußerst lesenswert, nicht nur für Rollenspiel-Fans oder Leute, die SF-Klassiker mögen. Wem der Name Nathan Brazil etwas sagt, der ist nächste Woche sicherlich wieder zur Stelle. Wer ihn nicht kennt – na, der sollte ihn kennenlernen.
Bis dann, Freunde, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Wen übrigens die Ähnlichkeit dieser Backgroundstruktur mit der Anfangssituation der Heftromanserie BAD EARTH verblüffen sollte – inklusive Zeittor im Raum Jupiter! – , der sollte sich mal überlegen, dass Baxters Romane älter sind und wer wohl von wem abgeschrieben hat.
2 Namentlich aus der Story „Zum Kilimandscharo“, in: Wolfgang Jeschke (Hg.): Fernes Licht, Heyne 2100 (2000) sowie den Romanen von McDonald: „Chaga“, Heyne 5660 (1997) und „Kirinja“, Heyne 6348 (2000).