Liebe Freunde des OSM,
heute schwärme ich mal ein wenig, und ihr werdet schnell entdecken – womöglich noch vor Lektüre des Buches – , dass diese Schwärmerei sowohl unvermeidlich wie absolut selbstverständlich ist.
Es geht in dem Werk, das ich euch heute als Lektüre ans Herz legen möchte, und ich wähle diesbezüglich meine Worte wirklich mit Bedacht, um ein historisches Thema, das sich mit der Wiederentdeckung der ägyptischen Hochkultur befasst. Das ist nicht eines jener zahllosen staubtrockenen Bücher, in denen endlose Faktenlisten repetiert werden – die gibt es selbstverständlich auch, und die Bibliotheken sind voll von ihnen. Nein, ich möchte behaupten, in diesen Seiten des unten stehenden Sachbuches erwacht gewissermaßen die Vergangenheit zu neuem Leben, mitsamt all den schrulligen, faszinierenden Protagonisten, den wilden Zeitläuften und den ganzen Mysterien, in die dies alles verwoben war.
Es war ein wunderschönes Abenteuer, dieses Buch genüsslich zu lesen… und ich fand es nicht einfach, die Rezension dazu zu verfassen, weswegen ich davon absah, dies – wie sonst üblich – in einem Rutsch zu schreiben. In der Tat hat es mich dann fast vier Jahre gekostet, die Anfang und Ende der Rezension auseinander lagen, ehe ich sie fertigstellen konnte.
Vielleicht findet ihr, dass dies den betriebenen Aufwand wert war. Das Buch selbst war es auf jeden Fall, und ich freue mich schon auf den Tag, da ich die Muße finde, wieder einmal danach zu greifen und es von neuem zu lesen… dies oder eines der anderen Tyldesley-Bücher, die ich inzwischen besorgt habe.
Für den Moment folgt mir jedenfalls einfach mal in dieses Buch und schaut, ob ihr euch ebenso elektrisieren lasst wie ich damals:
Mythos Ägypten
Die Geschichte einer Wiederentdeckung
(OT: Egypt. How a Lost Civilization Was Rediscovered)
von Joyce Tyldesley
Reclam/BBC-Books, 2006
338 Seiten, Hardcover
Aus dem Englischen von Ingrid Rein
ISBN 978-3-15-010598-6
Europäische Geschichte wirkt wie eine Art von obskurer Fußnote, betrachtet man sie durch das Brennglas einer Epoche, in der schon hoch stehende Technik und Ärztekunst, Philosophie, Religion und Wissenschaft ihre Triumphe feierte – vor 5000 Jahren stand das Reich der Pharaonen im schmalen, grünenden Niltal in Ägypten in der ersten Blüte, und mit zahlreichen Auf- und Abschwüngen ging diese wechselvolle Hochzeit noch weitere dreitausend Jahre weiter.
Zu dieser frühen Zeit schlichen in Zentraleuropa in Felle gekleidete Wilde durch Urwälder und stellten Tieren nach, sie erbauten mehrheitlich Häuser aus vergänglichen Materialien wie Holz, Lehm und Schilf, von denen außer Löchern im Boden kaum etwas blieb. Es sollte noch Jahrtausende dauern, bis die Zivilisation des Mittelmeerraums in direkten Konflikt mit Zentraleuropa kam. Und doch war es just diese sich spät entwickelnde Zivilisation Europas, die lange nach dem Untergang des Pharaonenreichs daran ging, diese Hochkultur aufzuklären. Die von der pharaonischen Blütezeit ausstrahlende Faszination hat heutzutage vielleicht ihren strahlenden Höhepunkt erreicht, und es vergeht kein Jahr, in dem nicht wieder irgendeine Sensation aus Ägypten oder den zahllosen, über die Welt verstreuten ägyptischen Sammlungen offenbar gemacht werden. Stets sind sie für Schlagzeilen gut.
Die in Liverpool an der Universität lehrende Ägyptologin Joyce Tyldesley, die durch zahlreiche einschlägige Werke zur ägyptischen Geschichte bekannt ist, erläutert in diesem ungemein flüssig lesbaren Werk, warum das so ist. In ihrem Begleitbuch zur BBC-Reihe schildert sie lebendig in zwölf Kapiteln, wie die pharaonische Kultur wiederentdeckt wurde… denn machen wir uns nichts vor, sie war weitgehend vergessen.
Die Gründe dafür liegen für denjenigen, der sich generell mit der Geschichte des Mittelmeerraumes ein wenig auskennt, auf der Hand: die pharaonische Epoche endet im Grunde genommen mit Königin Kleopatra, und selbst diese Episode war nur noch ein matter Abglanz um die Wende des Jahres 0 unserer christlichen Zeitrechnung, ein Hauch dessen, was früher war. Die ruhmreichen Zeiten der großen Pharaonenherrscher lagen zu diesem Zeitpunkt schon Jahrhunderte zurück. Zuvor hatten bereits die Babylonier, die Assyrer, die Perser, die Griechen unter Alexander dem Großen und nachfolgende Diadochenherrscher, die die griechische mit der ägyptischen und mesopotamischen Kultur vermischten, dafür gesorgt, dass die klare Überlieferungsreihe aus uralter Zeit verwässert wurde und schließlich abriss.
Als das römische Imperium die Macht über das Reich am Nil errang, vollzog sich weiterhin ein kultureller Niedergang. Neue Kulte blühten auf, die Kenntnis der Hieroglyphenschrift – der Schlüssel zur ruhmreichen Vergangenheit – schwand dahin. Danach folgte die arabische Eroberung und konsequente Vernachlässigung der antiken Baudenkmäler, die mehr und mehr zu pittoresken Sehenswürdigkeiten verkamen, deren konkreten Sinn man nicht mehr begreifen konnte. Hieroglyphenschrift wurde günstigstenfalls als Ornament verstanden, schlimmstenfalls als heidnische Zauberschrift, und es gibt leider hinreichend Zeugnisse davon, dass Tempel geschleift wurden, um profanes Baumaterial zu stellen, einerseits, oder um als Moscheen oder christliche Kirchen umgewidmet zu werden.
Wohl sahen gelegentlich seltene Reisende aus Europa in den folgenden Jahrhunderten diese Pracht aus uralter Zeit, und viele von ihnen zeichneten auch die verzerrten Legenden auf, die sich um diese Bauwerke rankten. Doch von einem wirklichen Verständnis, ja, selbst von einer wirklichkeitsnahen Abbildung dessen, was sie sahen und vorfanden, konnte keine Rede sein.
Ägypten war ein Land der Legenden und Rätsel geworden, die pharaonische Kultur undurchdringlicher denn je. Manch einer behauptete, die Geheimnisse dieser Epoche werde niemals mehr jemand enträtseln können… und wahrhaftig, Jahrhunderte schien es ja auch genau so zu sein. Die Autorin schreibt prägnant zu dieser Phase der Geschichte: „Ägypten war zu einem Land geworden, das gleichsam hinter einem Schleier verborgen lag, sein Ruhm und seine Pracht leuchteten nur noch hier und da in der Bibel und den Werken der klassischen Schriftsteller auf. Arabische Kaufleute konnten sich zwar ohne größere Schwierigkeiten im ganzen Land bewegen, doch waren ihnen die merkwürdigen Relikte eines schon seit langer Zeit verschwundenen Volkes gleichgültig…“ (S. 45)
Joyce Tyldesley unterteilt ihr Buch sinnvoll in vier große Abschnitte, denen sie die Titel „Die Erforscher“, „Die Sammler“, „Die Archäologen“ und „Die Wissenschaftler“ gibt. Allein daran sieht man schon, dass die ernsthafte Forschung sehr spät begonnen hat.
Während sie unter Erforscher auch schon die Weltreisenden der griechischen Antike vor Alexander dem Großen rechnet, beginnt eigentlich erst in Kapitel 2 „Ein wiederentdecktes Land“ die ernsthafte Beschäftigung mit der Vergangenheit des Nillandes, und bahnbrechend ist dann „Die Entzifferung der Steine“ (Kapitel 3), die mit Champollions Entschlüsselung der Hieroglyphenschrift endet. Erst dann kann man tatsächlich von einer möglichen Forschung sprechen.
Doch, oh weh, zunächst kommen „Die Sammler“ zu Worte. Napoleons Feldzug in Ägypten Anfang des 19. Jahrhunderts, der auch Champollions Entdeckung erst möglich machte, befeuert in Europa und Übersee ein Ägypten-Fieber. Es entstehen Salons im Stil der Nilkultur, und reiche Sammler schicken ihre Emissäre an den Nil, um dort „spektakuläre Stücke“ einzusammeln und nach Europa zu verschiffen. Zahlreiche Obelisken etwa in London, Paris oder Rom zeugen davon ebenso wie unzählige Mumien, Sarkophage, Statuen, Inschriften und Pretiosen, die aus rücksichtslos aufgebrochenen Gräbern entfernt und verschifft werden. Einer, der sich hier bei scheinbar unmöglichen Aufgaben Meriten erwirbt, die heutzutage ein wenig zwielichtig sind, ist Giovanni Battista Belzoni, später „der Große Belzoni“ genannt (Kap. 4). Spätere frühe Ägyptologen wie Howard Carter zählen den 1778 in Padua geborenen Italiener zu ihren Helden. Dass er unter anderem mit Sprengstoff und Spitzhacke zuwege geht, um an seine Ziele zu gelangen, lässt ihn heutzutage als einen frühen „Indiana Jones“ erscheinen. Aber in dieser Beziehung ist er ganz Kind seiner Zeit, denn ein Heinrich Schliemann, um einen weiteren „Abenteurer“ jener Epoche zu nennen, ist nicht sehr viel zarter besaitet.
Mit Belzoni hält die Phase der „Schatzsucher“ (Kap. 5) Einzug in Ägypten, und natürlich kümmern sie sich besonders um die phantastischsten Bauwerke der Antike, das einzige noch existente Weltwunder der damaligen Zeit: die Pyramiden. Selbst wenn „die Pyramidenforscher“ (Kap. 6) erst etwas später ernsthaft zu Werke gehen, zwängt sich schon Belzoni in die stickigen, finsteren Gänge der gewaltigen, von Menschen aufgeschichteten Felsquadergebirge und versucht, ihre Geheimnisse zu entschlüsseln, oftmals unter Lebensgefahr. Politische Instabilität, Grabräuber und Rivalitäten unter den Schatzsuchern und Sammlern tun ihr Übriges dazu, diesen Teil von Tyldesleys Sachbuch zu einer durchaus spannenden Thrillerlektüre für den Neuling in ägyptischer Geschichte zu machen.
Erst etwa um das Jahr 1850 herum, mit dem dann der dritte Teil „Die Archäologen“ beginnt, bekümmern sich besorgte Geister um den „Schutz der Denkmäler“ (Kap. 7), weil sie merken, dass das Nilland eben nicht unerschöpfliche Reichtümer bietet und bedenkenlos geplündert werden darf, wenn man die Geschichte dieser Kultur wirklich verstehen will.1 Man kann also sagen, dass erst Mitte des 19. Jahrhunderts ein Umdenken stattfindet und die kulturellen Schätze des Landes zunehmend auch als schützenswerte Kulturgüter wahrgenommen werden.
Eines dieser Kulturgüter ist eine legendäre Stätte, die die Augen jedes Ägyptenfans automatisch aufleuchten lassen: „Das Tal der Könige“ (Kap. 9), das vielleicht am intensivsten umgegrabene Areal Ägyptens überhaupt, in dem gleichwohl bis heute bemerkenswerte Entdeckungen gemacht werden. Einer der schönsten Funde kam im Jahre 1922 ans Tageslicht, worüber im Kapitel 10 „Wunderbare Dinge“ berichtet wird.
Der Titel des Kapitels ist ein Zitat von Howard Carter, und es ist mir immer wieder ein Vergnügen, das mir wohlige Schauer über den Rücken laufen lässt, wenn ich seine Worte lese, und darum sei hier ein kleines Zitat für den Neugierigen gebracht, das Weltgeschichte geschrieben hat: „Zuerst konnte ich nichts sehen, da die aus der Kammer entweichende Luft das Licht der Kerze flackern ließ, doch sowie sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnten, tauchten aus dem Dunkel der Kammer nach und nach Einzelheiten auf, seltsame Tiere, Statuen und Gold – überall schimmerte Gold! Für den Augenblick – den anderen, die neben mir standen, muss es wie eine Ewigkeit vorgekommen sein – war ich vor Erstaunen sprachlos.
Als Lord Carnarvon die Ungewissheit nicht länger ertragen konnte und gespannt fragte: ‚Können Sie etwas sehen?’, vermochte ich nur zu erwidern: ‚Ja, wunderbare Dinge!’“
Solche Momente sind magisch, das kann man nicht anders sagen, und wer immer von Geschichte fasziniert ist, wird das hier ganz genauso empfinden. Joyce Tyldesley liefert in ihrem Buch nicht nur die allgemeine Hintergrundgeschichte zur Neuentdeckung der pharaonischen Kultur, sondern eben auch die packenden, abenteuerlichen Kapriolen, die die Forscher und Abenteurer selbst dabei erlebten. Sie verfolgt die Biografien ihrer „Helden“ oder „Finsterlinge“ (wenn man solche Kategorisierungen braucht), und was herauskommt, ist ein Werk, das fast romanhaft einen Spannungsbogen erzählt, der über mehrere tausend Jahre hinweg führt. Sie besucht die alten Pharaonen und die Stätten uralten religiösen und politischen Glanzes im Niltal, wie man einen Besuch bei alten Freunden macht, und es ist einfach eine Freude, ihr in dieses Buch zu folgen. Es hat mich nicht einmal zehn Tage gekostet, es fast in einem Rutsch zu verschlingen, so flüssig und begeisternd ist es geschrieben.
Dies ist gute, kenntnisreiche und opulente Unterhaltung im besten Sinne, wie sie viele angloamerikanische Wissenschaftler zu schreiben verstehen. Und ich glaube, ich brauche den Vergleich nicht zu scheuen, wenn ich sage, dass dies vielleicht nach „Götter, Gräber und Gelehrte“ von C. W. Ceram alias Kurt Marek, den ich in meiner Kindheit mit Wonne mehrmals hintereinander verschlungen habe, das mit Abstand beste und lesbarste Buch über die ägyptische Geschichte ist, das ich kenne.
Joyce Tyldesleys Buch ist jede investierte Minute wert, das versichere ich euch!
© by Uwe Lammers, 2009-2013
In der kommenden Woche reisen wir wieder in die Welten der Science Fiction, und wir finden uns dann buchstäblich bedeckt vom „Schatten dunkler Flügel“. Was das bedeuten soll? Nun, wenn ihr das erfahren wollt, schaut kommenden Mittwoch wieder herein, dann seid ihr schlauer.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Dies ist übrigens ein Phänomen, das beim Menschen immer wieder auftritt und zumeist durch einen sehr eng beschränkten Informationshorizont verschärft wird. Es gibt viele derartige Beispiele, ich möchte nur ein paar nennen: als die Osterinsel ihre letzten Bäume verlor, geschah das offensichtlich durch ihre Bewohner selbst, die daraufhin einen ökologischen Kollaps ihrer beschränkten Ökosphäre herbeiführten und sich damit fast umbrachten. Vorausschauendes Denken hätte das verhindern können. Beispiel 2: als im späten 19. Jahrhundert die Nordamerikanische Wandertaube ausgerottet wurde, die in Schwärmen von Milliarden Individuen über den Kontinent zog, konnten sich die Jäger das gar nicht erklären. Sie hatten diese Vogelschwärme für unerschöpflich gehalten. Dasselbe Phänomen ereignete sich beim exzessiven Walfang im 19. Jahrhundert, es lässt sich fortführen über das Kollabieren von Fischbeständen weltweit, über das Aussterben von Tierarten, das Ausrotten von lokalen Lachspopulationen, das Überfischen von Haifischbeständen vor der afrikanischen Küste, deren gefangene Tiere immer kleiner werden (ein Alarmzeichen, was gern missachtet wird gemäß dem Glauben, dass „Allah schon immer weitere Haie schicken wird“, wie ein leichtgläubiger Fischer einmal bekannte). Der Mensch lernt offensichtlich nur aus Katastrophen, was ich sehr bedauerlich finde.