Rezensions-Blog 6: Der Baader Meinhof Komplex

Posted Mai 6th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute begeben wir uns auf ein völlig anderes Terrain, nämlich das des politi­schen Gegenwartsjournalismus´, und ich glaube, das könnte euch durchaus ge­fallen. Es geht wieder mal um ein recht voluminöses Buch, manche könnten es unverdaulich finden… aber ich halte es, wenn man ein waches politisches Be­wusstsein für die jüngste Weltgeschichte besitzt, für außerordentlich wichtig, hierüber mehr zu wissen als nur Schlagworte oder verstreute Informationen. Selbst die Verfilmung dieses Stoffes ist nur bedingt geeignet, das komplexe Phä­nomen des internationalen Terrorismus der 70er Jahre langfristig im Gedächtnis zu verankern.

Dieses Buch hier kann das, bei allen Schwächen, die es gleichwohl besitzt, ver­mutlich leisten. Aber es ist keine einfache Bettlektüre. Jeder, der es kennt, wird mir darin wohl beipflichten. Wer aber vom Film fasziniert war und gern genauer wüsste, was die Hintergründe sind, der ist hier gut aufgehoben. Hier kommt die Kurzfassung:

Der Baader Meinhof Komplex

von Stefan Aust

SPIEGEL-Buch, Goldmann 12953

672 Seiten, TB, 1998

ISBN 978-3-442-12953-9

12.00 €

Die erste Erinnerung in diesem Zusammenhang stammt aus dem Herbst 1977. Meine Eltern, meine Geschwister und ich wohnen in Wolfsburg, und über den Fernsehschirm flimmert abends das seltsame Bild eines aufgedunsen wirken­den, erschöpften Mannes, der eine Pappe hoch hält mit der Aufschrift „Gefan­gener der RAF“. Der Name des Mannes ist Hanns-Martin Schleyer, und er ist seit Wochen Geisel deutscher Terroristen, irgendwo in Deutschland. Was das be­deutet, ist mir zu der Zeit nicht klar. Es ist nur… ungewöhnlich und prägt sich ein.

Die zweite Erinnerung stammt aus derselben Zeit. Die Stadtbücherei Wolfsburg-Detmerode: gleich neben dem Eingang hängt an der Glastür ein großformatiges Plakat mit zahlreichen, kleinen Passfotos. Gesuchte Personen. Terroristen.

Deutschland im Herbst 1977. Es ist die Zeit der Roten Armee Fraktion (RAF).

Lange Zeit weiß ich nichts Genaues über die RAF, und die Rote Armee Fraktion von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof ist mir gründlich gleichgültig. Aber diese Erinnerungen sind da, und spätestens Ende der 80er Jahre, als die Mauer fällt und der SPIEGEL wieder und wieder über die RAF be­richtet, über RAF-Aussteiger, die ein neues Leben in der DDR begonnen haben und nun in bundesdeutsche Haft geraten, da beginnt das Interesse an mir zu nagen, eigentlich doch Genaueres wissen zu wollen. Wie das damals war. Was genau eigentlich jenseits der Schlagworte in den Nachrichtensendungen zu ent­decken ist. Inzwischen ein mündiger Staatsbürger mit eingeschaltetem Ver­stand, ist mir längst klar geworden, dass es vieles gibt, was in Nachrichtensen­dungen nicht erzählt wird, was aus Zeitgründen, politischem Opportunismus oder beabsichtigtem Verschweigen von Fakten weggelassen oder verkürzt wird.

Inzwischen weiß ich auch von der Existenz von Austs Buch, dennoch ist es erst im Juli 2008 der Fall, sechs Jahre nach Abschluss meines historischen Studiums, dass ich wie mit einem Hammer darauf gestoßen werde, es könnte Zeit sein, das Buch zu lesen: im Kino läuft ein Trailer, der signalisiert, im Herbst 2008 käme die Verfilmung des Buches ins Kino.

Es ist sofort klar, dass der Film extrem faktenlastig sein muss. Er komprimiert zehn Jahre bundesrepublikanischer Geschichte von 1967 bis 1977 zu einem Reality-Action-Thriller unter der Regie von Uli Edel und Bernd Eichinger. Und da ich an Eichingers „Der Untergang“ vor Jahren schon die Akribie des Filmema­chers kennengelernt habe, weiß ich: ohne Kenntnis des Buches ist man in die­sem Film wahrscheinlich verloren und versteht nur Bahnhof.

Also das Buch lesen, und zwar zügig.

Die Lektüre des Buches dauert drei Wochen, weil die Informationen sacken und verdaut werden müssen. Es sind sehr viele Informationen, und sie bieten ein in vielerlei Hinsicht bestürzendes Bild, das aus den fragmentarischen, rudimentä­ren Erinnerungen der zurückliegenden Jahrzehnte im Verein mit neuen, verbin­denden Fakten ein dichtes, packendes Netzwerk von Tatsachen und Verbin­dungsstricken schafft und am Ende tiefe Erschütterung zurücklässt.

18. Oktober 1977 – In Stuttgart-Stammheim wird die Befreiung der Geiseln aus der Lufthansamaschine LANDSHUT in Mogadischu über Radio bekanntgegeben. Die Wachen der vier inhaftierten RAF-Führungsterroristen Andreas Baader, Gu­drun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller öffnen die Türen der Gefange­nen und entdecken am Morgen zwei Tote und zwei Schwerverletzte. Baader und Ensslin sind tot, Raspe tödlich verletzt, Irmgard Möller ist die einzige, die das Blutbad überlebt. Die Terroristin Ulrike Meinhof hat sich schon im Vorfeld in Haft das Leben genommen.

Der deutsche Herbst ist vorbei, und die Zeit der Mythen beginnt.

Begonnen hat all das gut sieben Jahre vorher, am 14. Mai 1970. Der Kaufhaus­brandstifter Andreas Baader erhält bewachten Freigang zu einer Bibliothek, wo er die „konkret“-Redakteurin Ulrike Meinhof treffen möchte, damit sie gemein­sam für ein Buchprojekt recherchieren können. Baader und Leute aus einem Umfeld wie etwa Gudrun Ensslin haben sich einen Namen in der Jugendszene gemacht und gelten allgemein als erzieherisch erfolgreich bei orientierungslo­sen, schwierigen Jugendlichen. Bis sie sich politisch radikalisieren und im Um­feld der 68er-Unruhen gegen den Vietnamkrieg und die deutsche Wiederbe­waffnung zu protestieren beginnen und dafür ein Kaufhaus in Brand stecken.

An diesem 14. Mai 1970 konvertiert die Journalistin Ulrike Meinhof, die ohne­hin schon mit den Zielen Baaders und seiner Freunde sympathisiert, zur Seite der Revoluzzer. Baader wird von bewaffneten Sympathisanten befreit, Ulrike Meinhof geht in den Untergrund. Das Leben als Gejagte beginnt. Und es ist ein in jeder Beziehung wildes Leben.

Der unstete, aber redegewandte und charismatische Andreas Baader, die allein­erziehende Journalistin Ulrike Meinhof, die Sympathien für die linke Szene emp­findet und zunehmend an dem repressiven politischen Klima der Bundesrepu­blik in den späten 60er und frühen 70er Jahren leidet, die Pastorentochter Gu­drun Ensslin und schließlich die Sympathisanten der „Bewegung 2. Juni“1, sie alle beginnen nun, nachdem die eigentlichen Studentenunruhen der späten 60er Jahre schon abgeflaut sind, in einem politisch stark aufgeheizten Klima das umzusetzen, was sie für eine soziale Revolution halten.

Die Ziele sind diffus: es gibt Personen in diesem Umfeld, die einfach nur antiau­toritären Impulsen nachgeben und einen Traum von einem freien, unregulier­ten Leben leben möchten, mit Ausübung freier Liebe, Gruppensex, Drogenkon­sum und dergleichen. Dann gibt es Leute, die dringend der Ansicht sind, der Bundesregierung und besonders der US-Regierung zeigen zu müssen, dass der Vietnamkrieg ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist. Dass schiere Mas­sendemonstrationen dazu wohl nicht imstande sind, scheint bewiesen zu sein. Dass der Staat gemeinsame Sache macht mit undemokratischen Regierungen in aller Welt – beispielsweise mit dem iranischen Regime des Schah Reza Pahlevi – , ist offensichtlich.

Die Sozialrevoluzzer sehen eine Strömung die Bewegungen der Gegenwart len­ken, die ihre Wurzeln in der nicht aufgearbeiteten NS-Vergangenheit der bun­desrepublikanischen Zeit hat. Ehemalige Männer der SS, des Sicherheitsdiens­tes (SD) und der nationalsozialistischen Partei durchsetzen zu diesem Zeitpunkt die politischen Parteien, die Polizei- und Bundeswehrstrukturen und die Konzer­ne. Hier, so denken die Aufbegehrenden der nächsten Generation, ist Diskutie­ren sinnlos geworden. Diese Leute kann man nur mit Aktionen überzeugen. Sie beginnen also folgerichtig mit militanten Aktionen.

Eine dritte Strömung unter diesen Idealisten, die an der Realität der Gegenwart verzweifeln und sich deshalb aus der Gesellschaft gezielt ausgliedern, ist der Ansicht, dass dies der Beginn eines sozialistischen Umsturzes, ja, einer Weltre­volution sei und dafür alle Mittel eingesetzt werden müssten, deren man hab­haft werden könne.

Institutionen wie das „Sozialistische Patienten Kollektiv“ (SPK) in Heidelberg, das 1970 von Dr. Wolfgang Huber gegründet worden war, Kommunen in ver­schiedenen Städten, Wohnungen von Sympathisanten der linken Szene, sie alle fungierten in der Folge als Anlaufstationen für die auf der Flucht befindlichen Kaufhausbrandstifter um Andreas Baader und jene, die bald danach ihrem Vor­bild nacheiferten und ebenfalls in den Untergrund abwanderten. Personen, die auf eine gebrochene Sozialisation zurückblickten, mit dem Elternhaus oder dem Staat in Konflikt geraten waren, teilweise einfach Abenteurernaturen, für die der Glanz von Baaders und Ensslins Taten inspirierend und motivierend wirkte.

Die Umsetzung der genannten Ziele und die Tatsache, dass der harte Kern der bald so genannten „Baader-Meinhof-Bande“ natürlich nicht einer geregelten Arbeit nachgehen konnte, erzwang notwendig die Beschaffung von Geldern. Die einfachste Methode, wenn auch durchaus riskant, schien Bankraub zu sein, und so überzogen Baaders engste Sympathisanten die Republik bald mit einer Serie von Banküberfällen. Damit rutschten sie endgültig in die Illegalität ab. Baader und seine Kumpanen, inzwischen bewaffnet und von der Polizei steck­brieflich gesucht, standen auf den Fahndungslisten, doch unterschied sie zu die­sem Zeitpunkt prinzipiell recht wenig von normalen Kriminellen.

Das änderte sich, als sie damit begannen, die Gelder und ihre Waffen dazu ein­zusetzen, politisch aktiv zu werden. Inzwischen gab es Verbindungen in die Sze­ne der arabischen Terroristen, Baaders Gefolgsleute wurden teilweise in Jorda­nien und im Jemen ausgebildet und politisch indoktriniert. Sie wurden, könnte man sagen, mit dem Virus des „Palästinenser-Problems“ infiziert, das zu jener Zeit hochbrisant war.2 Die oben so genannte „dritte Strömung“ innerhalb dieser Gruppierung, die sich in Richtung des Sozialismus orientierte, nahm derweil Kontakt mit dem Ministerium für Staatssicherheit in der DDR auf, und auch von hier gab es Hilfestellung.

Ziel der folgenden Anschläge waren konsequenterweise amerikanische Einrich­tungen, und vermutlich waren es die Anschläge auf Armeeobjekte im Verein mit den permanenten Banküberfällen, die auf der Gegenseite gleichfalls zu ei­ner Radikalisierung beitrugen. Die bundesdeutschen Politiker beschlossen mehr und mehr, die Rechte der Polizei und besonders des Bundeskriminalamtes (BKA) zu stärken, und schließlich setzten sie mit Horst Herold einen fanatischen Neuerer an die Spitze des BKA.

Herold propagierte die Einführung elektronischer Ermittlungsmethoden und führte Rasterfahndungen ein, um der RAF-Terroristen habhaft zu werden. Durch die Tatsache, dass es nun nachweisbare Verbindungen in den Ostblock gab, wurde die RAF Teil des ideologischen Rasters des Kalten Krieges. Und so, wie oftmals Terroristen von Geheimdienstkreisen für „Handlanger Moskaus“ gehal­ten wurden, geschah es auch hier. Die hysterische Vorstellung einer terroristi­schen „Fünften Kolonne“ Moskaus mit dezidiert kommunistischen, staatsum­stürzlerischen Zielen machte Gelder frei, die Horst Herold geschickt dazu ein­setzte, die Befugnisse und personellen Möglichkeiten des BKA auszuweiten und seine schon ans Manische grenzenden Kontrollphantasien umzusetzen.3

Inzwischen wurden die Begriffe „Baader-Meinhof-Bande“ und „Baader-Mein­hof-Gruppe“ synonym verwendet, wobei ersterer eher auf die Bankräuber ge­münzt war, während letzterer eher dann Anwendung fand, wenn es um die politischen Ziele der untergetauchten Kriminellen ging. Die Untergetauchten hatten sich zwischenzeitlich selbst den Kampfnamen „Rote Armee-Fraktion“ ge­geben.4

Als am 1. Juni 1972 Andreas Baader und Jan-Carl Raspe, zwei der führenden Köpfe der RAF in einer konspirativen Garage, in der sie auf einem Hinterhof Sprengstoff für ihre Attentate anzumischen pflegten, verhaftet wurden und eine Woche später auch noch Gudrun Ensslin in einer Modeboutique durch einen Zufall erkannt und von Beamten der Polizei überwältigt wurde, schien ein Ende der RAF in Sicht zu sein. Davon war Horst Herold umso mehr überzeugt, als kurz darauf auch noch die Terroristin Brigitte Mohnhaupt und ihr Freund (beide wer­den später aber fatalerweise wieder auf freien Fuß gesetzt) sowie, am 15. Juni, der letzte in Freiheit befindliche „ideologische Kopf“ der RAF, Ulrike Meinhof, gefasst werden konnte.

Nun schien die RAF führerlos und geschlagen. Den gefangenen Terroristen sollte in Bälde der Prozess gemacht werden. Eigens für diese Gefangenen und den Prozess wurde die Haftanstalt Stuttgart-Stammheim modernisiert und ein Hochsicherheitstrakt errichtet.

Doch bis Ende 1974 hatte der Prozess immer noch nicht begonnen. Diverse RAF-Häftlinge, darunter Holger Meins, wehrten sich auf die ihnen einzig mög­lich scheinende Weise gegen „das System“, das sie gefangen hielt – durch einen Hungerstreik. Am 9. November kollabierte Holger Meins´ geschwächter Orga­nismus, und die Terroristenszene hatte ihren ersten „staatlich ermordeten“ Märtyrer zu beklagen.

Die noch in Freiheit befindlichen Sympathisanten der RAF, die sich längst als „zweite Generation“ verstanden, reagierten auf diese „Provokation“ mit bruta­ler Gewalt. Waren Baader, Ensslin und Meinhof noch bei ihren Banküberfällen darauf aus gewesen, Menschenleben zu schonen, so scheute die Nachfolgege­neration der RAF Tote nicht. Ein Kommando der Bewegung des 2. Juni suchte schon am 10. November 1974 den Juristen Günter von Drenkmann auf und er­schoss ihn, möglicherweise bei dem Versuch, ihn als Geisel zu entführen.

Die nächste Geiselentführung – die des Politikers Peter Lorenz in Berlin am 27. Februar 1975 (der Prozess gegen die RAF hatte immer noch nicht begonnen) – verlief überraschend unblutig und endete mit der Freilassung des Gefangenen am 4. März. Hier gab der Staat der Bewegung des 2. Juni nach, die sich zu der Entführung bekannte (die Freilassung des harten Kerns der RAF gehörte aber nicht zu den Forderungen). Möglicherweise wurde so auf der Seite der Extre­misten der Gedanke salonfähig, man könne den Staat gezielt erpressen, und die Höhe der Forderungen sei einfach nur analog zur Größe der Bedrohung zu hal­ten.

Als am 25. April 1975 dann sechs schwer bewaffnete Terroristen die Deutsche Botschaft in Stockholm besetzten und damit drohten, sie in die Luft zu spren­gen, begriffen die deutsche Regierung und auch die Führung des BKA, dass der Alptraum namens RAF keineswegs durch die „Enthauptung“ bzw. Inhaftierung des harten Kerns ausgestanden war. Als der Sprengstoff von den Terroristen versehentlich zur Explosion gebracht wurde – insgesamt waren bei der Bot­schaftsbesetzung vier Menschen ums Leben gekommen, darunter der führende Kopf, Siegfried Hausner, der seinen Verletzungen erlegen war – , war die Zeit reif für den Prozess gegen die RAF-Führung, die seit Jahren in Haft saß.

Der erste Prozesstag war der 21. Mai 1975, und er wurde unter beinahe schon hysterischen Bedingungen durchgeführt.5 Alle Prozessbesucher wurden akri­bisch visitiert, selbst angebrochene Zigarettenschachteln und Kugelschreiber mussten abgegeben werden (dafür erhielten die Besucher behördeneigene Kugelschreiber, die wohl „unverdächtig“ waren).6 Der insgesamt 192 Tage lang dauernde Prozess, der sich schließlich bis zum 28. April 1977 hinziehen sollte, teilweise mit, teilweise ohne Anwesenheit der Angeklagten, mal mehr, mal weniger mit unflätigen Beschimpfungen, revolutionären Monologen und abstrusen Ermittlungs- und Befragungsversuchen, entwickelte sich zu einer Zerreißprobe für die richterlichen Instanzen einerseits, die verteidigenden Anwälte (unter ihnen Otto Schily, der spätere Bundesinnenminister) und zu einem bisweilen bizarren Spektakel, das die Medien genüsslich ausschlachteten.

Während dieser Prozess geführt wurde, das kam später heraus, standen die RAF-Häftlinge über Kassiber, die meist über die betreuenden Anwälte hinausge­schmuggelt wurden, in regem Kontakt zu den Zöglingen der „2. Generation“. Mehr noch: während Horst Herold und das BKA die RAF-Nachfolgestrukturen unter Kontrolle glaubten, weil sich keine weiteren Anschläge ereigneten, reisten diese Männer und Frauen, unter ihnen Peter-Jürgen Boock, Adelheid Schulz, Su­sanne Albrecht und andere munter in der Weltgeschichte herum.

Sie ließen sich in Jordanien ausbilden, kauften auf dem Schwarzmarkt Waffen, trafen sich mit arabischen Terroristen in diversen Ländern des Nahen Ostens und hielten Tuchfühlung mit dem Ministerium für Staatssicherheit. Sie besaßen sichere Häuser, diverse falsche Pässe, wurden aus dunklen Kanälen mit Geld fi­nanziert und planten weitere Anschläge, diesmal im internationalen Maßstab.

Dabei gab es zwei Zielrichtungen. Die eine Möglichkeit, die Erfolg versprechend war (die Geiselnahme von Peter Lorenz bewies es), schien Geiselnahme von Politikern zu sein. Aber die Chancen, viel damit auszurichten, insbesondere die Gefangenen in Stammheim freizupressen, sahen nicht allzu gut aus.

Der andere Plan, mit dem palästinensische Terroristen unter Wadi Haddad und Georges Habasch erfolgreich gewesen waren7, war eine Flugzeugentführung mit der Androhung eines Blutbades. Aber noch zögerten die RAF-Epigonen. Diese Art von Terror entsprach eigentlich nicht dem, was sie sich wünschten.

Doch als dann am Anfang Mai 1976, nach mehr als 100 Tagen Prozessdauer, Ul­rike Meinhof tot in Stammheim aufgefunden wurde – und sofort von ihren RAF-Mithäftlingen die Legende in die Welt gesetzt wurde, sie sei „vom System er­mordet worden“, und „das System“ plane auch, bei ungünstigem Prozessverlauf den Rest der Inhaftierten zu ermorden – und selbst der brutale Mord an dem Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April 1977 den Verlauf der Verhand­lung kein bisschen beeinflusste, da mussten Boock und seine Gefährten alle Op­tionen, die noch offen waren (wie sie meinten), wahrnehmen.

Am 5. September 1977 wurde daher der Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer entführt und alle seine Begleiter dabei erschossen. Doch die Versuche der RAF-Entführer, den Bundeskanzler und die Bundesregierung zu erpressen und auf diese Weise die inhaftierten, überlebenden RAF-Führungsmitglieder freizubekommen, wurden durch Taktieren, Zeitverzögerung und Rasterfahn­dung (bei der es einige eklatante Pannen gab, anderenfalls hätte man Hanns-Martin Schleyer schon nach wenigen Stunden befreien können) vereitelt und verschleppt.8 Der eigentlich nur auf wenige Tage angelegte Geiselzustand Schleyers wurde so auf qualvolle 43 Tage verlängert.

Am 13. Oktober 1977 wurde gewissermaßen „als zusätzliche Sicherheit“ noch das Lufthansa-Flugzeug LANDSHUT entführt und trat einen Irrflug unter dem Kommando deutscher und arabischer Terroristen an, bis es schließlich in Moga­dischu landen konnte. Hier wurde es am 17. Oktober 1977 von Angehörigen der Antiterroreinheit GSG 9 erstürmt, wobei mehrere Entführer den Tod fanden. In der gleichen Nacht, in der die Nachricht über die Beendigung der Entführung über die Deutsche Welle die Bundesrepublik erreichte, setzten die inhaftierten Führungsmitglieder der RAF ihren finalen Entschluss um.

Mit heimlich eingeschmuggelten Waffen erschoss sich Andreas Baader, Jan-Carl Raspe verletzte sich lebensgefährlich auf diese Weise. Gudrun Ensslin erhängte sich, und Irmgard Möller fügte sich schwere Stichverletzungen zu, die sie jedoch überlebte. Sie war die einzige, die die „Nacht von Stammheim“ überlebte und die lebenslange Haftstrafe antreten konnte, die über alle am Ende des Prozes­ses verhängt worden war.

Stefan Austs akribisches Buch, das die Geschichte der Rote Armee Fraktion und ihrer Anführer und Mitläufer, der ersten, zweiten und dritten Generation nach­zeichnet und dabei sowohl bundesdeutsche Akten auswertet als auch Inter­views, Literatur und zugänglich gemachtes, ergänzendes Material aus den Archi­ven des Ministeriums für Staatssicherheit, legt es nicht auf eine Verurteilung oder Kriminalisierung der Täter oder der Ermittlungsbehörden an. Vielmehr wird in diesem facettenreichen Wechselspiel der Darstellung, bei der er sich möglichst detailreich in die Psyche der Beteiligten einzufühlen bemüht, immer deutlicher offen gelegt, dass auf beiden Seiten lediglich Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen beteiligt waren. Da gibt es Idealisten auf beiden Seiten, die sich mitunter so stark in ihre Überzeugungen verrannt haben oder derma­ßen stark in schematischen Denkmustern verhaftet bleiben, dass sie Nahelie­gendes nicht sehen oder nicht sehen möchten, dass sie Kompromisse oder eine abgestufte Reaktion einfach nicht erkennen.

Auf allen Seiten wird auch vielfältige Einflussnahme deutlich. Das Ministerium für Staatssicherheit versucht beispielsweise, die RAF über ihre Unterstützung zu kontrollieren. Dies fällt den RAF-Zöglingen in jordanischen Terroristenlagern auf, aber sie lassen sich nicht instrumentalisieren. Die arabischen Fundamentalisten (zeitweise mischen auch japanische Terroristen auf dem europäischen Schau­platz mit, was schon abenteuerlich wirkt) bemühen sich um etwas Ähnliches. Innerhalb der RAF gibt es diverse, manchmal rein private Rivalitäten und Reibe­reien. Es ist, und das arbeitet Aust relativ klar heraus, ziemlich deutlich, dass beispielsweise Ensslin und Meinhof Rivalinnen in der Haft sind, und dass Ensslin ihre Gegnerin derartig „mobbt“, wie man heute sagen würde, bis Meinhof nur noch Zuflucht im Tod suchen kann… und selbst diese Verzweiflungstat bringt die Fanatiker dann nicht zur Räson, sondern bestärkt sie nur auf skrupellose Weise in ihrem rücksichtslosen Verhalten!

Austs Buch ist deshalb eine intensive Studie über ideologische Verblendung und gleichermaßen eine Studie in der Offenlegung eines Ermittlungsfanatismus, der ungerührt zahllose Pannen begeht und an vielen Stellen die eigene Moralität durch das eigene Handeln ad absurdum führt. Teile davon sind im Film reflek­tiert, viele andere aber nicht. Der Staat tritt hier nicht nur allein als positives Schutzinstrument auf, sondern auch als Bedrohung für den mündigen Bürger, wenn ihm in der Verfolgung einiger weniger Straftäter das Recht zunehmend gleichgültig wird.9 So führt das Buch Austs letztlich zu dem Fazit, dass hehre Zie­le, und mögen sie noch so gut gemeint sein, mit Terror und Gewalt nicht umzu­setzen sind, sondern stets scheitern werden. Auch warnt er davor, die RAF-Ter­roristen, die anfangs durchaus durchschnittliche Kriminelle waren, wenn auch mit hochfliegenden und später ideologisch völlig überzogenen Plänen, zu glori­fizieren oder zu einer Art von Ikone zu erheben. Dies sei völlig falsch.

In dieselbe Kerbe schlägt auch die Verfilmung des Jahres 2008, die das große Problem hat, ungeheuer viel Detailreichtum, wie er sich in dem faktenreichen Buch ausdrückt, nicht einmal annähernd umsetzen zu können. Die manchmal extrem schnelle Schnittfolge des Filmes, in dem sich gelegentlich sogar Szenen überlagern, macht es für Zuschauer, die sich nicht auf das Buch als Gedächtnis­stütze berufen können, sehr schwer, den vielfältigen Handlungsströmen zu fol­gen. Wer ist hier wer, wer kommt von wo und was wollen diese Leute eigent­lich? Dies verengt sich fast notwendig auf eine Simplifizierung des Problems.

Manche Schwierigkeiten der Realität werden hierbei gezielt ausgeblendet, etwa die Tatsache, dass der harte Kern der RAF zeitweise drogensüchtig war, und da­mit wird nicht der Nikotinkonsum im Film gemeint, sondern es geht um ge­spritzte Drogen. Sinnfällig wird das in Austs Buch an der Tatsache einer gemein­samen Gelbsucht dokumentiert, die sich die RAFler durch eine infizierte Injekti­onsnadel zuzogen.

Ebenfalls, auch das ist im Buch gut nachzuvollziehen, weil in Stammheim akri­bisch Buch geführt wurde über die verabreichten Medikamente, schweigt sich der Film vollständig über die Medikamentensucht der Inhaftierten aus, die man wirklich nur noch extrem nennen kann. Für die Tabakindustrie ist der Film indes ein schöner Werbeträger, da auf allen Seiten wie verrückt gepafft wird. Mir hat das die Laune beim Anschauen des schon thematisch schwierigen Films zusätzlich verhagelt, ganz ehrlich.

Ansonsten muss man natürlich sagen, dass das Buch in seiner Faktendichte ver­mutlich unverfilmbar ist. Obwohl sich Eichinger und Edel extrem genau an die Tatsachen – etwa bei den Entführungen und Überfällen – gehalten haben, stellt es wahrscheinlich ein Problem dar, die Tätergruppe mit der Creme de la Creme der bundesdeutschen Nachwuchsschauspieler zu besetzen. Zwar ist die perso­nelle Gegenüberstellung der Originalfahndungsfotos mit den Schauspielfotos beklemmend, aber es ist schwierig, die RAF-Mitglieder so zu sehen, wie man sie eigentlich sehen sollte: als kriminelle Personen, die wegen ihrer irregeleiteten Motivationen und ihres – etwa im Falle von Andreas Baader – sichtlich ziellosen Lebens Zuflucht zur Gewalt nehmen und diese rigoros für kriminelle Zwecke an­wenden.

So betrachtet, kann das Fazit nur dergestalt ausfallen, dass das Buch (wie es eben meist so ist) besser ist als der Film.10 Und jeder, der sich den Film ange­schaut und ungläubig die Augen gerieben hat, sollte sich ausdrücklich das Buch zu Gemüte führen, denn das ist ein lohnendes Erlebnis.

Die RAF ist ein wichtiges Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte, und ent­gegen der Darstellung im Film ist sie am 18. Oktober 1977 mit der Ermordung von Hanns-Martin Schleyer durchaus nicht zu Ende. Die Nachwehen enden erst 1997. Man kann das in dem Buch Der Baader Meinhof Komplex nachlesen…

© by Uwe Lammers, 2009

Ja, ich weiß, das ist eine echt LANGE Rezension, aber seht es so… es ist auch verdammt komplexer Stoff und viel, viel Information, die ich euch hier verabrei­chen musste. Und doch ist es nicht ein Viertel dessen, was darin wirklich los ist. Löst euch von den simplen Vorstellungen, die euch in Nachrichtensendungshap­pen verabreicht werden, die Moderatoren gern nach anderthalb Minuten noch mal zusammenfassen, als wenn ihr kleine Kinder wärt, die sich keine eben ge­hörten Informationen merken könnten. Das ist eine Form des Journalismus, die weniger fürsorglich als entmündigend ist.

Komplexe Phänomene wie das, was Stefan Aust oben beschrieben hat, kann man nicht in anderthalb Minuten oder – in diesem Fall – auf 4 Seiten Rezensi­onstext darstellen. Da ist Eintauchen nötig.

Aber ich verspreche euch – beim nächsten Mal bin ich wieder kürzer angebun­den. In einer Woche an dieser Stelle.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 So benannt nach dem Todestag des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 während einer Demonstration, bei der er kaltblütig durch die Polizei erschossen wurde.

2 Vgl. dazu auch David A. Yallop: „Die Verschwörung der Lügner. Die Jagd nach dem Top-Ter­roristen Carlos“, München 1994, das denselben Zeitraum beleuchtet und hier die palästi­nensisch-arabischen Netzwerke besonders stark beleuchtet. Auch die RAF spielt hier na­türlich eine Rolle. Die Vorgeschichte des Palästina-Konflikts, die bis heute die Region in Blut und Terror taucht, lässt sich gut nachlesen bei Tom Segev: „Es war einmal ein Palästi­na“, München 2006.

3 Obwohl hiermit nicht Bruno Ganz´ schauspielerische Leistung als Horst Herold im Film heruntergespielt werden soll, kommt doch die manchmal fragwürdige Form des Handels Herolds im Buch klarer und problematischer zum Vorschein.

4 Die Ironie der Namensgebung entging ihnen nicht. Bekanntlich heißt RAF auch „Royal Air Force“, die im Zweiten Weltkrieg für erhebliche Zerstörungen im Luftkrieg gegen Deutsch­land verantwortlich zeichnete. Der Name blieb dennoch.

5 Allein der Prozess, z. T. mit wörtlichen Protokollwiedergaben, füllt bei Aust mehr als 100 Seiten – und mit Recht! Er ist sehr lesenswert.

6 Die späteren eklatanten Pannen, die sich in Stammheim ereigneten und unter anderem dazu führten, dass die RAF-Terroristen Schusswaffen und Sprengstoff (!) eingeschmuggelt bekamen, zeigt auf der anderen Seite, wie offenkundig unwirksam diese pathologischen Sicherheitsmaßnahmen waren.

7 Vgl. David A. Yallop: „Die Verschwörung der Lügner“.

8 In Stefan Austs Buch wird akribisch nachgewiesen, dass diese Fahndungspannen später gezielt vertuscht wurden, um denjenigen, die sie gemacht hatten, nicht die berufliche Kar­riere zu zerstören. Diese Informationen sind in den Akten alle enthalten. Der Film konnte dazu freilich nichts sagen.

9 Da werden beispielsweise Mandatsträger offiziell belogen und dann belauscht, da werden Wanzen in Stammheim installiert, da werden Rechtsanwälte ausspioniert und zahlreiche unschuldige Personen auf bloßen Verdacht hin inhaftiert… rechtsstaatlich einwandfrei kann man so etwas nicht nennen, und die Beteuerungen der späteren Zeit, dies sei eben notwendig gewesen, um der terroristischen Gefahr zu begegnen, erinnern doch fatal an das, was die US-Regierung unter George Bush jr. an Menschenrechtsverletzungen began­gen hat, um ihren „Krieg gegen den Terror“ zu einem Erfolg werden zu lassen (der bis heu­te nicht sichtbar ist).

10 Der Wermutstropfen für die Historiker unter den Lesern dieser Rezension kann man dabei allerdings vernachlässigen: Aust ist Journalist. Folgerichtig, dies ist das Ergebnis vieler journalistischer Bücher durch den Rezensenten, leidet das Werk unter einem offensicht­lich journalisten-endemischen Fehler: es legt seine Quellen nicht offen. Das Buch besitzt weder ein Quellen- noch ein Literaturverzeichnis, und es hat auch keine Fußnoten. Wer also immer herausfinden möchte, welche Quellen Aust für sein Werk verwendet hat, muss sich wohl an den Autor selbst wenden. Ich brauche nicht zu betonen, wie lästig das ist. So­lide historische Aufarbeitung sieht anders aus, und wenn Aust sich diesbezüglich mehr Mühe gegeben hätte, wäre aus diesem Buch zweifelsohne DAS Standardwerk zur RAF-Ge­schichte geworden. So steht dieses Werk immer noch aus. Aber das hier ist eine gute Vor­studie.

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