Liebe Freunde des OSM,
heute geht es also im Abstand von fünf Wochen weiter mit dem phantastischen Leseabenteuer von Diana Gabaldons inzwischen weltberühmter Highland-Saga, die zumindest in diesem zweiten Teil auch noch weitgehend in den schottischen Highlands spielt (für spätere Bände trifft das nur bedingt zu, wie jeder Versierte weiß, da geht’s dann um karibische Piraten, amerikanische Kolonien, schwarze Magie und derlei mehr… beizeiten erzähle ich davon, und wer nicht so lange warten will, verschlingt einfach zwischenzeitlich die Bücher).
Ich habe diese Rezension zwar vor über fünfzehn Jahren geschrieben und dann im Jahre 2006 noch mal für die Neuveröffentlichung im Internetportal www.gibs.info leicht nachbearbeitet, dennoch ist diese Rezi nur wenigen Leuten wirklich bekannt geworden. Und wer weiß, vielleicht teilt ja der eine oder andere meine Einschätzung, die ich unten in meinen Zeilen ausdrücke.
Sehr viel mehr Vorrede möchte ich auch gar nicht machen. Stürzt euch einfach Hals über Kopf ins Abenteuer:
Die geliehene Zeit
(OT: Dragonfly in Amber)
von Diana Gabaldon
Blanvalet 35024
992 Seiten, TB
1998, 10.00 Euro
Aus dem Amerikanischen von
Sonja Schumacher, Rita Seuß und Barbara Steckhan
Ist es eine Aufgabe oder sogar eine Verpflichtung, etwas zu vermeiden, von dem man weiß, dass es entsetzliches Leiden über jene Menschen bringen wird, die man kennt und schätzt und liebt? Wiegt das Wissen darüber, was die Zukunft bringt, mehr als die instinktive Verpflichtung, sich nicht einzumischen in das Leben der Menschen, die eigentlich längst „historisch“ sind und seit Jahrhunderten zu Staub zerfallen?
Claire Beauchamp Randall Fraser steht vor dieser schwierigen Entscheidung.
Die junge Krankenschwester, die im April 1945 durch den magischen Steinkreis auf dem Craigh na Dun nahe Inverness in die Vergangenheit verschlagen wurde1, weiß um die Zukunft und gilt als mit dem Zweiten Gesicht begabt. Nicht wenige halten sie ihrer rätselhaften Herkunft und erstaunlichen medizinischen Kenntnisse wegen für eine Hexe. Nur ihr Mann, der schottische Highlander James Malcolm MacKenzie Fraser kennt die Wahrheit über ihre Herkunft und ihr Wissen. Claire, die im Jahre 1743 gelandet und in die Hände des MacKenzie-Clans geraten war, hat es geschafft, sich hier durchzusetzen und ihren von den Briten verfolgten Ehemann Jamie, nach zahlreichen Abenteuern, schwerverletzt in Frankreich in Sicherheit zu bringen. In einer Abtei schöpft Jamie neuen Lebensmut, heilt seine Verletzungen aus… und zeugt mit Claire das lang ersehnte Kind, das nun in ihr heranwächst.
Sie hat sich dafür entschieden, mit Jamie in der Vergangenheit zusammen zu bleiben und ihren Ehemann Frank Randall in der Gegenwart zwar im Gedächtnis zu behalten, aber nicht zurückzukehren. Weiterhin plant sie, die schreckliche Zukunft für Schottland zu sabotieren. Zusammen mit Jamie will sie Prinz Charles Stuart, der in Frankreich für eine Rückeroberung Englands im Namen der katholischen Kirche rüstet, daran hindern, diesen Feldzug zu führen. Denn er wird, wie sie nur zu gut weiß, zu der schrecklichen Schlacht von Culloden am 16. April 1746 führen und zum Ende aller Highland-Clans.
In der Erwartung, diese Ereignisse würden fortgesetzt, verabschiedet sich der Leser im Januar 1744 zum Ende des ersten Romans von Jamie und Claire…
…und findet sich völlig überrumpelt am Anfang dieses Romans „Die geliehene Zeit“ im Inverness des Jahres 1968 (!) wieder, wo er damit konfrontiert wird, dass Claire ihrer Tochter Brianna, die optisch eindeutig als Tochter Jamie Frasers zu erkennen ist, eine hünenhafte, katzenäugige Normannin, Schottland zeigen will.
Rasch kristallisiert sich heraus, dass Claire erschöpft, abgerissen und halb verhungert – und überdies schwanger – im Jahre 1948 auf dem Craigh na Dun wieder erschien und ihren Mann Frank dann darüber aufklärte, was geschehen ist. Aber alles andere bleibt diffus. Eine Lücke von zwei Jahren Handlungszeit ist nach wie vor offen. Was geschah mit Claire und Jamie zwischen dem Januar 1744 und dem April 1746? Was geschah mit ihrem ersten Kind? Wie sahen ihre Anstrengungen aus, die Schlacht bei Culloden zu verhindern?
Als der Historiker Roger (MacKenzie!) Wakefield Brianna und Claire hilft, etwas über den Verbleib von dreißig Männern aus dem Fraser-Clan herauszufinden, die bei Culloden gekämpft haben sollen, wird sein eigenes Interesse geweckt, nicht wenig davon ist im übrigen sein romantisches Interesse an der stolzen Brianna. Dabei stellt er überrascht fest, dass sie über einen Mann KEINE Informationen haben möchte: über James Alexander Malcolm MacKenzie Fraser, der diese Gruppe anführte. Sein Schicksal sei ihr bekannt.
Dass es sich anders verhält, merken sie alle, als Claire bei einem Besuch des abgelegenen Friedhofs von St. Kilda Jamies Grab entdeckt und fast einen Nervenzusammenbruch erleidet. Sie hat das Grab bei Culloden erwartet. Nun offenbart sie den beiden, was damals, 1945, mit ihr geschah, und was sie in der Vergangenheit erlebte.
Es ist ungeheuerlich genug.
Sie fährt für den wissenshungrigen Leser, der den ersten Roman kennt, genau dort fort, wo die rätselhafte Lücke beginnt. Claire erzählt die Geschichte ihres Mannes Jamie – und ihre eigene. Die Geschichte ihrer Abenteuer in königlichen Frankreich der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Jamie ist nun in Frankreich als Weinhändler, Diplomat und Geheimagent und damit betraut, Verbindungsoffizier zwischen dem Hof des französischen Königs Louis und den jakobitisch-schottischen Rebellenkreisen sowie dem recht mittellosen Prinzen Charles Stuart zu sein. Er soll also die finanziellen Möglichkeiten schaffen, um Charles in die Heimat Schottland zurückzuführen und zugleich den Aufstand hervorzurufen.
Mit Claires Wissen um die schreckliche Schlacht bei Culloden muss er aber um jeden Preis verhindern, dass Charles die entsprechenden Mittel erhält! In gewisser Weise ist er insofern Doppelagent, zum Teil in eigener Sache.
Claire, wie erwähnt, „guter Hoffnung“, langweilt sich als sehr empfindsame Krankenschwester unterdessen schrecklich und geht schließlich ihrer Profession nach. Im Verlauf dieser Tätigkeit lernt sie den geheimnisvollen Maitre Raymond kennen und wird rätselhafterweise zu einer „Zauberin“ („La Dame Blanche“) erhöht und gerät schließlich, als Jamies tot geglaubter Todfeind Jonathan Randall in Paris auftaucht, in das gnadenlose Räderwerk von Intrigen, das fast ihren Tod zur Folge hat.
Und dann beginnen, allen ihren Anstrengungen zum Trotz, die Flammen des Aufstandes zu lodern, die Schlacht von Culloden scheint unvermeidbar zu sein. Doch wenn dem so ist, können sie es dann wenigstens schaffen, Jamie und die Angehörigen seines Clans davor bewahren, von den Kanonen der Engländer zusammengeschossen zu werden? Kann Claire Jamies Tod auf dem Schlachtfeld verhindern..? Bis zum Schluss des Romans bleibt diese Frage (nahezu) ungeklärt…
Wer den Roman „Feuer und Stein“ mit heißer Begeisterung gelesen hat (wie ich, zugegeben!), der kann eigentlich gar nicht anders, als sich den Nachfolgeband auch zu kaufen, allein schon wegen der klaffenden zeitlichen Lücke – und wegen der quälenden Frage, was aus ihnen allen geworden ist, aus diesen lieb gewonnenen Personen.
Obgleich diesmal drei Übersetzerinnen für den Band tätig waren (statt zwei beim ersten) und zudem keine vom ersten Band dabei ist, wäre zu erwarten gewesen, dass die Qualität leidet. Das merkte man allerdings noch am ehesten am sprühenden Wortwitz des Romans, wenn überhaupt. Davon kann aber absolut keine Rede sein. Im Gegenteil: die Charaktere, insbesondere natürlich Claire und Jamie, werden nahezu nahtlos weitergeführt. Anfangs ist es zwar etwas verwirrend, Claire auch mal in der dritten Person vor sich zu haben, doch dann kehrt wieder die sehr erfrischende Ich-Perspektive zurück, deren subtiler, trockener Humor und pragmatische Sichtweise das Lesen äußerst leicht werden lassen. Ihre ethischen Reflexionen sind ausgeprägt, und die Gewissensqualen, die Jamie und andere Handlungspersonen umtreiben, geradezu herzzerreißend beschrieben. Der Leser, und das ist wohl das beste, was man über fiktive Figuren sagen kann, leidet mit den Handlungspersonen mit, sie wachsen ihm ans Herz und werden Teil der eigenen Familie… es mag seltsam klingen, aber sie sind mir sehr lieb geworden, und ich schätze sie ungemein.
Im ganzen Roman steckt die faszinierende ethisch-philosophische Frage, ob man – wenn man dazu imstande ist – die Geschichte verändern darf, wenn „unzeitgemäße“ Menschen wie Claire Beauchamp Fraser (eigentlich Claire Beauchamp Randall) über Informationen verfügen, die das Leid vieler Menschen mildern oder verhindern könnten. Darf man deshalb Loyalität und Ehrbegriffe des 18. Jahrhunderts über Bord werfen? Riskiert man nicht, alles zu verlieren, wenn der Versuch, die Zukunft zu verändern, fehlschlägt…? Die alleinige Gratwanderung über dieses Drahtseil der kontrafaktischen Geschichte macht das Buch neben den vielfältigen Schilderungen der Vergangenheit außerordentlich lesenswert – wenn man nicht ohnehin schon von den Personen so hingerissen ist, dass man das Buch ihretwegen liest.
Wie dem auch immer sei: auch mit dem zweiten Band ihrer breit angelegten Highland-Saga ist Diana Gabaldon ein Meisterwerk gelungen, das zwar hauptsächlich sentimentale Herzen wie das meine anrührt, aber auch jede Menge Gedankenanstöße zu vermitteln vermag, die auch nüchternere Menschen in ihren Bann zu ziehen vermögen.
Wie stark ich ihn ihrem Bann stehe, mag man daran ermessen, dass ich „Die geliehene Zeit“ gestern zu Ende las und mir heute UNBEDINGT den dritten Band „Ferne Ufer“ kaufen musste. Und auch hier bin ich schon fast wieder auf Seite 200 mit dem Lesen, nach einem knappen Tag Lektüre!
Fesselnd, das ist, glaube ich, eher noch eine Untertreibung. „Absolut süchtig machend“, wie der Klappentext verheißt, ist das treffende Attribut. Es lohnt den Versuch – jedoch nicht ohne den ersten Band. Danach MUSS man ohnehin weiterlesen, wenn man ihn liebgewonnen hat, den Jamie Fraser und all seine Angehörigen. Und natürlich Claire, die Unvergleichliche…
© by Uwe Lammers, 2000/2006
Tja, Freunde, ihr seht… auch heute noch kann ich den obigen Worten uneingeschränkt beipflichten und muss sie nicht ausgiebig einleitend kommentieren. Gute Bücher sprechen schlicht für sich, und selbst wenn der eine oder andere von euch vielleicht denkt, ich trüge oben etwas zu dick auf… das ist eine Sicht der Dinge von Menschen, die deutlich nüchterner und rationaler veranlagt sind als ich. Aber ich nehme an, solche Leser greifen eher selten zu Gabaldons Büchern.
In der kommenden Woche werde ich mich dann mal wieder im Kontrast zu heute schön kurz halten und ein eher lyrisches Buch vorstellen. Einfach reinschauen, wenn ihr wissen möchtet, um wen es dann geht.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. Rezension zu Diana Gabaldon „Feuer und Stein“ im Rezensions-Blog 50 vom 9. März 2016.