Liebe Freunde des OSM,
wie ich euch letzte Woche versprochen habe, gibt es diesmal wieder ein vergleichsweise aktuelles Werk zu besprechen. Während ich mich neulich um ein Buch kümmerte, das ja schon seine gut 75 Jahre auf dem Buckel hatte, war zu dem Zeitpunkt der Autor des vorliegenden Buches noch gar nicht geboren. Schauen wir uns heute mal einen bärbeißigen Kritiker des US-Establishments zur Zeit des damals amtierenden Präsidenten George W. Bush jr. an. Ich gebe zu, Moore zog mich auch deshalb an, weil ich Bush jr. ernstlich für einen Wahnsinnigen hielt und im Grunde genommen immer noch halte. Der Mann gehört meiner Ansicht nach vor ein Kriegsverbrechertribunal, ganz gewiss aber hinter Gitter… und ich denke, nach dem, was er angerichtet hat im Gefolge von „9/11“, stehe ich mit dieser Ansicht wohl nicht allein da.
Michael Moore hatte Bush schon zuvor auf dem Kieker, und er nutzte dieses Buch, das damals Furore machte – wie auch viele seiner anderen Bücher, zu denen ich gewiss noch mehr sagen werde – , zu einer recht scharfzüngigen Abrechnung mit seiner eigenen Nation und ihren Absonderlichkeiten, um es vorsichtig zu formulieren.
Und nein, zeiht mich nicht des Antiamerikanismus, ich mag einzelne Personen nicht und einige Strömungen, die dort von Zeit zu Zeit vorherrschen, sowie gewisse Strukturen wie etwa dieses obskure Wahlmänner-System oder die bizarre, gesponserte Form des obsessiven Wahlkampfes. Aber gegen die Amerikaner als Volk und Nation habe ich absolut nichts. Und so solltet ihr denn dann auch das verstehen, was als Rezension jetzt folgt. Lesenswert ist es, denke ich, auch ungeachtet des Abstandes von rund 10 Jahren immer noch:
Stupid White Men
(OT: Stupid White Men… and Other Excuses for the State of the Nation!)
von Michael Moore
München 2002
Aus dem Amerikanischen von Michael Bayer, Helmut Dierlamm,
Norbert Juraschitz und Heike Schlatterer
336 Seiten, TB
ISBN 3-492-04517-0
12.00 Euro
Sie haben etwas gegen Amerikaner, weil diese Leute so blasiert und überheblich sind, sich aufführen, als gehörte ihnen die Welt? Weil sie einen Präsidenten gewählt haben (na ja, vielleicht gewählt haben – wir sprechen über die Wahl von 2000, die Wiederwahl war einfach nur dämlich), der nichts Besseres zu tun hatte, als seinem latenten Araberhass dahingehend Ausdruck zu verleihen, indem er nach dem 11. September 2001 gleich zwei Länder bombardieren ließ, mit denen er formell nicht im Krieg stand und in beiden Ländern (gemeint sind, falls das schon jemand von unseren Kurzzeit-Gedächtnis-Mitbürgern vergessen haben sollte, Afghanistan und der Irak) statt einer „neuen Weltordnung“ Chaos und Verderben installierte?1 Weil sich das Land Amerika in eine Art demokratisch getarnte Diktatur verwandelt hat, die nicht nur die eigenen Bürger durch ständigen Notstand und neue Terrormeldungen schikaniert, sondern auch immer noch exzessiv den „american way of life“ in die Welt hinaustragen möchte?
Leute, ihr wisst nicht mal die Hälfte der Gründe, die es für eine solche Haltung gibt. Ganz sicher nicht.
Was lässt sich dagegen machen? Nun, lest das Buch eines amerikanischen Rebellen. Dieses Buch:
Michael Moore, 1954 in Flint, Michigan, geboren und nach einer wechselhaften Laufbahn, die ihn schließlich zum Helfer des Verbraucherschützers Ralph Nader, dann zum überzeugten Regisseur, Fernsehmoderator der Show „TV Nation“2 und Schriftsteller werden ließ, dieser Michael Moore ist heutzutage jemand, mit dem man in der amerikanischen Politik rechnen muss Nicht allein durch seinen Dokumentarfilm „Roger & Me“, sondern besonders durch seinen Film „Bowling for Columbine“, in dem er den Schüler-Amoklauf an der Columbine High School nachzeichnet und die Waffenindustrie anprangert, ist er auch in Europa bekannt geworden.
Dieses Buch hier ist aus dem Anlass der Präsidentschaftswahlen Ende des Jahres 2000 entstanden, enthält aber weit mehr als nur den zu erwartenden „Anti-Bushism“, wie man im gängigen Jargon heute sagt. Gewiss, Michael Moore ist natürlich ein profunder Bush-Gegner, und es gibt in diesem Buch eine Menge guter Gründe dafür. Aber er bewegt sich auch in dem wechselvollen Spannungsfeld zwischen Demokraten, Republikanern und jenem dritten Präsidentschaftskandidaten der damaligen Wahl, seinem einstigen Arbeitgeber Ralph Nader. Und alle, wirklich alle, bekommen ihr Fett weg.
Wer sich Moores Film „Fahrenheit 9/11“ angesehen hat – vergessen wir mal kurz Ray Bradburys gallige Kritik daran und den vermutlich realistischen Vorwurf des Science Fiction-Schriftstellers, Moore habe von seinem Buch „Fahrenheit 453“ einen Teil des Titels abgekupfert – und das Amerika von heute nur mit großem Unbehagen anschauen kann, wem die amerikanische Mentalität ein Buch mit sieben Siegeln ist und er die Bürger Nordamerikas abwechselnd allesamt für strohdämlich oder latent faschistisch erklärt, der sollte sich vielleicht ein wenig um eine differenziertere Blickweise bemühen, und einige Zutaten dafür könnte er diesem z. T. sehr bissigen Buch entnehmen.
Ob es um die wirklich haarsträubenden – und bei Moore gut belegten – Schiebereien und Mogeleien im Vorfeld der Wahl (und nach der Wahl) im Jahre 2000 geht, um schwarze Bürger, die vorsorglich aus dem Wahlregister gestrichen wurden; ob es um George Bushs rätselhafte Vergangenheit geht, die bei Moore schließlich in der inquisitorischen Frage gipfelt: „George, bist du ein Verbrecher?“ (bzw. ein Sicherheitsrisiko oder ein Alkoholiker), oder ob er sich über eine Verschwörung der Reichen zu Ungunsten der Ärmeren in den USA auslässt… etwas, was mir sehr bekannt vorkam… warum wohl nur…? Ob das was mit der Wohlstandsgesellschaft in der Bundesrepublik zu tun hat? Und HIER herrscht doch wirklich ein „Abschwung“, oder…?, es gibt eine Menge zu lesen und zu lernen.
Arsen im Grundwasser der USA stellt eine Panikmache des Präsidentschaftskandidaten Ralph Nader dar? Deshalb schreibt man Moore freundlich, er solle doch dem Briefschreiber einen Gefallen tun, nämlich: „Bitte fallen Sie tot um!“ Nun, der Autor denkt nicht daran. Er weist vielmehr nach, dass die Demokraten unter Bill Clinton von dem Arsen sehr wohl wussten, aber sich 8 Jahre lang weigerten, dazu irgendetwas zu sagen. Nader thematisierte es als erster, und prompt schob man ihm die Existenz von Arsen im Grundwasser in die Schuhe. Die Gesetze dagegen wurden erst ganz kurz vor der Wahl von den Demokraten hastig beschlossen (und als erstes von der Bush-Administration sofort wieder gekippt).
Die Schwarzen sind die eigentlichen Verbrecher und Nutznießer zugleich des amerikanischen Wirtschaftssystems? Alles Kriminelle, wie man in den Nachrichten ständig sehen kann? Eigenartig, befindet Moore, er könne sich an KEINEN Schwarzen erinnern, der ihm jemals was zuleide getan habe. Alles Böse sei ihm stets von den WEISSEN widerfahren. Also beschließt er, einen guten Rat zu erteilen: „Los, killt die Weißen!“
Klimaschutz? In Amerika? Unter den Demokraten, unter den Republikanern? Pustekuchen. Recycling? Was soll der Unfug? Michael Moore enthüllt, seinem eigenen Wohlstandsmüll nachgehend, schockierende Erkenntnisse über die Abfallwirtschaft der Staaten. Das führt unter anderem dazu, dass er fortan Mineralwasser aus der Schweiz einfliegen lässt. Schweineteuer, klar, aber wenn man wie er erst mal erfahren hat, was alles so in den Wasserreservoirs von New York passiert…
Wer zwischen einzelnen Bundesstaaten der USA mit dem Flugzeug unterwegs ist, sollte wirklich gut daran tun, die zahllosen Sozialhilfeempfänger gut zu behandeln. Warum? Nun, einige davon sind möglicherweise ihre eigenen Piloten. Findet Moore schockiert heraus, als er mit einem Piloten ins Gespräch kommt. Manche der Piloten verdienen so wenig, dass sie noch nebenher zum Sozialamt gehen müssen. Bis die Fluggesellschaften das verbieten!
Land der Freien? Amerika? Wohl ein Witz, hm? Der streitbare Moore weist mit teilweise abenteuerlichen Fallstudien nach, dass es offensichtlich völlig egal ist, wie man heißt oder wo man sich aufhält, wenn die Polizei mal einen Verdacht gefasst hat, dass man schuldig zu sein hat. Da kann es sein, dass Haustüren aufgebrochen und gehbehinderte Schwarze vor dem Fernseher fassungslos über den Haufen geballert werden, weil sich die Beamten in der Hausnummer geirrt haben; da kann es geschehen, dass Drogenkonsumenten eingesperrt werden und die Dealer frei rumlaufen und sogar noch Steuererleichterungen bekommen oder Leute verhaftet und verurteilt werden, weil sie Dokumente unterschreiben, die sie nicht gelesen haben…
Willkür pur, und es ist egal, meint Moore (mit Beleg guter Gründe), ob Demokraten oder Republikaner das Land regieren. Die beiden Parteien ergänzten sich so glänzend, sie könnten eigentlich zusammengehen. Und die 90 Prozent der Amerikaner, die von dieser Doppelpartei nicht repräsentiert würden, könnten dann die dritte, neu zu gründende wählen…
Das alles und noch viel mehr aus dem realen Alptraum aus Absurdistan USA bekommt der zunehmend fassungsloser dreinschauende Leser hier geboten, von Moore alles schön mit Anmerkungen versehen, damit man auch ja seine Quellen kontrollieren kann. Das Buch hat nicht umsonst binnen von anderthalb Jahren 39 (!) Auflagen erlebt (diese Ausgabe war die mir vorliegende. Es ist gut möglich, dass das Buch inzwischen 75 oder mehr Auflagen erlebt hat).
Ich denke, wer immer einen etwas präziseren und vielschichtigeren Einblick in die amerikanische Seele erleben möchte, ob es dabei nun um Regierungspolitik, Verbraucherschutz, Umweltaktivisten, Wirtschaft, Militär, Polizei, Rassenpolitik usw. geht, könnte sich hier Informationen aus erster Hand verschaffen – und dabei noch so manches ungläubige Kichern erleben.
Moore ist bissig, ja, er neigt auch zu Tiefschlägen, ja. Aber er ist nicht nur destruktiv, sondern hat durchaus Lösungen zu bieten. Und die können sich ebenfalls sehen lassen.
Das Buch ist nicht umsonst ein Bestseller geworden.
Lest es.
© by Uwe Lammers, 2006
Also, ich finde, dieser Leseempfehlung lässt sich nur recht wenig anfügen. Man mag vielleicht Anstoß an der Gegenwart von Moores Lebensführung nehmen, von der ich kursorisch mal gehört habe, aber das ändert durchaus nichts daran, dass dieses Buch kritisch, höchst lesenswert und unterhaltsam ist und eine Menge Informationen enthält, die man auf anderem Wege nur schwerlich geboten bekommt. Eine erstklassige Möglichkeit jedenfalls, eindimensionale Klischees im Kopf zu entrümpeln. Und wie ich stets zu sagen pflege: Wir leben in dem Zeitalter, in dem es uns beispiellos leicht möglich ist, umfassende Informationen zu erlangen. Jedes frühere Zeitalter hätte uns darum beneidet. Wer so dumpfbackig ist, dass er Information für Anstrengung hält und sich lieber von solchen Quellen fernhält, der muss sich nicht wundern, wenn er ideologisch vernagelt wird und die Welt völlig falsch versteht.
Informiert euch, Freunde, und ich denke, ihr habt einen enormen Vorteil davon.
In der kommenden Woche hüpfen wir wieder zurück in einen opulenten Roman, und der fängt an in einem buchstäblich revolutionären Jahr: 1968. Aber dabei bleibt es nicht.
Mehr dazu am kommenden Mittwoch.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 By the way: im Irak hat diese Politik nach den Angaben des Deutschlandfunks bis Mitte Juli 2005 zu 39000 zivilen Todesopfern geführt, inzwischen dürfte die Zahl die 50000 deutlich überschreiten, von mehr als 2000 amerikanischen Soldaten einmal ganz zu schweigen. Über Afghanistan liegen mir keine Verlustzahlen vor.
2 Vgl. auch Rezension zu Michael Moore & Kathleen Glynn: „Hurra Amerika! Adventures in A TV Nation“. Die Rezension ist in Vorbereitung für den Rezensions-Blog.