Rezensions-Blog 51: Das Wing-4-Syndrom

Posted März 16th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

vor sechs Wochen machte ich euch auf eine der beunruhigendsten Dystopien der Science Fiction aufmerksam, die meiner Meinung nach zu Unrecht in den Dämmer des weit gehenden Vergessens gerückt wurde. Mit „Wing 4“ schrieb Jack Williamson einen bestürzenden Roman über den Kampf zwischen roboti­scher Perfektion und menschlicher Unvollkommenheit.

Wer den Roman inzwischen gelesen hat – eine äußerst lohnende Lektüre, lasst euch das noch einmal ins Stammbuch schreiben – , der wird sich vielleicht fra­gen: Wie ist es auch nur denkbar, dass es davon eine Fortsetzung geben kann?

Das habe ich mich ebenfalls gefragt, als ich das vorliegende Buch entdeckte. Aber ihr werdet, wenn ihr euch dieses ebenfalls recht dünnleibige Werk einver­leibt (dünnleibig, gemessen an den dicken Täuscher-Schwarten, die heutzutage den Buchhandel dominieren), schnell entdecken können, dass dünnleibig nicht mit gehaltlos gleichgesetzt werden kann. Das Gegenteil ist der Fall. Mit den Welten Malili und Kai im Sonnensystem der „Katze“ lernt ihr zwei Welten wie Tag und Nacht kennen, aufregende Protagonisten – und, ja, eine alte, Furcht er­regende Bedrohung.

Die Humanoiden von Wing 4. Die Herrscher der Galaxis.

Und wie die Konfrontation ausgeht, möchte ich nicht vorwegnehmen. Schnup­pert erst mal ins Thema rein:

Das Wing-4-Syndrom

(The Humanoid Touch)

von Jack Williamson

Moewig Science Fiction 3617

240 Seiten, TB (1983)

Übersetzt von Heinz Nagel

Sie sind doch nur eine Legende. Ein Kinderschreck. Etwas, womit sich der Schutztrupp wichtig machen möchte, um die alte Macht zurückzuerlangen, nicht wahr? Wer auf den Schiffsdecks von Kai glaubt denn noch an diese uralten Mythen von den schrecklichen Humanoiden?

Das ist die Hypothek, mit der der junge Keth Kyrone aufwächst, das einzige Kind des Schutztruppführers Kyrone, der zusammen mit seiner zweiten Frau Cyra Sair der letzte ist, der die einstmals machtvolle Organisation des Schutztrupps darstellt, der einst gegründet wurde, um die Menschen des Planeten Kai vor je­ner unermesslichen Gefahr zu warnen, die in den Tiefen des Kosmos drohte: vor den Humanoiden des Planeten Wing 4. Aber tausend Jahre sind eine lange Zeit, und das Gedächtnis der Menschen ist so schrecklich kurz…

Wir erinnern uns: in der fernen Zukunft der Menschheit, in der die Erde längst der Vergessenheit anheim gefallen war, stiegen neue Sternenreiche zu beschei­dener Blüte auf, zerfressen vom Gift der Rivalität und der ewig alten Geißel des Krieges. Ein genialer Wissenschaftler namens Warren Mansfield entwickelte in jenen Tagen voller Verzweiflung einen perfekten Roboter, den so genannten Humanoiden, auf dem Planeten Wing 4, wo ein rhodomagnetisches Gehirn mit überlichtschnellen Impulsen die Maschinen fernsteuerte. Sein erstes Gesetz be­sagte, dass die Humanoiden die Menschen vor Gefahren und Selbstzerstörung schützen und ihnen Glück bringen sollten. Sie sollten vor allen Dingen das menschliche Unglück und Leiden auslöschen. Später taten sie das mit einer Dro­ge namens Euphorid. Doch die Maschinen waren zu perfekt, und ihre unbarm­herzige Fürsorge entpuppte sich als entsetzliche Diktatur, die jede Freiheit er­stickte. Mansfields eigener Versuch, die Roboter aufzuhalten, war zum Schei­tern verurteilt.

Schließlich erreichten die Humanoiden auch jene Welt, auf der der unglückliche Wissenschaftler Clay Forester lebte, der selbst den Rhodomagnetismus ent­deckt hatte und dicht davor stand, Wing 4 mit rhodomagnetischen Geschossen zu zerstören. Auch er scheiterte, das maschinelle Friedensimperium der Huma­noiden dehnte sich nach seiner Niederlage immerzu weiter aus und erreichte sogar schon die Nachbargalaxis Andromeda.1

Doch die Sklaverei, die letzten Endes sogar imstande war, menschliche Mutan­tengehirne fernzusteuern, hatte offensichtlich Lücken. Denn lange nach dem ersten Erscheinen der Roboter gelang es Lance Mansfield, dem Enkel des unse­ligen Warren Mansfield, der unter der Obhut der Humanoiden leben musste, sein Schiff „Deliverance“ zu bauen und zu flüchten. Die Menschen der „Deliver­ance“ strandeten im Doppelsonnensystem der „Katze“, wo der Planet Malili von dem kleineren und kälteren Kai umlaufen wird. Doch während Malili zwar para­diesisch, aber wegen des Virus der Blutfäule unbewohnbar war, mussten sich die Raumfahrer auf Kai einrichten, wo sie große, bunkerartige Städte errichte­ten, deren interne Gliederung nach den Schiffsdecks vorgenommen wurde. Führende Organisation war der Schutztrupp, denn es war allen klar, dass die fürsorglichen Humanoiden irgendwann ihre Spur finden würden, dann musste man bereit sein.

Jahrhunderte vergingen.

Die Städte zerstritten sich, nukleare Kriege wurden geführt, Hunger, Armut und Degeneration breiteten sich aus. Schließlich gingen die Ressourcen zur Neige, und voller Verzweiflung griffen die Bewohner von Kai nach Malili aus, sterilisier­ten mit Neutronenwaffen Teile der Planetenoberfläche und versuchten hier, un­ter Lebensgefahr, Rohstoffe abzubauen. Dabei war es ihnen völlig gleichgültig, dass sie damit den Lebensraum einer anderen humanoiden Rasse zu zerstören begannen – der wilden, nackten Leleyo, die von einem ganzen Netz kryptischer Geheimnissen umwittert waren.

Und fern im All lauerten und lauschten die Humanoiden. Sie fingen die Emissio­nen der Neutronenexplosionen auf und sandten schließlich ihre gebirgshohen Schlachtschiffe aus, um den kriegerischen Menschen ihren Segen des ultimaten Friedens zu bringen. Doch als sie erschienen, gab es, wie gesagt, nur noch weni­ge, die überhaupt daran glaubten, dass sie mehr als ein ferner Schatten der Le­gende waren. Und die Schutztrupp-Angehörigen befanden sich auf der Flucht, des Mordes bezichtigt.

Denn es waren über tausend Jahre vergangen. Und die Humanoiden hatten ge­lernt. Unter anderem gelernt, dass Lüge nicht im Widerstreit mit dem Ersten Gesetz stand…

Mit „The Humanoid Touch“ – sehr unglücklich, wenn auch sehr durchsichtig mit „Das Wing-4-Syndrom“ übersetzt – kehrt Jack Williamson auf spektakuläre Wei­se zurück in jenes Universum seines monströsen Robotersterns Wing 4. Wenn­gleich das auch nicht nach „30 Jahren“ geschieht, wie der Klappentext groß­sprecherisch behauptet, sondern nach 18 (der Roman wurde 1980 geschrieben, der Ursprung war, wie gesagt, 1962). Leider ist die Übersetzung auch reichlich mit Druckfehlern gesättigt, darüber hilft auch das – zu viel verratende – Nach­wort von Hans-Joachim Alpers nicht hinweg. Das schmälert dann den Lesege­nuss durchaus.

Da die Roboter erst recht spät im Roman auftauchen, konzentriert sich die Schilderung der Handlung zunächst auf die miteinander verflochtenen Völker der Menschen von Kai und der Leleyo von Malili (unübertroffen sanft und ero­tisch die Schilderung der Leleyo Nera Nyin!). Und hier gibt es vieles zu entde­cken.

Wenn man den leider sehr kurzen Roman langsam und behaglich liest, wie es sich gehört – er ist einfach zu gut, um ihn rasch zu verschlingen, dabei gingen viele Anspielungen schlicht verloren – , dann stellt man faszinierende Dinge fest. Die fest gefügte, hierarchische Gesellschaft von Kai, die sehr von militaristi­schen Traditionen und Militärhochschulen geprägt ist, kommt ausgesprochen schlecht weg. Parallelen zu Militärakademien wie West Point in den USA sind hier so deutlich, dass man Williamson wegen der Tiefgründigkeit seiner Gedan­ken wirklich bewundern muss. Noch heute führt solche Glorifizierung von solda­tischer Ehre dazu, dass junge Menschen dermaßen verbogen und ihre Möglich­keiten beschnitten werden, bis aus ihnen mörderische Soldaten und, im schlimmsten Fall, Kriegsverbrecher werden. Gesellschaften, die so geprägt sind, das strahlt der Roman überdeutlich aus, sind in sich krank und ungesund.

Das Gegenbild ist die krass „natürliche“ Gesellschaft von Malili, jene Gesell­schaft, die die Menschen von Kai gerade zu vernichten im Begriff sind. Hier übertreibt Williamson zwar ein wenig, aber gleichzeitig thematisiert er sowohl Erstkontakt als auch die Vernichtung indigener Kulturen und der Natur an sich, wie sie auf unserer Welt im Spannungsfeld von „Erster Welt“ und „Dritter Welt“ nach wie vor auf der Suche nach Ressourcen unablässig vorkommen. Auch hier ist Williamson extrem zeitgemäß und kritisch, und selbst nach 20 Jahren, die seit dem Erscheinen dieses Buches inzwischen verstrichen sind, hat die reale Menschheit nicht gelernt, dieser Selbstdestruktion vorzubauen. Bedauerlich genug.

Und dann die Humanoiden.

Mein Gott, die Humanoiden.

Als zum ersten Mal die schnurrenden Maschinenstimmen sagen: „Zu Ihren Diensten“, da läuft es dem wissenden Leser eisig den Rücken herunter, und er spürt den erbarmungslos-freundlichen Griff dieser schwarzmetallenen Amei­sen, die allgegenwärtig sind, nie schlafen müssen und nie in ihrer Aufmerksam­keit nachlassen. Durch einen Humanoiden verhört zu werden, dessen starre Miene man nie durchschauen kann, ist einer der größten Alpträume, die Wil­liamson je erdacht hat, und man kann ihn in diesem Roman erleben.

Am Schluss, als sich alles auf die Frage zuspitzt, ob die Humanoiden alles Leben im System der Katze unterwerfen werden, da muss man sich ernstlich fragen, ob das alles so schrecklich ist, wie es scheint. Denn die Menschen von Kai sind so offensichtlich wahnsinnig, dass eine Nervenheilanstalt der richtige Ort für sie ist.

Nur muss er dann von schwarzen Robotern geführt werden?

Der Schauder bleibt bestehen. Und der Leser denkt sich: Manche Alpträume enden wahrhaft nie.

Dennoch ist der Roman eine der wichtigsten Dystopien der SF, ebenso wie sein Vorgänger, und es ist schade, dass er heute allgemein so sehr vergessen ist. Er ist vielleicht aktueller, als man glauben mag…

© by Uwe Lammers, 2005

Ja, es ist in der Tat inzwischen mehr als ein Jahrzehnt her, dass ich diesen Ro­man rezensiert habe – und dennoch empfinde ich ihn nach wie vor als ein fun­kelndes Schmuckstück in meiner umfangreichen Buchsammlung. Sehr lesens­wert und nachdenklich stimmend, nicht zuletzt in Zeiten eines scheinbar un­endlichen „Krieges gegen den Terror“ und des Hasses gegen alles Andersartige, wie wir es vielerorts in unseren Tagen erleben können.

In der kommenden Woche kümmern wir uns um einen Alptraum völlig anderer Art. Dort gehen Zeitgeschichte, fiktive Personen aus Detektivromanen und rein phantastische Zutaten eine mehrhundertseitige Symbiose ein, die mich in ihren Bann zog, auch wenn ich das Zentralthema normalerweise gar nicht schätze… Vampire...

Mehr dazu in einer Woche an dieser Stelle.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Dies ist Thema des ersten Romans „Wing 4“, erschienen im Jahre 1962. Vgl. dazu auch den Rezensions-Blog 45 vom 3. Februar 2016.

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