Liebe Freunde des OSM,
was kümmert uns geschichtsvergessene Menschen der Gegenwart, die wir nicht mal unsere eigene Demokratie zu stabilisieren vermögen (vom Weltklima mal ganz zu schweigen) denn wohl das 12. Jahrhundert VOR Christus? Das ist von unserer Gegenwart roundabout 3000 Jahre entfernt. Wenn man sich mal anschaut, wie schnell tote Leute der Gegenwart vergessen werden, wie sehr an Museen und Archäologenstellen gespart wird, dann muss man vielleicht unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass uns diese Zeit wirklich so gar nichts mehr zu sagen hat.
Tja, Freunde, großer Fehler!
Gewiss, ich bin voreingenommen. Ich bin Historiker, und mein ideeller Schwerpunkt liegt klar vor der klassischen Antike, die traditionell spätestens um 800 vor Christus ansetzt. Die alten Pharaonen sind schon seit Kindesbeinen an gewissermaßen „best friends“ gewesen. So gesehen MUSS ich das Buch, das ich heute vorstelle, ja wohl über den grünen Klee loben.
Das ist aber nicht alles.
Ja, es ist ein tolles Buch. Ein rasantes, packendes Leseabenteuer, voller Rätsel und vertrackter Fährten, die ins Nirgendwo zu führen scheinen, voller Fragen und offener Stellen im historischen Gewebe. Aber das alleine würde für meinen begeisterten Rezensions-Kommentar nicht hinreichend sein.
Es gibt hier noch eine andere Ebene, die der Verfasser Eric H. Cline mit voller Absicht mit heranzieht. Und da ist er auf nachgerade bestürzende Weise von einer brennenden Aktualität, dass es mir manchmal den Atem verschlug.
Ich schicke euch also auf eine historische Achterbahnfahrt in eine sehr lange verflossene Epoche. Doch am Ende seht ihr vielleicht ganz wie Cline und ich, dass uns dieses Buch gerade heute sehr viel zum Nachdenken aufgibt.
Vorhang auf für ein phantastisches Leseabenteuer:
1177 v. Chr. Der erste Untergang der Zivilisation
(OT: 1177 b.c. The Year Civilization collapsed)
Von Eric H. Cline
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2021
344 Seiten, TB
Aus dem Amerikanischen von Cornelius Hartz
ISBN 978-3-534-27330-0
Es mag sonderbar klingen, aber die Lektüre dieses Buches, die mich gerade mal rasante neun Tage Lesezeit kostete, fühlte sich auf verblüffende Weise wie eine Art von Heimspiel an. Das ist wohl ein Faktum, das ich erklären muss, da es wirklich nicht eben nahe liegend ist.
Was verbinden wir Mitteleuropäer des frühen 21. Jahrhunderts mit der mediterranen Welt des 12. Jahrhunderts vor Christus, also einer Zeit, die locker dreitausend Jahre in der Vergangenheit liegt? Und, vielleicht noch wichtiger, wieso ist dieses Buch auf dramatische Weise brandaktuell und hat uns Lehren zu erzählen, die unsere Gegenwart zentral berühren? Und, ja, warum fühlte ich mich darin vom ersten Moment an so heimisch?
Fangen wir mit der ersten Frage an, um dann mit der dritten fortzufahren und uns schließlich der im wahrsten Sinne des Wortes zentralen Frage zu nähern, die in eine klare Leseempfehlung meinerseits münden wird.
Die historischen Laien werden ihre Informationen aus lange zurückliegendem Schulunterricht haben, vielleicht später noch ergänzt, bei Interesse, durch historische Dokumentationen. Möglicherweise werden sie sich auch an das Alte Testament entsinnen, wenn ich ein paar Triggerworte fallen lasse: Ägypten. Babylon. Jerusalem. Der Exodus der Israeliten. Das könnte man schlaglichtartig mit dem 12. Jahrhundert vor Christus verbinden, und alles hat definitiv etwas damit zu tun. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit, sondern nur ein zartes Schaben an der Oberfläche.
Um das Bild klarer zu entwickeln – etwas, was Cline schrittweise tut und bei dem er uns eine ganze Reihe historischer Persönlichkeiten, Völker und Reiche sowie deren gegenseitige Beziehungen zwischen dem 15. Jahrhundert vor Christus und etwa dem Jahr 700 vor Christus näher bringt – , dafür brauchen wir noch mehr.
Ich ergänze das Panorama mal etwas: Wir finden hier beispielsweise auch das archaische Griechenland, dominiert vom Stadtstaat Mykene. Wir treffen auf ein Volk, das damals „Keftiu“ genannt wurde. Seit dem 19. Jahrhundert kennen wir es eher unter dem prominenteren Namen Minoer – die zur damaligen Zeit ein Großreich auf Kreta errichtet hatten und weite Teile des östlichen Mittelmeerraumes dominierten. Wir lernen Stadtstaaten kennen, hören von Qatna, Ugarit, Megiddo (das biblische Armageddon). Wir reisen ins hethitische Großreich, das erst im 19. Jahrhundert wieder entdeckt wurde und im Herzen Anatoliens lokalisiert wird. Dann wäre da beispielsweise noch Zypern, Wilusa (das wir eher unter dem Namen Troja kennen … ah, da klingelt wieder etwas? Sehr gut!). Dann wäre da die Festungsstadt Kadesch, Lachisch, das Reich von Mitanni, die Assyrer …
Ich soll aufhören, es ist zu verwirrend? Nun, das ist nicht zu leugnen. Aber vielleicht deutet schon diese unvollständige Aufführung all der Orte, Reiche und Völker, die hier interagieren, hinreichend an, dass man das schlichte Schwarzweißdenken am besten sofort ad acta legen sollte – das ergibt hier wirklich überhaupt keinen Sinn.
Wenn wir uns also mal von solchen halberinnerten Begriffen, Orten und Kontexten lösen, die uns vielleicht im Kopf herumschwirren, ob nun aus der Schule oder historischen Dokumentationen, dann behalten wir diese Details im Hinterkopf und kommen zu meinem persönlichen Zugang zu diesem Buch.
Wer mich schon länger kennt, weiß um mein intensives Interesse an der alten Antike. Während die klassische Antike auch im universitären Kontext bei der griechischen Hochzivilisation ansetzt, also allerfrühestens bei den Vorsokratikern etwa um 800 vor Christus, lag mein Interessenfokus schon immer sehr viel früher. Ich war bereits in der Grundschule fasziniert vom ägyptischen Staatswesen der Pharaonen, und da landen wir letztlich bereits im dritten vorchristlichen Jahrtausend. Schon als Schulkind verschlang ich C. W. Cerams „Götter, Gräber und Gelehrte“, und in gewisser Weise ist Eric Clines sehr leicht lesbares und extrem gut übersetztes Buch gewissermaßen die niedrigschwellige Neuversion dessen – mit einem entscheidenden Unterschied, der dann die dritte Frage tangiert. Ich komme darauf.
Tatsache ist jedenfalls, dass ich, als ich dieses Buch zu lesen begann – das fing schon beim Schmökern der „Dramatis Personae“ an (! So heißt das wirklich bei ihm, und mit Recht!), die Cline auf fünf Seiten (!) auflistet – , auf unglaublich viele vertraute Namen stieß.
Das waren nicht nur ägyptische Pharaonen. Es waren auch assyrische Herrscher, babylonische Regenten, hethitische Herrscher, die mir alle aus jahrzehntelanger Lektüre historischer Werke und Aufsätze so vertraut waren, als wenn sie gewissermaßen im Nachbarhaus lebten. Zahlreiche Kontexte und Verbindungslinien, die Cline zog, ob nun von den Hethitern zu den Mitanni, von Ramses II. zu den Israeliten, ob er über israelitische Propheten und Stammväter der Bibel sprach oder über die legendären und nach wie vor von Geheimnis umwitterten „Seevölker“ …
Seite für Seite, manchmal Absatz für Absatz aktivierte er bei mir alte Erinnerungen. Und ich erzähle euch sicher nichts Neues, zumal, wenn ihr Serienfans seid: Wenn ihr wirklich einen Serienkosmos kennt und die dort handelnden Protagonisten, dann ruft die bloße Namensnennung einen ganzen Schwall an Erinnerungen hervor. Mir ging das hier ganz genauso … und was für einen nicht so in der Materie steckenden Leser vielleicht einschüchternd, abschreckend oder verwirrend sein mochte, stellte für mich gar keine Lesehürde dar, ganz im Gegenteil. Bei mir wurde umgehend die Neugierde befeuert, und zwar gar mächtig.
Kommen wir zur dritten und wichtigsten Frage: All diese Ereignisse, die Cline hier aus schuttübersäten Ruinenhügeln, vergangenen Hochkulturen, versteckten Grüften und kryptischen Inschriftentexten destilliert, all das ist so unendlich lange her, roundabout dreitausend Jahre, wie gesagt … wie um alles in der Welt sollte das also für uns irgendeine Relevanz besitzen?
Die Frage ist berechtigt. Aber sie wird sehr wichtig, wenn man dem Pfad folgt, den der Autor uns durch das verwirrende Dickicht der Vergangenheit bahnt. Da er davon ausgeht, dass die meisten dieser Kulturen und insbesondere die handelnden Akteure bis auf wenige Ausnahmen völlig unbekannt sind, legt er, Archäologe durch und durch, nach und nach in drei umfangreichen Kapiteln die Vergangenheit schichtenweise frei, berichtet von den bekannten Akteuren und dann davon, wie historisch die unbekannteren ausfindig gemacht wurden.
Die Entdeckung Trojas durch Heinrich Schliemann ist zentral, ebenso alles, was sich mit dem Zweistromland Mesopotamien, Babylon sowie Assyrien verbindet. Es geht um den Ketzer-Pharao Echnaton, um Nofretete und Tutanchamun, um den Trojanischen Krieg und Unterwasserarchäologie. Beispielsweise. Es geht natürlich noch um sehr viel mehr, aber ich möchte ja auch nur die Neugierde auf das wecken, was hier noch alles zu finden ist.
Erst in dem Moment, wo er gewissermaßen alle „Figuren“ in Stellung gebracht und ihre diplomatischen Verbindungen und Handelsverknüpfungen dargestellt hat, sodass man das komplexe kosmopolitische Szenario einer prosperierenden vernetzten Gesellschaft der damals bekannten mediterranen Welt klar vor dem Auge hat, erst da beginnt der Archäologe und Dozent Cline didaktisch geschickt in Kapitel 4 „Das Ende einer Ära: das 12. Jahrhundert v. Chr.“ damit, sich der Katastrophe an sich zuzuwenden. Denn im 12. Jahrhundert endet das meiste von dem, was er beschrieben hat: Herrscherhäuser stürzen in sich zusammen. Städte werden niedergebrannt. Massive Völkerverschiebungen verändern die Landkarte. Grenzen werden Verfügungsmasse. Es kommt zu Verschwörungen, Handelsboykotten, Piratenüberfällen.
Und diese ausführlich dargestellte multipolare Weltordnung des 12. Jahrhunderts, die sich über den größten Teil des heutigen Nahen Ostens und des östlichen Mittelmeerraumes erstreckt, geht unter. Es ist nicht übertrieben, hier von einem „Ende der Zivilisation“ zu reden. Zeitgenossen haben das ohne Frage genau so erlebt.
Und da mündet diese historische Erzählung, mit ein wenig gedanklicher Transferleistung, in eine beängstigende Parallele unserer Gegenwart: Genau wie im 12. Jahrhundert ist auch unsere heutige Zeit globalisiert. Staaten interagieren im internationalen Handel. Es gibt wichtige Rohstoffquellen, die exportiert werden, um in anderen Staaten zu deren Wirtschaftsproduktion beizutragen. Die auf diese Weise geschaffenen Waren fließen in einen Wirtschaftskreislauf, der zahlreiche weitere Länder betrifft und Abhängigkeiten schafft.
Was geschieht, wenn aus irgendeinem Grund auf einmal ein Wirtschaftsembargo – oder anhaltende Piratenangriffe, die Lieferketten stören – dieses fragil austarierte Gewebe in Unordnung bringen, ist uns aus der Gegenwart nur zu vertraut. Im 12. Jahrhundert war es Kupfer, das wesentliche Teile des Wirtschaftszyklusses am Laufen hielt. Dynastische Verbindungen – heute vergleichbar mit der Verbindung transnationaler Konzerne – hielten die Kontaktschwellen niedrig und verhinderten Turbulenzen zwischen den beteiligten Nationen.
Als auf einmal im 12. Jahrhundert diese dynastischen Verbindungen empfindlich gestört wurden und es zudem zu wirtschaftlichen Komplikationen kam, möglicherweise assistiert durch klimatische Veränderungen (kommt uns das irgendwie vertraut vor? Ich wusste es!), Missernten, soziale Unruhen, Regierungsumstürze und Naturkatastrophen sowie vielleicht dadurch ausgelöste starke Migrationsbewegungen größerer Völkergruppen, da kollabierte im Laufe weniger Jahrzehnte das Gesamtsystem.
Große Staaten gerieten in die Systemkrise. Handelspartner verschwanden von der Bildfläche. Handelsstädte wurden zerstört. Embargos erschwerten traditionelle Handelsketten. Und es tauchten fremde Völkerscharen auf, die die Versorgungslage weiter verunsicherten und Chaos im Gefolge hatten.
Wenn wir von diesen Punkten einmal in die Gegenwart schauen, müsste man wirklich politisch blind sein, um hier nicht massive Verbindungspfade zu sehen, die die damalige vernetzte Weltszenerie mit der heutigen globalisierten Kultur in Verbindung zu bringen. Stellen wir uns einfach mal vor, dass – wie etwa in den 70er Jahren – die Energieträger, auf denen unser aller Wirtschaftsleben basiert, nicht mehr zur Verfügung stehen. Damals war es das Erdöl, das solche Phänomene wie autofreie Sonntage und leer gefegte Autobahnen in Zentraleuropa schuf. Diese Blockade war von kurzer Dauer. Aber stellen wir uns vor, von heute auf morgen wäre, etwa durch massive Cyberattacken, das globale Datennetzsystem unbrauchbar. Ganze Wirtschaftszweige würden kollabieren, Staaten unendliche Geldwerte verlieren. Regierungen könnten stürzen. Lieferketten brächen zusammen, Versorgungsprobleme, vielleicht Hungersnöte entstünden … und so weiter und so fort.
Wir befinden uns heute womöglich in einem Zeitalter, in dem wir uns auf die Schulter klopfen und glauben, wir seien sehr viel resilienter als die Menschen vor dreitausend Jahren, aber ich denke, das ist ein leichtfertiger Trugschluss. In Wahrheit wollen wir recht eigentlich nur nicht glauben, wie fragil, wie anfällig unsere Systeme, unsere Regierungen und die Wirtschaft gegen solche Chaosereignisse sind.
Natürlich, uns drohen vielleicht keine ominösen „Seevölker“ … aber wir haben dafür autokratische, unkontrollierbare Staatslenker, es gibt massive antidemokratische Tendenzen in zahlreichen Staaten. Politisches Eintagsfliegendenken ist weit verbreitet, das zu aktionistischem, kurzsichtigem und eng begrenztem Handeln führen kann.
Wir leben in einer Zeit der Überbevölkerung und der massiven Dysfunktionalität der Verteilung von Waren und Dienstleistungen. Das wiederum hat zur Folge, dass Migrationsbewegungen aus den ärmeren oder auch von Krieg, Dürren und ähnlichen Phänomenen heimgesuchten Ländern der Welt in die Wohlstandsregionen immer stärker zugenommen haben. Und die hiesigen Staatenlenker betreiben mehrheitlich Nabelschau und Abwehr, statt die Probleme dort zu bekämpfen, wo sie entstehen, etwa durch Wirtschaftsförderung, Medikamententransfer, humanitäre Intervention, Alphabetisierungskampagnen usw.
So gesehen ist uns das 12. Jahrhundert vor Christus vom Gesamtzusammenhang absolut nicht so fern, wie wir uns das anfangs vielleicht einbildeten. Es ist ein von Eric Cline rekonstruiertes, beunruhigendes Spiegelbild unserer Gegenwart – in vielen Zügen recht fremdartig anders, aber tendenziell äußerst ähnlich.
Ich pflege immer zu sagen, dass sicherlich auch die ägyptischen Herrscher, die römischen Cäsaren und die Inkaregenten glaubten, ihre Staaten seien kulturell so hoch entwickelt und so machtvoll, dass sie doch unmöglich untergehen könnten. Das hat der Kapitän der R.M.S. TITANIC auch gedacht: Dieses Schiff kann doch nicht untergehen, es ist unsinkbar.
Wir wissen alle, was passiert ist.
Und das ist eine der zentralen Lehren aus diesem Buch: Was Menschen erschaffen, und mag es noch so machtvoll und über Jahrhunderte dauerhaft sein, das kann auch von ihm und den Unbilden des Schicksals vernichtet werden. Die großen Reiche der Vergangenheit sind heute alle Staub und Ruinen. Wer sind wir, dass wir so vermessen denken, uns könne das nicht ebenfalls widerfahren?
So betrachtet ist Eric Clines phantastisches Buch nicht nur ein Blick in eine farbenprächtige, vielfältige frühe Ära der Globalisierung, sondern auch zugleich ein Aufruf an uns in der Gegenwart, wachsam zu sein und die Störzeichen zu erkennen, um einer Entwicklung gegenzusteuern, die unser Schicksal dem der frühen Hochkulturen möglicherweise angleichen könnte.
Als schöne visuelle Ergänzung kann ich an dieser Stelle übrigens die vierteilige GEO EPOCHE-DVD „Was die Bibel verschweigt“ (2005) empfehlen, die ich parallel zur Lektüre angesehen habe. Beides ergänzt sich auf hervorragende Weise.
Unbedingte Leseempfehlung von mir!
© 2024 by Uwe Lammers
In der kommenden Woche mache ich mal wieder viele, viele Worte, ohne recht eigentlich ein neues Werk vorzustellen. Der Blogartikel 500 stellt dann eine Übersicht über die bisher veröffentlichten Beiträge der Rezensions-Blogs dar, aufgegliedert wie immer nach den einzelnen thematischen Rubriken.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.