Liebe Freunde des OSM,
man verzeihe mir, wenn ich den Romantitel in der Blogüberschrift korrigiert wiedergebe. Auf dem Buch steht nämlich tatsächlich (falsch!): „Der Fluch von Baskerville“ (vgl. hierzu auch unten Fußnote 2). In der Tat scheint auf dem Geschlecht der Familie Baskerville ein Fluch zu liegen, das ist schon so seit den Tagen von Sir Arthur Conan Doyle so. Jahrzehntelang wurde „Der Hund der Baskervilles“ notorisch falsch in Verlagsprogrammen und auf Titelblättern als „Der Hund von Baskerville“ wiedergegeben. Sicherlich habe ich das schon verschiedentlich kritisiert, da bekanntlich Baskerville kein Ortsname ist (auch wenn „Baskerville“ wirklich wie „Brazzaville“ klingt, und das ist nun in der Tat ein Ortsname), sondern ein Familienname.
Es gibt solche notorischen Fehler auch auf anderen Feldern. Besonders beliebt ist bei Leuten mit solidem Halbwissen auch der Fehler, den Großen Sphinx von Gizeh (bekanntlich einem männlichen Löwen nachgebildet, also klar maskulin) als „die Sphinx“ zu beschreiben. Doch das nur so am Rande.
Haben wir es hier also mit einem Wiedergänger des legendären Ungetüms von Dartmoor zu tun? Mitnichten. Ich bin fast geneigt zu sagen: leider. Das ist im Wesentlichen ein Fall von Rosstäuschung, die auf deutsche Verlagspolitik zurückzuführen ist. In Wahrheit geht es – neben dem obskuren Hund – um etwas völlig anderes.
Worum nun genau? Nun, um das herauszufinden, empfehle ich euch, einfach mal weiterzulesen:
Der Fluch von Baskerville
(OT: The Revenge of the Hound)1
von Michael Hardwick
Blitz-Verlag 2004
Sherlock Holmes Criminal Bibliothek Bd. 1
Aus dem Englischen von Ralph Sander
272 Seiten, TB, limitierte Auflage: 999 Exemplare
Keine ISBN
Man schreibt das Jahr 1902 in England. Queen Victoria, die über ein halbes Jahrhundert lang die Geschicke des Landes lenkte, ist im Vorjahr verstorben, und nun soll ihr Edward VII. auf den Königsthron folgen. Die Krönungszeremonie ist jedoch vertagt worden … und nicht nur im Kreise der erlauchten adeligen Häupter Europas hängt der Haussegen deswegen schief, sondern auch in der Baker Street 221B, wo der Detektiv Sherlock Holmes und sein Adlatus Dr. John Watson ihre Residenz haben.
Gründe für diese angespannte Situation sind verschiedene Faktoren. Ein wichtiger ist Watsons neue Bekanntschaft mit einer jungen Amerikanerin Coral Atkins. Der zweimal schon verheiratete Doktor spielt nun mit dem Gedanken, ein drittes Mal in den Stand der Ehe zu treten – was Holmes zum Anlass nimmt, mürrisch seinerseits mit dem Gedanken an den Ruhestand zu spielen.
Dazu kann es vorläufig allerdings nicht kommen, denn in Hampstead Heath scheint ein monströses Ungetüm sein Unwesen zu treiben, dem Vernehmen nach ein gewaltiger Hund, dem legendären „Hund der Baskervilles“2 nicht unähnlich. Zu dumm aber auch, dass Watsons entsprechender Bericht bereits veröffentlicht worden ist. Holmes nimmt die Angelegenheit jedenfalls nicht ernst. Dass es sich dabei um einen verheerenden Fehler handelt, soll er erst später entdecken.
Dann werden bei Ausgrabungen in London, zu denen Holmes aus historischen Interessegründen eilt, die Gebeine des englischen Diktators Oliver Cromwell gefunden … und prompt gestohlen. An der Ausgrabungsstelle treten zwei weitere Handlungspersonen in Erscheinung, ein Dr. Garside, der gern ein britisches Museum errichten möchte, aber über mangelnde Finanzierung klagt, und ein Lord Belmont.
Auch diese Geschichte beunruhigt Sherlock Holmes eher nicht. Auch das ist eine Fehleinschätzung, die er bereuen wird.
Dann folgt Dr. Watsons Reise auf den Kontinent in Sherlock Holmes´ Auftrag. Auf der gemeinsamen Rückfahrt werden die beiden dann Zeugen, wie ein asiatischer Steward über Bord geht und mit knapper Not wieder gerettet werden kann – was nichts hilft, da der Unglücksfall seine Ermordung vertuschen sollte. Der Täter kann nach der Landung entkommen, und Holmes macht seine Verfolgung zu seiner Privatangelegenheit … der er aber nur bedingt nachkommen kann, weil sein Bruder Mycroft ihn allen Ernstes in eine delikate Affäre des Königs mit hineinzieht.
John Watson, von Holmes in dieser Angelegenheit mit einem Botendienst betraut, lernt bei hierbei eine faszinierende weitere Frauenpersönlichkeit kennen, Mrs. Lavinia Glanvill, die sich als recht enge Bekannte von Lord Belmont entpuppt. Und ehe der ermittelnde Detektiv und sein Gefährte Watson recht verstehen, was eigentlich geschieht, zeigt sich, dass all diese scheinbar unzusammenhängenden Ereignisse in Wahrheit ein gemeinsames Muster bilden – ein Muster, das tödlich ist und geeignet scheint, das Empire in seinen Grundfesten zu erschüttern.
Und dies ist eindeutig ein Fall für Mr. Sherlock Holmes – von wegen Ruhestand …!
„Der Fluch von Baskerville“ ist der zweite Roman, den ich von Michael Hardwick las, und ich kann wirklich nur den Hut ziehen vor der unglaublichen Belesenheit des Verfassers und seiner akribischen Detailfreude, was das frühe England des 20. Jahrhunderts angeht. Zwar durchbricht Hardwick mit diesem 1987 erstmals erschienenen Roman die übliche Darstellungsweise von Sir Arthur Conan Doyle, indem er ihn relativ präzise datiert, aber es muss zu seiner Verteidigung eingestanden werden, dass es keine andere Möglichkeit gab. Die Krönungsgeschichte Edwards VII. ist eben klar datiert und hier so zentral, dass man nicht ausweichen kann.
Der deutsche Titel führt freilich vollständig in die Irre … es stimmt, dass gelegentlich auf den Doyle-Roman „Der Hund der Baskervilles“ Bezug genommen wird, doch wäre es sehr viel wirkungsvoller gewesen, dem Buch den originalen Titel zu geben – es ist zu offenkundig, dass der deutsche Titel Kunden fangen soll. Doch damit kann man leben. Weniger professionell ist, wie schon vermerkt, das Verschweigen des Originaltitels, zumal aufgrund der Tatsache, dass man ja klar auf die Übersetzung aus dem Englischen verweist (und noch blamabler ist, dass nicht mal im Eintrag bei der Deutschen National-Bibliothek auf den Originaltitel verwiesen wird, da hat jemand klar geschlampt).
Ebenfalls gespart wurde offenkundig am Lektorat. Es fiel mir primär daran auf, dass jeder Apostroph durch ein « ersetzt worden ist, wie es im Roman für die wörtliche Rede üblich ist. Da hätte man vielleicht doch professioneller arbeiten können. Ich glaube, die Drucker in Drogowiec in Polen trifft daran keine Schuld, das Manuskript kam wohl schon so verunstaltet dort an.
Inhaltlich hatte ich ein paar Probleme mit Holmes plötzlichem Interesse an Oliver Cromwell. Gerade wo Holmes doch verschiedentlich betont, dass er seinen Geist mit unwichtigen Informa-tionen nicht belastet – was in „Studie in Scharlachrot“ zu Watsons berühmtem Rätselraten um Holmes´ Profession führt – , scheint dieses Interesse zu sehr romanzielgeleitet zu sein, als dass man es originär holmsianisch nennen könnte. Anderer-seits muss natürlich eingestanden werden, dass der Roman sonst kein Zentrum besessen hätte.
Auch ein bisschen gezwungen kam mir der ständige Bezug auf frühere Fälle von Holmes und Watson vor. Während die Einbindung des Falles der Frances Carfax durchaus gelungen ist3, war die Fährte zur böhmischen Affäre mit Irene Adler im Grunde genommen störend. Und ständig mit begeisterten Strand Magazine-Lesern und -Leserinnen konfrontiert zu werden, das wirkte auch ein wenig irritierend … selbst wenn Hardwick auf diese Weise natürlich eine raffinierte Verflechtung zwischen Realität und Fiktion herbeiführt, was grundsätzlich begrüßenswert ist.
Wer ferner von dem Roman die Rasanz erwartet, die etwa den Guy Ritchie-Verfilmungen oder der Sherlock-Serie von Mark Gatiss bei der BBC innewohnt, der sollte seine Ansprüche deutlich herunterschrauben, denn sie werden enttäuscht werden. Die Atmosphäre des Romans wird vielmehr von der geduldigen Ruhe eines ausführlichen Holmes-Abenteuers a la Conan Doyle getragen. Alles entwickelt sich recht behäbig, und viele Handlungsfäden laufen erst ziemlich spät zusammen … dann aber umso rascher, bis sie schließlich auf dem Highgate Cemetery von London zusammenlaufen. Ein wenig schade fand ich die vergleichsweise zeitige Auflösung der Verschwörung … aber das mag jeder für sich selbst entscheiden. Für sechs Lesetage – so lange hat mich der Roman unterhalten – in die Holmes-Welt wieder einzutauchen und die feuchte, neblige Londoner Luft zu atmen, hat seinen Reiz. Ich werde diesen Roman also ungeachtet gewisser Defizite in guter Erinnerung behalten. Den deutschen Titel werde ich allerdings niemals mögen. Es geht einfach nicht um den „Fluch von Baskerville“, beim besten Willen nicht. Das ist nur Etikettenschwindel. Die restliche Geschichte ist jedoch reizvoll und der Lektüre wert.
Darum also: bei allen erwähnten Einschränkungen doch eine klare Leseempfehlung!
© 2016 by Uwe Lammers
Das klingt nach einem ziemlichen Gemischtwarenladen? Nein, das wäre ungerecht geurteilt. Abgesehen von all den Fehlern, die sich Verlag, Lektorat und Übersetzung zuschulden kommen ließen, ist die Geschichte an sich durchaus lesenswert inszeniert und lohnt eine Entdeckung, zumal für eingefleischte Fans von Sherlock Holmes.
In der kommenden Woche begleiten wir wieder die „Dream Maker“ bei den nächsten drei Abenteuern.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Im Impressum der deutschen Ausgabe aus redaktioneller Schlampigkeit nicht genannt!
2 Im Roman ständig als „Hund von Baskerville“ falsch bezeichnet – als wenn „Baskerville“ ein Ort wäre und nicht ein Familienname. Dies aus Holmes´ eigenem Mund falsch zu hören, zeugt von vollständiger Unsensibilität des Übersetzers, wiewohl er sonst solide Arbeit geleistet hat. Es spricht auch deutlich gegen das Lektorat, wenn man mir die Bemerkung gestatten möchte.
3 Wenn man sich hier freilich anschaut, wie Mike Ashley die Gesamtchronologie der Sherlock Holmes-Fälle – inklusive übrigens der Romane von Michael Hardwick, den vorliegenden eingeschlossen – vornimmt, kommt man ins Schleudern. Er ordnet Das Verschwinden der Lady Frances Carfax aus dem klassischen Holmes-Kanon chronologisch in den Sommer 1896 ein, also glatte 6 Jahre früher als im oben vorliegenden Roman. Vgl. hierzu die Holmes-Chronologie in Mike Ashley (Hg.): Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton, Bergisch-Gladbach 2003, S. 733. Auf S. 735 wird The Revenge of the Hound in den Juli 1902 verlagert, was wohl der Realität entspricht.