Rezensions-Blog 496: Der Colossus-Code

Posted Februar 19th, 2025 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wir leben im Zeitalter der Künstlichen Intelligenzforschung. Dies zu bestreiten, obwohl das vielen Leuten nicht schmeckt, wäre kleingeistig und wenig hilfreich. Ob KI Segen oder Fluch sind, ob sie mehrheitlich hilfreiche Instrumente sind oder ein Verderben, das das Ende der Menschheit einleiten würde, wenn sie sich je­mals ihrer selbst bewusst werden … diese Topoi sind schon lan­ge Teil der Science Fiction. Wohl jeder kennt die diabolische KI Skynet, die die Menschheit als überflüssig, ja, als Gefahr be­greift und einen nuklearen Krieg entfesselt, um sich ihrer zu entledigen. Und Alpträume ähnlich denen in den Terminator-Fil­men gibt es zuhauf. Jüngst erst begegnete uns die KI-Paranoia in Form des Films The Creator.

Aber das ist keine reine SF-Sache mehr, das beweist der heutige Roman eindeutig. Clive Cusslers Coautor Boyd Morrison, der stets in seinen Romanen den Fokus auf den Technikschwerpunkt verlagert, führt uns in diesem Werk zunächst in die tiefe Ver­gangenheit und stellt uns eine Geheimgesellschaft vor, die da­bei ist, die Geschicke der Menschheit zu lenken. Und einige An­gehörige dieser Gruppe, die man die „Neun Namenlosen“ nennt, denken, dass eine Künstliche Intelligenz namens Colos­sus die Lösung aller Probleme ist.

Und ohne das anfangs zu verstehen, wird Kommandant Juan Ca­brillo mit der Mannschaft der OREGON in die weltumspannen­den Intrigen der „Neun Namenlosen“ verstrickt. Herausgekom­men ist ein rasanter, packender Tech-Thriller, den ich ausdrück­lich als page-turner empfehle.

Neugierig geworden? Dann schaut weiter:

Der Colossus-Code

(OT: Shadow Tyrants)

Von Clive Cussler & Boyd Morrison

Blanvalet 0781

2018, 9.99 Euro

576 Seiten, TB

Übersetzt von Michael Kubiak

ISBN 978-3-7341-0781-8

Im Jahre 261 vor Christus wütet in Indien im Königreich Kalinga ein unerbittlicher Krieg, der schließlich vom Feldherrn Ashoka blutig entschieden wird. Doch dieser Sieg fordert einen hohen moralischen Preis. Ashoka entschließt sich nämlich aufgrund der Gräuel des Konflikts dazu, ein Friedensreich zu errichten und da­für zu sorgen, dass niemals wieder Macht in einer Hand vereint werden kann, um derartige Kriege möglich zu machen. Zu die­sem Zweck erschafft er den Verbund der „Neun Namenlosen“ (auf dem Klappentext falsch als „Neun Unbekannte“ geschrie­ben). Jeder von ihnen erhält eine Schriftrolle mit dem speziellen Wissen eines bestimmten Wissensgebietes und hat dies an­onym für die Zukunft zu bewahren. So erschafft er eine Macht­balance, die von Dauer sein soll.

Gegenwart: Ohne dass die Weltöffentlichkeit davon Kenntnis hat, existiert der Geheimbund der Neun Namenlosen noch im­mer. Die Führungspersönlichkeiten sind inzwischen allesamt ein­flussreiche Milliardäre, über den Globus verstreut, die in High­tech, Medienunternehmen und anderen Branchen die Fäden zie­hen. Ihr Ziel ist nach wie vor, globalen Frieden zu schaffen, doch innerhalb des Zirkels gibt es zwei Strömungen, was die Art und Weise der Erreichung dieser Ziele angeht. Anfangs ist das noch nicht so deutlich zu sehen, aber es führt rasch zu einer dramati­schen Konfrontation innerhalb des Machtzirkels.

Außerhalb ist davon nichts zu sehen, dort werden auf der öffent­lichen Bühne ganz andere Konflikte ausgetragen … wie es jedenfalls scheint. Das ändert sich allerdings sehr schnell – nur kann die Zeichen niemand wirklich begreifen, da die Ereignisse völlig zusammenhanglos scheinen.

18 Monate vor der Gegenwart verschwindet über dem Arabi­schen Meer ein Airbus A380 spurlos vom Radar.1 An Bord befan­den sich hochkarätige IT-Spezialisten sowie Adam Carlton, der Sohn des Medienmagnaten Xavier Carlton, der zu den Neun Na­menlosen zählt. Offiziell gilt das Flugzeug als abgestürzt, alle Besatzungsmitglieder als tot.

In der Gegenwart wird auf einer italienischen Werft ein Schiff sa­botiert und schwer beschädigt. Außerdem wird auf einer priva­ten Raketenplattform, Tausende Kilometer entfernt, ein Satelli­tenstart vereitelt. Irgendwelche Zusammenhänge stellt nie­mand her.

Annähernd zeitgleich treibt im Indischen Ozean ein scheinbar wrackreifer Frachter namens Goreno in Seenot und kreuzt hier den Kurs des Schiffes Triton Star, das zu einer Insel im Indischen Ozean unterwegs ist. Dessen Kapitän entschließt sich dazu, ver­lockt vom präsentierten Gold des Havaristenkapitäns, zu helfen, sich dann aber der Havaristen zu entledigen … dummerweise ist er sich nicht darüber im Klaren, dass er in Wahrheit in eine Falle geht.

Das Schiff ist die OREGON unter Kapitän Juan Cabrillo, die im CIA-Auftrag unterwegs ist, um Waffenschmuggel zu unterbinden … und tatsächlich wird nach der Überrumpelung der Triton Star-Besatzung das Nervengas Novitschok entdeckt, das offenbar auf den US-Stützpunkt Diego Garcia abgefeuert werden sollte. Das kann mühsam vereitelt werden … aber Diego Garcia wird annähernd zeitgleich durch einen rätselhaften elektromagneti­schen Puls aus dem Nirgendwo völlig gelähmt.

Cabrillo beginnt rasch zu ahnen, dass er hier einer größeren Sa­che auf der Spur ist, ohne indes die geringste Ahnung zu besit­zen, was wirklich gespielt wird. Er ist in den Machtkonflikt der Neun Namenlosen geraten. Die eine Seite dieses Konflikts strebt an, eine übermächtige Künstliche Intelligenz namens Colossus zu erschaffen, um der Welt Frieden zu geben – oder sie umfas­send zu versklaven. Andere Mächtige im Geheimbund argwöh­nen allerdings, dass sie damit die Büchse der Pandora entfes­seln würden und eine Waffe erschaffen helfen könnten, die sie nicht mehr kontrollieren können. Diese Kräfte versuchen, Colos­sus zu verzögern oder sogar zu zerstören.

Andere im Zirkel planen dagegen, gewissermaßen alternativ, über ein weitgehend schon existentes Satellitennetzwerk die globale Kontrolle zu erlangen und die Menschheit auf eine furchtbare Weise zu läutern, die womöglich Hunderte von Millio­nen Menschen umbringen könnte. Auch diese Bestrebungen werden aus dem inneren Zirkel behindert.

Klar ist nur eins: Wer auch immer dieses Rennen gewinnt, hat das Schicksal der Menschheit in der Hand. Aber wie soll man diese Mächte ausschalten, wenn man nicht einmal eine Ahnung davon hat, dass diese Gefahren überhaupt existieren? Das ist das Kernproblem des vorliegenden Romans, und es erhöht mas­siv die Spannung der Geschichte.

Draußen in der realen Welt folgt Juan Cabrillo mit seiner Crew den rätselhaften Spuren, die dieser interne Konflikt dort hinter­lässt und stößt auf einer Insel im Indischen Ozean auf ein Ge­fangenenlager … und auf Umwegen über eine indische Milliar­därsparty kommen sie den Gefahren für die Menschheit schließ­lich auf die Spur. Doch der Countdown tickt bereits erbarmungs­los, auf beiden Ebenen.

Colossus ist so gut wie einsatzbereit, die Aktivierung nur noch Stunden entfernt.

Und der Start des letzten Satelliten, der das Ende der Mensch­heit einleiten soll, wie wir sie kennen, ist auch nur noch Tage weit weg … und dieser Start wird von der rätselhaften EMP-Waffe geschützt, die auch die OREGON nahezu manövrierunfä­hig macht.

In einem atemlosen Wettlauf gegen die Zeit muss die OREGON-Crew diesmal nach Möglichkeit beide mörderischen Pläne durch­kreuzen. Aber bedauerlicherweise erwacht zwischendurch Co­lossus zum Leben und entdeckt die OREGON-Einsatztrupps …

Die OREGON-Romane von Boyd Morrison – der fraglos den gan­zen Roman geschrieben hat, weil Clive Cussler schon vor Jahren verstarb – zeichnen sich durch starke Technikaffinität aus. Der ehemalige NASA-Ingenieur hat wirklich viel Ahnung von dem, was an der Technikfront vor sich geht, und er lässt sich für die Romane stets Hightech-Gefahren und raffinierte Villains einfal­len, die die OREGON-Crew unter Juan Cabrillo extrem fordern. Das hat er schon in seinen Vorgängerbänden „Piranha“, „Schat­tenfracht“ und „Im Auge des Taifuns“ nachdrücklich bewiesen, die allesamt veritable page-turner waren.

In diesem Band war ich einigermaßen skeptisch, weil es schließ­lich gleich NEUN potenzielle Gegner gab. Das führe, fürchtete ich zu Beginn, zu einer Unübersichtlichkeit des Tableaus. Zu Be­ginn stimmte das auch, aber ohne zuviel verraten zu wollen: das Tableau dünnt sich rasch aus und lässt eine überschaubare Riege von Gegnern zurück. Interessant an der Struktur der Ge­schichte war überdies, dass es sich hierbei um zwei interne Ri­valen handelt, die sich parallel zur Außenhandlung gegenseitig beharken. Ich kam mir ein wenig vor wie bei einem Mah-Jongg-Spiel mit drei Mitspielern, bei denen zwei dieselbe Sorte von Spielsteinen sammeln und der dritte – in diesem Fall Juan Cabril­lo – diese notwendige Verzögerung des Spielausgangs dann dazu nutzt, um eigene Vorteile aus der Situation zu ziehen.

Das bedeutet für den Roman freilich nicht, dass es in irgendei­ner Weise langweilig wäre oder man sagen könnte, Cabrillo hät­te hier Oberwasser … die Gegner sind die meiste Zeit definitiv weit voraus, und es bedarf des ganzen Einfallsreichtums des Teams, hier voranzukommen. Es wäre allerdings deutlich inter­essanter gewesen, dem Buch den Titel „Schatten-Tyrannen“ zu geben, weil er einwandfrei passender ist als der neue deutsche Titel. Doch sei’s drum … es ist eine sehr spannend geschriebe­ne Geschichte, die mich dazu brachte, die zweite Romanhälfte an einem Tag zu verschlingen.

Wer also auf spannende Unterhaltung mit raffinierten Feinden und ebenso raffinierten Konteraktionen steht, ist hier bestens aufgehoben.

Klare Leseempfehlung von meiner Seite.

© 2024 by Uwe Lammers

In der nächsten Woche kehren wir mal zurück in ein beschauli­cheres Setting und begrüßen einen alten Freund, den beraten­den Detektiv aus der Baker Street 221b. Ganz recht, Sherlock Holmes.

Mehr zu ihm in sieben Tagen an dieser Stelle.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Es ist unübersehbar, dass die Vorlagefolie für diesen Prolog des Buches in dem Ver­schwinden des malaysischen Fluges MH 370 am 8. März 2014 zu finden ist, dessen Wrack bis heute verschollen ist und der nach wie vor Rätsel aufgibt. Ausführliche De­tails findet man in Florence de Changy: Verschwunden, Berlin 2022.

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