Liebe Freunde des OSM,
Unsterblichkeit ist ein Menschheitstraum … selbst heutzutage gibt es noch kuriose Wahlplakate, die ich selbst jüngst gesehen habe, auf denen Menschen – richtige Wahl vorausgesetzt – ein Leben mit 800 Jahren (!) Länge verheißen wird. Wir brauchen uns keine Illusionen zu machen, das ist natürlich albern und unrealistisch.
Gleichwohl sind Geschichten, in denen es sich um Menschen dreht, die auf die eine oder andere Weise unsterblich werden, von enormer Faszination für uns. Ob wir uns für die Highlander-Filme begeistern oder uns eher an Simone de Beauvoir halten, ob es um Vampirlegenden geht oder anderweitig verfluchte Wesen (beispielhaft seien hier Hector Barbossa oder Davy Jones aus den Fluch der Karibik-Filmen genannt), das Sujet hat seinen unbestreitbaren Reiz.
Verbindet man dies dann noch mit einer Art von „Unkaputtbarkeit“ a la Deadpool und einem ähnlichen soziopathischen Verhalten, kann man sich etwa vorstellen, was in dem Roman geschieht, den ich heute mal als Lesetipp empfehlen möchte.
Jack Carter ist unsterblich, ja, aber er möchte das nicht sein. Und das hat ziemlich turbulente, fatale Konsequenzen. Schaut einfach mal weiter, wie das aussieht:
Jack Carter ist unsterblich
Von Rebekka Derksen
Piper Wattpad, 2021
448 Seiten, TB, 13.00 Euro
ISBN 978-3-492-50531-4
In Jack Carters Leben, das erst 23 Jahre zählt, ist so einiges schief gelaufen, und es sieht nicht so aus, als sollte die Lage sich in absehbarer Zeit verbessern. Nein, ich korrigiere mich: Sie wird sich NIE verbessern, denn Jack Carter ist unsterblich … und was für viele Menschen eigentlich etwas ist, was sie sich herbeisehnen, versteht er ausdrücklich als Fluch.
Jack ist Spross einer reichen Unternehmerfamilie in den USA und lebt mit seinem besten Freund Wade in einer WG in New York. Mit seiner Familie hat er eher wenig am Hut, am ehesten noch mit seiner Großmutter und seiner kleinen Schwester Violet, die im zarten Alter von 14 Jahren eine Ballettkarriere anstrebt. Seine größten Leidenschaften bestehen, seit er im Alter von 17 Jahren eher durch einen ziemlich dämlichen Zufall unsterblich wurde, in eher nicht sozialkompatiblen „Hobbys“. Als da wären: Gras anbauen, sich mit Hasch und Alkohol en masse zudröhnen und – was ihm bei seinem blendenden Aussehen nicht schwer fällt – Frauen flachzulegen und ein äußerst reges und ziemlich hemmungsloses Sexleben zu führen.
Damit könnte man vielleicht noch halbwegs klarkommen. Aber das letzte Hobby, das er in den vergangenen sechs Jahren hinzugenommen hat und eher erfolglos ausübt, ist eines, das beim besten Willen nicht mehr gesellschaftsfähig ist.
Er bringt sich gern um.
Und er bringt sich erfolglos um.
Stürzt sich mit Vorliebe von Hochhäusern.
Schneidet sich die Pulsadern auf (oder bis auf den Knochen, je nach Laune).
Dummerweise stirbt er dabei nicht, sondern sein Körper regeneriert sich auf unfassliche Weise. Selbst wenn er durch Leichtsinnigkeit oder Absicht Gliedmaßen verliert, wachsen sie wie bei manchen seltenen Tierarten kurzerhand nach, und binnen kürzester Zeit ist Jack wie neu. Er ist buchstäblich unkaputtbar. Und zugleich zutiefst unglücklich.
Die Konsequenz dieses soziopathischen Verhaltens besteht dann darin, dass er zu einer Psychotherapie bei Dr. Elizabeth Bloomfield verurteilt wird. Verstößt er gegen diese Auflage, 48 Sitzungen a 45 Minuten mit ihr zu verbringen, wandert er ins Gefängnis, damit die Gesellschaft vor ihm geschützt ist. Dauerhaft. Was für Jack Carter bedeuten würde: ewig, da er ja nicht sterben kann.
Also beißt er wohl oder übel in den sauren Apfel und tritt bei der Therapeutin an, die auf überraschende Weise einen „Ex-Supermodel“ gleicht und in ihm äußerst verständliche Regungen weckt: Wie kann man dieses Weib nur flachlegen? Nun, die Antwort ist einigermaßen frustrierend – gar nicht. Sie ist halt seine Therapeutin und hat hart an Jacks soziopathischen Allüren zu knabbern. Er ist arrogant, anmaßend, verweigernd, kindisch, albern und verschlossen, und nahezu immer, wenn er behauptet, es sei in der vergangenen Woche nichts passiert, bekommt der Leser durch seine Innenperspektive mit, dass das nicht stimmt, sondern er munter wieder und wieder seine Therapeutin anlügt.
Dennoch bekommt sein Panzer allmählich Risse, und im Laufe dieser 48 Sitzungen, in die das Buch unterteilt ist, erfährt man sehr viel über Jacks gestörtes Verhältnis zu seinem Elternhaus, über seine depressionsanfällige Schwester Vio, die er um jeden Preis schützen möchte, und über vieles andere auch. Dazu zählt beispielsweise die Frage, wie er unsterblich werden konnte, was für bizarre Superkräfte seine – anfangs unbekannten – Geschwister besitzen und was schlussendlich dann das Militär mit ihm gern machen möchte.
Tja, und dann tritt halt neben seiner Ex-Freundin Kerry, die nächstens heiraten möchte, von der er aber immer noch nicht die Finger lassen kann, die fesche Soldatin Renee Ledoux auf den Plan, die ihm sogar sagt, dass sie ihn liebt. Und schließlich taucht – wohl unvermeidlich – die Superschurkin Jill auf, deren Lieblingsthema Mord ist. Und Jack Carter steht ihr im Weg, womit die Geschichte ziemlich hässliche Züge annimmt …
Dieser Roman, der ursprünglich auf der Online-Plattform Wattpad veröffentlicht wurde, ist ein eigenartiges Gebilde. Anfangs nahm ich tatsächlich an, dass ich Jack wirklich gründlich hassen lernen würde, denn in der Tat benimmt er sich derart schamlos sexistisch und verstößt quasi gegen jede vorstellbare Konvention, dass man ihn im Grunde gar nicht mögen kann. Wie oberflächlich er ist, merkt man übrigens allein schon daran, dass er erst bei der 15. Sitzung den Namen seiner Therapeutin kennen lernt (S. 99!). Vorher sind die Frauen mit denen er sexuell anbandelt und sie meist nach einer Nacht wieder munter und reuelos fallen lässt, gewissermaßen austauschbar und beliebig … Dutzendware, könnte man sagen, und er findet das völlig normal. Auch kümmert ihn Liz´ Name eine geraume Zeit, die mehreren Handlungsmonaten entspricht, gar nicht, sondern er pflegt sie mit „Babe“ und ähnlichen Bezeichnungen anzusprechen.
Allein das wäre in Zeiten von „MeToo“ ein absolutes No-Go. Kümmert ihn nicht eine Sekunde lang, sondern das hält er für völlig normal … er ist echt eine harte Nuss für Dr. Bloomfield, das kann man nicht anders sagen.
Dass Carter allerdings massive Bindungsängste hat, mangelndes Selbstwertgefühl, keinen Sinn im Dasein sieht – weswegen er sich unzählige Male umzubringen sucht, einmal direkt vor den Augen seiner Therapeutin (die ihn daraufhin einweist!), das erzeugt während des Lesens alsbald einen anderen Effekt beim Leser. Man beginnt hinter die Fassade aus Schroffheit, Verschlossenheit und Sarkasmus zu blicken, sieht die tiefe, nagende Verzweiflung und die Ziellosigkeit in seinem Leben.
Der Sarkasmus und die bisweilen verrückten Kapriolen seines Lebens, die hier zugleich auch geschildert werden, machen das Buch dann aber so lesenswert, wie ich fand, dass ich mit dem Schmökern nicht aufhören konnte und mühelos 80-100 Seiten am Tag wegschmökerte. So besonders Jacks Sicht auf die Welt auch ist … im Laufe der Therapiesitzungen verändert er sich durchaus. Ich fand es leider nur wenig glaubwürdig, wie wenig in diesen 45-Minuten-Sitzungen geredet wird. Okay, er ist meistens entweder zugedröhnt oder so abwesend, dass seine Gedanken auf wildeste Themenfelder abirren. Dennoch waren die Sitzungen im Grunde genommen zu knapp ausgeführt und darum etwas unplausibel. Das Strukturmuster an sich ist hingegen durchaus interessant.
Ob er am Ende die Kurve kriegt und entweder mit seiner Ex-Freundin Kerry oder der Soldatin Renee glücklich wird? Ob er es tatsächlich schafft, mit seiner Therapeutin zu schlafen? Oder einen Sinn im Leben zu finden und – vielleicht – der vom Militär angestrebte Superheld wird? Das sei hier nicht vorweggenommen, das sollte man lesen. Aber ich sage schon vorab: Es ist nicht völlig abwegig, wenn der Klappentext schreibt, Jack Carter sei „New Yorks einziges unsterbliches Arschloch“. Ich könnte jede LeserIn verstehen, die nach drei Kapiteln genervt und angewidert sagt, dass sie nicht weiterlesen möchte. Andererseits sagen Leser auf Wattpad, dass Jack Carter zu ihren „Lieblingscharakteren“ zählen würde. Die Meinungen gehen da also weit auseinander.
Da hat wohl jemand was richtig gemacht, scheint es.
Am besten wird es wohl sein, ihr bildet euch selbst ein Urteil. Ich empfand es als willkommene Abwechslung von den notorischen Superheldengeschichten, auch wenn diese hier ihre Wurzeln in der Marvel-Welt natürlich nicht verleugnen kann. Wagt einfach mal das Leseabenteuer, vielleicht könnt ihr euch damit auch anfreunden.
© 2022 by Uwe Lammers
In der kommenden Woche kehren wir dann wieder in die Welt von Clive Cusslers NUMA zurück. Mehr sei noch nicht verraten.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.