Liebe Freunde des OSM,
ich liebe wirklich Sherlock Holmes-Geschichten, ihr, die ihr meinem Blog schon länger folgt, wisst das zur Genüge. Und ich habe zudem ein ausgesprochenes Faible für die Historie des Ersten Weltkriegs, auch das dürfte hinreichend bekannt sein. Zugleich kommt es aber auch immer mal wieder vor, dass ich ältere Rezensionen ausgrabe – diese hier hat inzwischen knapp 18 Jahre auf dem Buckel, und das besprochene Buch kommt locker auf knapp 50 Jahre. Es wäre also kein Wunder, wenn es nahezu völlig unbekannt ist.
Ich habe es mit Abstand von mindestens zwanzig Jahren zwei Male gelesen, aber erst nach der Zweitlektüre dann rezensiert … und ihr werdet merken, es ist definitiv keine Schönwetter-Rezension, sondern grenzt schon ziemlich krass an einen Verriss. Normalerweise pflege ich so etwas nicht zu schreiben. Schlechte Bücher lese ich und strafe sie dann künftig mit Nichtachtung.
Dieses Buch ist auch in der Hinsicht ein Ausnahmefall. Denn, wie eingangs erwähnt: Ich liebe Sherlock Holmes und bin immer daran interessiert, Geschichten aus oder über den Ersten Weltkrieg zu lesen. Damit bildete sich ein Gegenpol zu der Lieblosigkeit der Darstellung und Produktion dieses Werkes, sodass ich dann doch zur Tastatur griff und eine Rezension verfasste.
Denn man sollte ja vielleicht doch eine Warnung für jene arglosen Leser in die Welt senden, die lesehungrig irgendwo im Internet auf dieses Buch stoßen und sich wunder was für Vorstellungen von dem Inhalt des reißerisch betitelten Werkes machen könnten.
Ihr wollt mehr wissen? Well done, dann tauchen wir mal gemeinsam in diese Geschichte ein. Aber ich gehe fest davon aus, dass ihr Holmesianer später mit mir einer Meinung sein werdet, was die Qualität oder Nicht-Qualität dieser Darbietung angeht …
Sherlock Holmes – Die Höllenvögel von Heaven’s Portal
(OT: Hellbirds)
von Austin Mitchelson & Nicholas Utechin
Xenos-Bücher 78 B 18
Hamburg 1977
222 Seiten, Taschenbuch
Keine ISBN, gedruckt in Finnland
Aus dem Englischen von Dr. Ingrid Rothmann
Am 24. Dezember 1914 fand an der blutgetränkten, Hunderte von Kilometer langen Frontlinie der Westfront, die quer durch Flandern und Nordfrankreich verlief, ein Ereignis statt, das von den Oberkommandierenden aller Kampfparteien überaus ungern gesehen wurde: für diese Nacht und den ersten Weihnachtstag fraternisierten sich die feindlichen Soldaten auf deutscher, französischer und englischer Seite an vielen Stellen der Front und feierten gemeinsam ihr Weihnachtsfest, mit Gastgeschenken und gemeinschaftlichen Fußballspielen im Niemandsland. Die Zeit wurde auch damit zugebracht, Gefallene zu evakuieren und christlich zu beerdigen.1
Als im Jahre 2005 der Film „Merry Christmas“ in die Kinos kommt, der dieses Ereignis thematisiert, scheint er eine Sensation zu sein, etwas ganz Verblüffendes zu schildern, was selbst Historiker für unmöglich hielten, aber aufgrund der Quellenlage nicht länger mehr bestreiten konnten. Ganz offensichtlich basierte der Film auf der schriftlichen Dokumentation von Michael Jürgs „Der kleine Frieden im Großen Krieg“, das 2003 erschienen war.2
Es war interessant, dass ich davon überhaupt nicht überrascht wurde, und selbst nach dem Anschauen des Filmes empfand ich ihn irgendwie als unspektakulär, als ob ich das alles längst gewusst hatte. Aber war das denn nicht eine fundamental neue Erkenntnis? Nun, vielleicht für die Öffentlichkeit, für mich nicht. Ich begriff allerdings nicht, warum es sich so verhielt – bis ich im Zuge meiner allgemeinen Sherlock Holmes-Lektüre auf den vorliegenden Roman stieß und ihn nach etwa zwanzig Jahren jetzt ein zweites Mal las. Dann wurde mir manches klarer.
Man schreibt den 18. Dezember 1914. Sherlock Holmes und sein getreuer Dr. Watson, beide schon in die Jahre gekommen und über 60 Jahre alt, sitzen mehr oder weniger ungeduldig in der Baker Street 221 B und hoffen noch immer darauf, erfüllt von patriotischem Geist, dass sich die Regierung ihrer entsinnen würde, um sie und ihre Fähigkeiten für das Vaterland einzusetzen. Bekanntlich ist Sherlock Holmes längst unter die Bienenzüchter in Südengland gegangen, und auch Dr. Watson dürfte eigentlich allmählich damit aufgehört haben, seine Arztpraxis zu führen.
Dennoch, frustriert müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass ihre Dienste offensichtlich nicht gefragt sind. Der letzte Auftrag, den Holmes erfüllt hat, betraf die Entlarvung des deutschen adeligen Spions von Bork, den er erfolgreich den britischen Polizeibehörden übergab.3
Und dann kommt doch noch jemand, der Hilfe sucht.
Die junge Polly Dempster ist aus ihrem kleinen Küstenort Heaven’s Portal in Essex eigens in die Hauptstadt gekommen, um dort Holmes´ Beistand zu suchen: ihr Onkel ist seit Tagen spurlos verschwunden, und sie befürchtet, er könne ein Opfer der geheimnisumwitterten „Höllenvögel“ geworden sein, die angeblich im Mittelalter – und jetzt seit Kriegsausbruch wieder – die Ortschaft heimsuchen.
Holmes glaubt nicht an Geister, Flüche oder Höllentiere. Er behandelt das arme Mädchen dementsprechend schroff und schickt sie unverrichteter Dinge wieder in ihr Heimatdorf zurück, nun nur noch von schlechterer Laune geplagt als zuvor.
Doch der Onkel der naiven Polly Dempster ist keineswegs betrunken in einer Kneipe liegengeblieben, am nächsten Tag wird der Fund seiner mit seltsamen Wunden übersäten Leiche gemeldet. Und der große Detektiv ist schon drauf und dran, sich auf den Weg nach Essex zu machen … als ihm die Kunde zugeht, dass der deutsche Spion von Bork aus dem Tower verschwunden ist, sich buchstäblich in Luft aufgelöst hat.
Um die Dinge noch schlimmer zu machen, erweist sich, dass von Bork den Namen des höchsten britischen Spions kennt, der direkt im Hauptquartier des deutschen Kaisers Geheimnisse auskundschaftet. Wenn es von Bork gelingt, Wilhelm II. zu erreichen, ist der Spion zweifelsohne des Todes. So fleht Mycroft Holmes seinen Bruder an, den Deutschen zu verfolgen, und diese atemlose Jagd führt die beiden alten Freunde Watson und Holmes schließlich bis zu den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, die sich als tödliche Barriere erweisen – bis am 24. Dezember 1914 die Soldaten auf einmal beginnen, Weihnachtslieder zu singen und die Feindschaft begraben …
Der Aha-Effekt war beträchtlich, als ich diese Stelle las. Tief in mein Unterbewusstsein hatte sich also eingegraben, dass ich, bevor mein Interesse am Ersten Weltkrieg überhaupt aufgrund meines Geschichtsstudiums richtig erwachte, von dieser Tatsache des Weihnachtsfriedens bereits längst Kenntnis besaß. Faszinierend, wie eine andere Genre-Figur sagen würde.
Ansonsten jedoch ist das Fazit dieses Romans äußerst ernüchternd. Die Verfasser, die von Mike Ashley (vgl. Fußnote 3) nicht mal in der Liste der Sherlock-Holmes-Epigonen genannt werden, haben sich zwar sichtlich bemüht, fachkundig zu bleiben, und zweifelsohne verstanden sie eine Menge von der Zeit und dem historischen Kolorit, den sie gezielt einzusetzen verstehen; ebenso kann man ihnen eine profunde Kenntnis des Kanons der Sherlock-Holmes-Geschichten von Arthur Conan Doyle attestieren. Alles andere ist indes doch recht wirr, um nicht zu sagen: lieblos.
Betrachten wir Sherlock Holmes´ eigene Darstellung. Die Schroffheit, mit der er Polly Dempster behandelt, ist nicht ohne Beispiel, das stimmt. Auch die Stimmungsschwankungen und sein ungnädiges Verhalten hat „Watson“ häufig erwähnt. Aber wo bleiben die Standardmittel zur Behebung solcher Anfälle? Geige im einen Fall, Kokain im anderen? Beides wird tunlichst ignoriert. Auch werden die aus den alten Holmes-Geschichten, zu dieser Zeit aber längst überholten Verhältnisse (Baker Street 221 B, Miss Hudson als Haushälterin) „restauriert“, was völlig absurd ist.
Schlimmer ist jedoch, dass aus Holmes ein offenkundig sehr redseliger Quasselkopf gemacht wurde. Jener Mann, der mehr als jeder andere schweigsam ist, bis der Fall gelöst ist, der keine Vorankündigungen macht und eher die Aktion sprechen lässt statt die Worte, dieser Mann erzählt nun, und zwar in einer Tour: Ja, Watson, wir machen jetzt dies und das … und dann werden wir dies und jenes tun … dort haben wir dann Erfolg, und wenn nicht, dann machen wir jenes … Tut mir wirklich ausnehmend leid, aber so spricht und handelt Sherlock Holmes nicht. Für diesen Teil: Gesamtnote 5-6.
Ferner: Die Art und Weise, wie die Autoren die Holmes-typische Deduktion fast vollkommen außer acht lassen und seine Beobachtungsgabe nur dann und wann durchschimmern lassen (weite Teile des Romans stolpert er eher nachlässig plaudernd dahin, einmal muss ihm Watson sogar das Leben retten!), zeugt von ausgesprochener Nachlässigkeit. Auch hier ist Holmes nahezu gar nicht zu erkennen. Für diesen Teil: wenigstens Gesamtnote 4, eher schlechter.
Schließlich, die Schlusssequenz, wo sich die beiden Freunde hinter die deutschen Linien mogeln und in deutschen Uniformen bis ins Hauptquartier vordringen – Watson mischt sich (in deutscher Uniform!) unter das Bereitschaftspersonal und plaudert hier, in Französisch radebrechend, mit Franzosen, nur damit nicht auffällt, wie lausig sein Deutsch ist! Das ist nicht nur abenteuerlich, das ist schlicht dumm dargestellt. Denn ein deutscher Soldat, der auf so offenkundige Weise mit französischen, in den Dienst gepressten Bediensteten plaudert und sie deutscher Gesellschaft vorzieht, fällt unweigerlich sofort auf. Man stelle sich mal die analoge Situation, beispielsweise, im Irak vor. Ein amerikanischer Soldat, der lieber mit Arabern redet als mit Amerikanern? Der Mann hat ein Freiflugticket nach Guantánamo!
Schlimmer noch – Holmes, ein hochbetagter Herr, der noch nie im Leben in einem Flugzeug gesessen hat, erlernt das Fliegen der doch recht abenteuerlichen Kisten quasi im Handumdrehen. Das soll wohl für seine Intelligenz sprechen, aber es legt nur Zeugnis davon ab, dass die Autoren keinen blassen Schimmer von Flugtechnik des Ersten Weltkrieges hatten. Ich empfehle ihnen die Story „Ein Falke unter Spatzen“ von Dean McLaughlin aus den 60er Jahren wärmstens.4 Hier strandet nämlich ein amerikanischer Pilot mit einem Düsenjet, durch ein Zeitloch fallend, im Sommer 1918 an der Westfront des Ersten Weltkriegs, wo er – wie gesagt, ein Pilot! – sich äußerst mühsam mit der Flugtechnik der „Sperrholzkisten“, die mit Drahtseilen (!) gelenkt werden, vertraut machen muss. Schon er hat mächtige Probleme. Es ist kaum vorstellbar, dass es einem viel älteren und unerfahreneren Sherlock Holmes besser ginge. Dass Holmes dann mit seinen rudimentären Kenntnissen aber auch noch einen regelrechten Luftkampf gegen Manfred Freiherr von Richthofen, den legendenumwitterten Roten Baron, überlebt, ist einfach nur Narretei.
Die Quintessenz muss darum lauten: das Buch spielt in einer interessanten Zeit, es bietet einen etwas verkrampften Versuch, Sherlock Holmes im Ersten Weltkrieg agieren zu lassen, knüpft dabei mehr gewollt als gekonnt an die späteste Holmes-Story von Arthur Conan Doyle an, vermag aber so gut wie überhaupt nicht die Atmosphäre einzufangen. Der Versuch ist also dürftig. Daran ist, wie vermutet werden muss, auch die Übersetzerin nicht unschuldig, deren Doktortitel die Übersetzung nicht besser macht, sie bleibt insgesamt recht mittelmäßig.
Das Titelbild zeigt zwar Holmes und Watson, aber in der Blüte ihrer Jahre, vor einer definitiv englischen Kulisse und damit überhaupt in keinem Zusammenhang mit dem Romaninhalt. Es ist evident, dass ein x-beliebiges, vorliegendes Bild als Cover genommen wurde. Der Buchtitel selbst ist zudem irreführend, da es im Kern nicht um die „Höllenvögel“ geht, weder die von Heaven’s Portal (Himmelstür, ein wenig einfallsreicher Name) noch um die von der Westfront. Die Titelwahl ist also auch nicht eben schmeichelhaft, sondern diente wohl nur dazu, Leser zu fangen.
Der Druck des Buches in Norwegen hat dem Werk weiter geschadet. Nicht nur ist die Bindung äußerst brüchig und lädt dazu ein, einzelne Seiten aus dem Block herauszubrechen, auch ist der Text fehlergesättigt. Klein geschriebene Anreden, fehlende Anführungszeichen, fehlende Kommata und falsch geschriebene Worte finden sich in reichlicher Zahl. Das macht die Lektüre dann doch zusätzlich etwas quälend.
Allein, wer sich als enthusiastischer Holmes-Fan diese Lektüre antun möchte, kann es tun. Allen, die lieber die Originale vorziehen oder liebevoller gemachte Werke von jüngeren Holmes-Epigonen, denen sei ausdrücklich davon abgeraten. Fast möchte man ergänzen, es sei gut, dass dieses Buch nicht mehr erhältlich ist und niemals eine ISBN besaß …
© 2007 by Uwe Lammers
Autsch, das nennt man eine üble Watsche? Nun, das ist kaum zu bestreiten. Aber ich merke nochmals an, dass dieser Rezensions-Blog ja kein Schönwetter-Blog ist und ausschließlich (in meinen Augen) tolle Werke präsentiert. Da gibt es auch Durchschnittsware und manchmal recht grenzwertige Bücher. Dieses hier fällt meines Erachtens in die letztere Kategorie.
In der nächsten Woche kehren wir nach Italien in die relative Gegenwart zurück und schauen uns den Schlussband der Bilotti-Trilogie näher an.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich & Irina Renz (Hg.): „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“, Paderborn 2003, Eintrag „Weihnachten 1914“, S. 957ff. (Christoph Jahr).
2 Vgl. Michael Jürgs: „Der kleine Frieden im Großen Krieg“, München 2003.
3 Vgl. Sir Arthur Conan Doyle: „Der letzte Fall“ (His Last Bow: The War Service of Sherlock Holmes), annähernd zeitgleich in The Strand und in Collier’s publiziert, September 1917. Der Fall spielt ganz offenkundig Anfang August 1914. Vgl. auch die Sherlock-Holmes-Chronologie in Mike Ashley (Hg.): „Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton“, Bergisch-Gladbach 2003, S. 736 und 742.
4 Die Story ist abgedruckt in der von Wolfgang Jeschke herausgegebenen Anthologie „Planetoidenfänger“, Heyne 3364, München 1973. Der Originaltitel ist „Hawk among the Sparrows“. Der Verfasser hat das Buch im Fanzine BWA 170 im November 1997 rezensiert und diese Story ausdrücklich hervorgehoben.