Rezensions-Blog 488: Der Attentäter

Posted Dezember 24th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

manchmal ist das Unterbewusstsein falsch gepolt, und dann kann es passieren, dass wahnsinnig spannende Bücher unab­sichtlich gering geschätzt und länger im Regal stehen gelassen werden, als das sinnvoll ist. So geschah es mit diesem Werk. Es gelangte schon anno 2018 in meinen Besitz, aber ich fasste mir tatsächlich erst ein Herz, es zu lesen, als in meiner Rezensions-Blogreihe der Zeitpunkt gekommen war, die fertige Rezension hier einzupflegen.

Kommt selten vor, ich weiß, aber diesmal war es so.

Und ich war wirklich binnen kürzester Zeit regelrecht gefesselt von dem Buch. Das lag nicht allein daran, dass nahezu direkt am Anfang Isaac Bell, der Hauptprotagonist beinahe erschossen wird … das eigentliche Opfer wird geradewegs neben ihm er­mordet, während die beiden noch sprechen. Und das führte schnell dazu, dass ich die ersten 98 Seiten bereits am ersten Le­setag verschlang und mich in den Folgetagen immer wieder mächtig zusammenreißen musste, nicht unentwegt weiterzule­sen.

Zum Glück hat das Werk fast 500 Seiten Umfang, es hat mich also angenehme fünf Tage unterhalten. Und geradewegs zu­rückgebeamt ins seltsam dämmrige Jahr 1905, in dem am Schwarzen Meer Chaos und Bürgerkrieg herrschen und in Ame­rika rivalisierende Ölmagnaten um Marktanteile ringen.

Und mittendrin ein extrem raffinierter Scharfschütze, der wie ein Phantom ein Opfer nach dem nächsten kaltblütig liquidiert. Und schließlich auch Isaac Bell selbst ins Visier nimmt … ich kann nur sagen: Stürzt euch ins Abenteuer und lest weiter!

Der Attentäter

(OT: The Assassin)

Von Clive Cussler & Justin Scott

Blanvalet 0362

480 Seiten, TB, 2017

Übersetzt von Michael Kubiak

ISBN 978-3-7341-0362-9

Der Anfang des 20. Jahrhunderts ist, entgegen vielfacher Vor­stellungen von Menschen, die sich mit Geschichte nicht sonder­lich gut auskennen, eine höchst turbulente, erhitzte Zeit. Und sie ist, unter dem Mikroskop des Historikers oder auch eines Au­tors, der Geschichten in diesem Zeitabschnitt ansiedelt, eine wirklich erstaunlich fremdartige Welt, die ständig mit kleinen und größeren Überraschungen aufwartet, die man als Leser ei­gentlich nicht erwartet. Dafür ist dieser vorliegende Roman gut, und das machte für mich einen wesentlichen Teil der enormen Unterhaltsamkeit aus.

Man schreibt das Jahr 1905, als die Van Dorn Agency von der amerikanischen Regierung beauftragt wird, die Firma Standard Oil von John D. Rockefeller näher zu untersuchen. Sie soll gegen Shermans Anti-Trust Act verstoßen haben, indem sie mehr und mehr Anteile des nationalen und internationalen Ölmarktes an sich gerissen hat, mutmaßlich auch mit unsoliden Mitteln wie Erpressung und Ähnlichem. Rockefeller gilt als gieriger, men­schenfeindlicher „Krake“, der die zahlreichen konkurrierenden Ölsucher und Ölfirmen an die Wand drückt, in den Konkurs treibt und aufkauft, um die eigene Macht zu vergrößern. Zwei dieser privaten Konkurrenten Rockefellers waren die Ölsucher Spike Hopewell und Bill Matters. Sie wurden 1899 in Pennsylvania bei­nahe ruiniert. Anschließend trennten sich die Wege der beiden Gefährten. Hopewell machte in Kansas weiter im unabhängigen Öl-Business, während Matters einknickte und schließlich in Rockefellers Firma Karriere machte. Im Gegensatz zu dem Junggesellen Hopewell musste er auch an das Leben seiner beiden jungen Töchter Edna und Nellie denken.

1905 besucht der Van Dorn-Agent Isaac Bell Hopewells Ölfeld in Kansas, da er annimmt, dass die Konkurrenten Rockefellers am ehesten über dessen Geschäftsgebaren Bescheid wissen. Doch noch während er mit Hopewell redet, wird dieser unmittelbar vor seinen Augen erschossen! Er selbst entgeht nur knapp dem Tode und kann im Anschluss eine umfassende Katastrophe müh­sam eindämmen. Der Attentäter hat nicht nur den Unternehmer ermordet, sondern auch versucht, seine Raffinerie zu vernich­ten.

In der Folge muss Bell gleich an zwei Fronten kämpfen – zum ei­nen versucht er natürlich, den Attentäter ausfindig zu machen. Zum anderen muss er aber auch gegen das zunehmende Ge­rücht angehen, es sei niemand Geringerer als Rockefeller selbst, der den Attentäter bezahlt. Für die Öffentlichkeit, die dem Magnaten das Schlimmste zutraut, ist es bald fast sichere Tatsache, dass Rockefeller „natürlich“ auch auf Mord setzt, wenn die Kon-kurrenten nicht klein beigeben. Die Mordfälle scheinen dem Volksmund Bestätigung dafür zu sein, und der hartleibige Magnat benimmt sich höchst unkooperativ in dieser Beziehung.

Es kristallisiert sich indes sehr schnell heraus, dass es hier Un­gereimtheiten gibt, die die Lage deutlich erschweren. Zum ei­nen bestreitet natürlich der menschenscheue Rockefeller letz­ten Endes rigoros jede Verantwortung für die Mordanschläge (und die Liste der meist als Unglücksfälle vertuschten Morde verlängert sich zunehmend, je mehr die Van Dorns nachfor­schen), die unverdrossen weitergehen, ohne dass der Killer ge­fasst oder auch nur gesichtet werden kann.

Zum anderen macht Rockefeller schließlich aber auch Anstalten, die Van-Dorn Agency dafür zu bezahlen, den Mörder zu fassen, da er allmählich auch – mit Recht – um sein eigenes Leben zu bangen beginnt. Dadurch gerät insbesondere Isaac Bell in Kon­flikt zu dem bisherigen Arbeitgeber, der ja gegen den Ölmagna­ten ermittelt und muss eine fatale Entscheidung treffen.

Im weiteren Verlauf seiner Erkundungen gegen den Meister­schützen, dem die unmöglichsten Mordanschläge gelingen, macht Isaac Bell die Bekanntschaft von zwei bezaubernden Frauen, die den noch ledigen Detektiv zunehmend in den Bann schlagen: Da ist die eifrige Journalistin E. M. Hock (was das leicht veränderte Pseudonym für Edna Matters ist), die aufgrund der biografischen Erfahrungen ihres Vaters eine scharfsinnige Kritikerin des Magnaten Rockefeller ist. Und dann ist da ihre Schwester, die Suffragistin Nellie Matters, die mit wagemutigen Ballonreisen für das Frauenwahlrecht wirbt.

Isaac Bell merkt schnell, dass sein mörderischer Gegner ein ver­schlagenes, raffiniertes Genie ist, möglicherweise wahnsinnig. Und so variabel seine Methoden sind, so gnadenlos steuert er auf das tödliche Ziel hin – obgleich der Detektiv den Feind zu­nehmend einkreist, kleinste Spuren früherer Verbrechen entzif­fert, wird er doch bis fast zum Schluss des Romans über die wahre Natur des Mörders getäuscht. Bis ein feuriges Inferno droht, das unabwendbar scheint …

Ungeachtet des deutschen und amerikanischen Titels und auch entgegen der Vermutung des Lesers ist die Attentätergeschich­te durchaus nicht das Spannendste an diesem Roman. Ich habe schon sehr früh in dem Werk geahnt, wer der Mörder sein würde (und wurde nur partiell getäuscht). Aber so packend diese Mord­jagd auch ist, so intellektuell fordernd sie für Isaac Bell und den Rest der Van-Dorn Agency sein mag, für mich als Historiker war das Ambiente an sich doch sehr viel faszinierender.

Man kennt legendäre Jahreszahlen zur Genüge, meist aus der Kriegsgeschichte, aber wer verbindet denn heutzutage noch all­zu viel mit dem Jahr 1905? Ich hatte damit bislang eher wenig Berührung und verband sie doch deutlich mehr etwa mit dem Russisch-Japanischen Krieg, der hier kaum eine Rolle spielt. Die­ser Roman dringt aber in die Niederungen der frühen Ölindus­trie der USA ein. Das, was wir heutzutage davon kennen, ist längst durch weit verzweigte Truststrukturen seit Jahrzehnten zementiert. Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch dauerte der frü­he Ölboom, der von Individualisten und Kleinstfirmen getragen wurde, immer noch an. So etwas wie Ölfässer im strengen Sinn gab es noch nicht (auch das Barrel-Maß, das darauf fußt, nicht). Stattdessen wurden Ölvorräte in kleinen, handlichen Ölkanistern versandt, die heute geradezu absurd niedlich wirken. Es gab klare Trennungen zwischen Rohöl und Benzinspeichern. Pipe­lines waren ein neues, aber nach wie vor durchaus umstrittenes Konzept.

Und dann kommt es im Roman zu dieser spannenden Reise ans Schwarze Meer nach Baku … wir würden sagen: mitten in ein Kriegsgebiet. Mit sich befehdenden Volksgruppen, explodieren­den Anarchistenbomben, rassistischen zaristischen Milizen, Banküberfällen mittels Maschinengewehren … und mittendrin stecken hier Isaac Bell, die drei Angehörigen der Familie Matters und John D. Rockefeller … und dann ist da der Attentäter, der ih­nen folgt und mörderische Taten verübt.

Tatsache ist, dass die Geschichte wirklich niemals langweilig wird. Und derjenige, der ein wenig über die Zeitgeschichte weiß, wird in Baku einen Aha-Effekt der besonderen Art erleben, als Bell und Rockefeller auf einen Mann namens Josef stoßen. Justin Scott präzisiert das nicht, aber mir war sehr schnell klar, wer das sein muss und was er da tut. Weswegen mich auch eine Entwicklung, die dann daraus resultiert, nicht wirklich verblüf­fend war, sondern absolut folgerichtig.

Auch die sehr angemessene Länge des Romans zeigt deutlich, dass Scott sich in diesem abenteuerlichen Setting höchst gern aufgehalten hat. Herausgekommen ist letzten Endes ein Roman, der unbedingt lesenswert ist. Man sollte sich dabei übrigens nicht von der Tatsache ablenken lassen, dass die Isaac Bell-Ro­mane, was ihre interne Timeline angeht, in verwirrender Reihen­folge publiziert werden. Ich erinnere daran, dass der Vorgänger­roman „Unbestechlich“ bereits anno 1921 spielt.

Irgendwann, wenn diese Reihe endet, sollte man sie vielleicht in handlungschronologischer Reihenfolge schmökern, um die real­chronologische Lebensspur Isaac Bells kennen zu lernen. Bis da­hin ist es hinreichend, jeden Roman des Detektivs für sich zu le­sen.

Ich gebe für diesen hier jedenfalls eine klare Leseempfehlung!

© 2024 by Uwe Lammers

Das war wirklich eine Achterbahnfahrt, kann ich euch sagen. In den frühen Tagen des 20. Jahrhunderts bleiben wir auch in der kommenden Woche, wo wir einen Epigonenroman zu Arthur Co­nan Doyles Sherlock Holmes-Welt kennen lernen werden, den ich schon seit Ewigkeiten kenne.

Mehr dazu in sieben Tagen an dieser Stelle.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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