Rezensions-Blog 486: Die Verführte (2)

Posted Dezember 11th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

vor vier Wochen folgten wir Sara Bilotti in den ersten von drei Romanbänden um die Lehrerin Eleonora Contardi, die sich im Spannungsfeld zwischen drei charismatischen Männern und de­ren Umgebung gefangen sieht. Jetzt, im mittleren Band dieses Zyklus, kommen neue Facetten der Geschichte ans Tageslicht. Beziehungen verschieben sich. Neue Allianzen entstehen … und ich habe den Roman mit zunehmend mehr gespannter Aufmerk­samkeit gelesen.

Schaut mir einfach mal lesend über die Schulter, was ich dazu im Jahre 2017 geschrieben habe:

Die Verführte

(OT: La colpa)

Von Sara Bilotti

Blanvalet 0581

320 Seiten, TB (2015)

ISBN 978-3-7645-0581-3

Aus dem Italienischen von Bettina Müller Renzoni

Die Verhältnisse sind kompliziert, auf die die junge Lehrerin Eleonora Contardi stößt, als sie in Oberitalien zu ihrer eigentlich ungeliebten Stiefschwester Corinne flüchtet, um ein wenig Ord­nung in ihr Leben zu bringen. Denn stattdessen gerät sie auf eine „Bühne“ und in ein komplexes Personenkarussell, das seit Jahrzehnten in einer fragilen Balance existiert. Sie ist der Faktor, der dieses Gleichgewicht dann kippt. Ohne es anfangs zu ver­stehen, löst ihre Gegenwart Chaos im Leben von Corinne und den Personen rings um sie aus.

Das zentrale Problem besteht in dem dynamischen Miteinander der drei Brüder Alessandro, Emanuele und Maurizio Vannini. Ei­ner der drei Brüder ist vor langer Zeit von Unbekannten entführt und gefangen gehalten worden, was ihn tief traumatisierte. Lan­ge Zeit – während des ersten Bandes „Die Begehrte“ – glaubt Eleonora tatsächlich, wie es allgemein kommuniziert wird, dass es den ungebärdigen, vitalen Emanuele getroffen hat und dies der Grund für seinen unangepassten Lebenswandel sei.

In Wahrheit jedoch ist der engelsgleiche, wunderschöne und verständnisvolle Alessandro es gewesen, der das Entführungs­opfer war. Jener Mann, der auf dem Gut Bruges als Hausherr lebt und schließlich zu Beginn dieses zweiten Romans Corinne heiratet. Er lebt in einer Scheinwelt der Lüge, und die gesamte Umwelt bestärkt ihn darin – das ist ein psychologisches Kon­strukt, da er, der die Erinnerung an die damaligen Erlebnisse gründlich verdrängt hat, langsam an die Realität herangeführt werden soll. Bis Eleonora auftaucht, klappt das auch mehr oder minder gut. Corinne, die seine Lebensgefährtin geworden ist, stabilisiert Alessandros Zustand erkennbar.

Zu dumm, dass Eleonora den wunderschönen Alessandro eben­falls begehrt. Dieses Gefühl scheint auch auf – auf eine seltsam distanzierte Weise – auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Um jedoch Corinnes ebenfalls labile emotionale Verfassung nicht zu verlet­zen und dieses junge Glück zu gefährden, hat sich Eleonora stattdessen schon frühzeitig Emanueles wildem Begehren geöff­net und wird nun regelmäßig von ihm verführt und stürmisch, ja geradezu animalisch geliebt. Eigentlich scheint alles also ganz einfach zu sein: Corinne bekommt Alessandro, Eleonora kann mit Emanuele zusammen sein …

Aber Beziehungen sind nie einfach, und die auf und um dieses Gut herum schon gar nicht. Denn da gibt es beispielsweise noch Denise, Maurizios Lebensgefährtin, die schwanger ist – von Emanuele. Und es gibt June, Emanueles Freundin, ehe Eleonora in ihrem Leben auftauchte – und auch sie ist schwanger von Emanuele. Sie verschwinden nicht einfach wie ein Traum aus ihrem gemeinsamen Leben, nur weil Emanuele sich offenkundig für Eleonora entschieden hat.

Zwar versichert Emanuele Eleonora, er begehre seit geraumer Zeit nur noch sie, und er lässt auch leidenschaftliche Taten fol­gen und beginnt für sie zu planen … doch Eleonora schwärmt auch weiterhin unausweichlich aus der Ferne für Alessandro, und wann immer sie sich begegnen (viel zu häufig) sprühen die Funken.

Zudem erweist sie sich weiterhin als Katalysator für Alessandros Erinnerungsprozess. Stückchenweise kehrt die Erinnerung an seine Entführungszeit zurück. Er beginnt zu begreifen, dass „die anderen“ ihm irgendetwas verheimlichen … und zu ihrer eige­nen Bestürzung macht er Eleonora zu seiner Verbündeten, um die Wahrheit herausfinden zu wollen. Was sie ganz unweigerlich wieder in die größere Nähe zu Alessandro bringt und ihre innere Zerrissenheit befördert.

Und dann kommt eine weitere Frau ins Spiel, annähernd zeit­gleich mit der Entdeckung, dass das rätselhafte Mädchen in Alessandros Erinnerungen, das ihn während seiner Gefangen­schaft damals versorgte, keineswegs nur ein Phantom seiner Phantasie ist, sondern Realität. Eine höchst greifbare Realität, die sich unmittelbar in ihr Lebensumfeld einmischt.

Ganz verheerend wird es dann, als Eleonora entdecken muss, dass Emanuele selbst auch Geheimnisse hat und gefährliche Nachforschungen anstellt …

Man sollte meinen, dass eine Beziehungsgeschichte, in der eine Frau zwischen zwei Männern steht und sich nicht recht zwischen dem schönen, edlen Mann und dem stürmischen, etwas ruppi­gen Kerl entscheiden kann, nach ein paar hundert Seiten lang­weilig wird, mithin nach einem Teil der Trilogie. Sara Bilotti be­weist, dass das nicht zwingend der Fall sein muss, sondern man der Geschichte durch interessante Wendungen und sich scheib­chenweise aufhellende Geheimnisse durchaus noch enorme Würze verleihen kann.

Eleonora ist gleichwohl in diesem Band eine Frau, die Bedauern und Mitgefühl weckt – denn noch immer ist sie im Kräftefeld der Gebrüder Vannini gefangen und kann sich nicht recht entschei­den. Liebt sie Emanuele? Offensichtlich ja, denn sie kann nicht ohne ihn sein und ergibt sich seinem stürmischen Drängen wie­der und immer wieder. Liebt Emanuele sie? Das ist schon schwerer zu sagen – immerhin ist er ein ziemlicher Schwerenö­ter und hat, wie es eine Ex-Freundin im ersten Band gehässig anmerkte, nahezu jede Frau in weitem Umkreis flach gelegt, die nicht bei 3 auf den Bäumen war. Zudem macht er ein Geheim­nis daraus, mit wem er tatsächlich zusammen war und wie weit er jeweils gegangen ist … es gibt da diverse peinigende Offen­barungen von dritter Seite in diesem Band. Brennende Eifer­sucht ist daher ein konstantes Problem.

Und wie ist das mit Alessandro? Er, der nach eigenen Worten Corinne eigentlich gar nicht liebt, hat sie gleichwohl geheiratet – weil diese sonst womöglich ihren Selbstmordversuch aus dem ersten Band erfolgreicher wiederholt hätte. Er fühlt sich zugleich immer noch und vielleicht stärker als bisher zu Eleonora hinge­zogen, und es deutet sich gegen Ende des Buches deutlich an, dass er nun, wo seine Erinnerungen immer stärker zurückkeh­ren, sein Leben grundsätzlich neu organisieren will.

Es bleibt die Frage, die im dritten Band zu klären ist, wessen Le­ben stattdessen in Scherben gelegt wird, und man kann schon gewisse Vermutungen hegen. Ich für meinen Teil hege Gedan­ken hinsichtlich des dritten Vannini-Bruders Maurizio, der bis­lang nur am Rande erwähnt wird. Und vermutlich spielen auch die rätselhafte Sophie und die Hintermänner der Entführung von einst noch eine wichtige Rolle.

Man sieht – die Geschichte bleibt auch nach zwei Trilogie-Bän­den definitiv raffiniert und packend, was nicht zuletzt mit der Tatsache zu tun hat, dass die bislang eher passive Eleonora durch ihre eigenen Nachforschungen, die sie anstellt, nun in eine etwas aktivere Rolle hineinschlüpft.

Bin sehr gespannt auf den Abschlussband. Weiterhin eine klare Leseempfehlung.

© 2017 by Uwe Lammers

In der kommenden Woche krame ich mal wieder ein sehr viel äl­teres Buch heraus, dessen literarische Einordnung mir einiger­maßen schwer fällt, immer noch. Aber es thematisiert, obwohl es so alt ist, leider ein Thema, das nach wie vor brennend aktu­ell ist, vermutlich noch aktueller als damals, als es ursprünglich erschienen ist.

Welches Thema ist das? Krieg, leider. So wie dieses Buch über Gaza, das ich kürzlich erwarb (es ist 2009 erschienen, aber trau­rigerweise hat sich die Weltsituation in dieser Region an der Küste Israels nicht signifikant verbessert), das ungeachtet sei­nes Alters eine traurige Aktualität besitzt.

So ähnlich verhält es sich auch mit dem Buch der kommenden Woche. Lasst euch da mal überraschen, was das im Detail be­deutet.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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