Rezensions-Blog 484: Die Gnadenlosen

Posted November 27th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

es ist schon verblüffend, diese Rezension aus dem Jahre 2020 im Jahr 2024 wieder aufzunehmen und in den Rezensions-Blog zu projizieren. Ich schwöre, damit war keinerlei politische Mes­sage intendiert. Wie ich jüngst schrieb, pausiere ich zurzeit mit dem Lesen und Rezensieren bei James Rollins und wende mich der immer noch ansehnlichen Menge an noch nicht gelesenen und rezensierten Romanen von Clive Cussler und seinen Epigo­nen zu. Und dabei war nun die Reihe an diesem Werk.

Verblüffung ist dennoch vermutlich unvermeidbar, weil in Deutschland in diesem Jahr auch mächtig gestreikt wurde. Das ist schon eine witzige Koinzidenz … doch ansonsten haben die Streiks in den USA im Jahre 1902, in dem dieser Roman spielt, mit den doch eher zahmen Auseinandersetzungen in Deutsch­land der Gegenwart nicht viel gemeinsam.

Wir erleben es hier nicht, dass Minen explodieren, Schiffe ver­senkt werden und Mordanschläge vorkommen … solche Ereig­nisse verleihen aber dem vorliegenden Roman eine mächtige Dramatik.

Ich finde, da lohnt sich ein genauerer Blick:

Die Gnadenlosen

(OT: The Striker)

Von Clive Cussler & Justin Scott

Blanvalet 0144

480 Seiten, TB, Oktober 2015

Übersetzt von Michael Kubiak

ISBN 978-3-442-0144-1

Man schreibt das Jahr 1902, als in den Vereinigten Staaten die sozialen Ungleichheiten zwischen vermögender und arbeitender Klasse massiv aufbrechen und sich sozialistisch orientierte Streikbewegungen daran machen, die Arbeiterschaft zu organi­sieren. Ihr Ziel: mehr Arbeiterrechte, kürzere Arbeitszeiten, bes­sere Bezahlung. Wer das heutzutage für selbstverständlich hält, hat wirklich keine Vorstellung der Situation in den Vereinigten Staaten zu jener Zeit.

Der Industrielle Black Jack Gleason engagiert die noch junge De­tektei von Joseph Van Dorn, weil er überzeugt davon ist, dass seine Kohlegruben von sozialistischen Provokateuren und Sabo­teuren bedroht wird. Während Van Dorn sich darum bemüht, ein nationweites Netz seiner Agentur zu etablieren, wird der Junger­mittler Isaac Bell nach West Virginia geschickt, um in der Glea­son Mine 1 nach dem Rechten zu sehen. Hier wird er Zeuge ei­nes schrecklichen Grubenunfalls – jedenfalls sieht es ganz da­nach aus. Er kann mit Mühe eine Totalkatastrophe verhindern, aber es gibt eine Reihe von Toten.

Verantwortlich für den Zwischenfall wird der Gewerkschaftler Jim Higgins gemacht, aber Bell zweifelt diese Urheberschaft mit Recht an. Als er versucht, den inzwischen Verhafteten zu befra­gen, wird er von einem Unbekannten aus der aufgebrachten Menschenmenge beinahe erschossen … und das Ende vom Lied ist Bells Beteiligung an einer Häftlingsbefreiung, bei der das Ge­fängnis abbrennt und er sich schließlich mit der bildschönen und sozialistisch engagierten Schwester Jims, Mary Higgins, via Zug auf der Flucht befindet. Und er hat einen ernsten Verdacht: die Gewerkschaftsbewegung soll von höherer Stelle durch einen Provokateur ausgenutzt werden, um einen sozialen Konflikt in einen bürgerkriegsähnlichen Zustand eskalieren zu lassen und die Macht der besitzenden Schicht zu festigen.

Er macht sich auf den Weg, Van Dorn zu überzeugen, und mit einem kleinen Team altgedienter Ermittler folgt er mühsam den geschickt vertuschten Fährten des Provokateurs, der tatsächlich existiert. Während er allerdings weithin im Dunkeln tappt und zunehmend entdecken muss, dass sein bernsteinäugiger, lange namenloser Feind höchst raffiniert und absolut gnadenlos ist – und immer einen Schritt voraus – , verbündet sich dieser mit ei­nem Wall Street-Magnaten, Judge James Congdon, um diesem zu mehr Macht zu verhelfen.

Erschwert wird die Angelegenheit durch mehrere Faktoren wei­ter. Zum einen ist der Junggeselle Bell alsbald ordentlich in die intelligente Mary verschossen, die andererseits bald entdeckt, dass er ein Detektiv ist und von ihr mithin als Agent der Eigen­tümerklasse abgelehnt wird. Zum anderen verfolgt Jim Higgins ehrenwerte soziale Ziele, ist aber strategisch auf geradezu be­klagenswerte Weise naiv. In der Streikbewegung geben mehr­heitlich die Radikalen den Ton an – exakt das, was sich der intri­gante Saboteur wünscht, der Gewalt auf beiden Seiten der Fron­ten anzetteln will. Dafür geht er buchstäblich über Leichen, sprengt Schiffe in die Luft, zerstört Gewerkschaftshäuser und hetzt inkognito Arbeiter wie Ordnungskräfte gegeneinander auf. Schließlich werden sogar Van Dorn-Agenten ermordet, und Isaac Bell gerät in eine immer prekärere Lage, als sich die Situation zuspitzt. Dass Mary den Radikalen zuneigt, macht die Angele­genheit noch heikler.

Joseph Van Dorn mahnt, Bell solle möglichst nicht Partei ergrei­fen – aber das erweist sich als unmöglich. Und als sie herausfin­den, wer der Provokateur ist, reagiert der Agenturgründer kurz­schlüssig … denn er selbst ist es gewesen, der dieses Monster geschaffen hat, das er nun in den Abgrund zurückstoßen will, aus dem es gekommen ist …

Als ich mit der Lektüre des Romans begann, nahm ich auch an, er müsse mit „Der Streiker“ übersetzt werden, da es sehr um die Person des Gewerkschaftlers Jim Higgins ging (der Klappen­text erzählt allerdings Blödsinn, denn er kommt bei dem Minen­unglück nicht ums Leben!). In Wahrheit kristallisiert sich bald heraus, dass es „Die Streiker“ übersetzt werden müsste, weil es schließlich um Abertausende von Personen geht. Und interes­santerweise ist die Lage im Herbst des Jahres 1902 auf bizarre Weise ein Spiegelbild der aktuellen Situation im heutigen Ameri­ka – das ein tief gespaltenes Land ist. Dort verlaufen die Fronten allerdings nicht rein politisch zwischen republikanisch und de­mokratisch, sondern zwischen Besitzenden und Arbeitenden, und die Auseinandersetzungen sind von einer atemraubenden Brutalität. Es wird schnell verständlich, warum Bell sich die Sa­che der Streikenden zu Eigen macht und massiv in die Gescheh­nisse eingreift, auch wenn er das gar nicht soll.

Herausgekommen ist eine Geschichte, die weitaus dramatischer als der Vorgängerroman „Meeresdonner“ ist, und selbst wenn ich personell manchmal den Faden verlor, weil Scott doch viele Protagonisten der vorherigen Romane wieder auftauchen lässt, an die ich mich z.T. nur noch vage erinnerte, muss ich doch at­testieren, dass dieser Isaac Bell-Roman das Niveau der vergan­genen Werke mühelos halten konnte und, was den sozialen Im­petus angeht, sogar noch ein gutes Stück zu steigern wusste.

Wer sich gern in das Jahr 1902 und die frühe Zeit der Van-Dorn-Detektei einfühlen möchte und in die damals noch junge und re­bellische Gewerkschaftsbewegung, der ist hier wirklich richtig am Platz.

Guter Geschichtenstoff, der mir sehr gefallen hat. Eine klare Le­seempfehlung.

© 2020 by Uwe Lammers

In der kommenden Woche mache ich mal eine seltene Ausnah­me von der Regel. Da kümmere ich mich diesmal nicht um ein Buch, sondern um einen recht aktuellen Kinofilm, der mich nachhaltig beeindruckte.

Mehr dazu in der kommenden Woche.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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