Liebe Freunde des OSM,
wer mich kennt bzw. schon länger meinem Blog folgt, der wird längst verstanden haben, dass ich als studierter Neuzeithistoriker ein Fan von Alternativweltgeschichten bin. Ich bin da ganz auf der Seite des Historikers Alexander Demandt, der mal sinngemäß urteilte, historische Spekulationen des „Was wäre wenn“ seien keine müßige Zeitverschwendung, sondern würden vielmehr das eigentliche Potenzial von Geschichte sichtbar machen, insbesondere an den charakteristischen Wendepunkten der Historie.
Wir brauchen gar nicht im Abstrakten zu verharren. Schauen wir uns die jüngere Geschichte an, so stoßen wir an vielen Stellen auf Entscheidungen, die reale Geschichte wurden, die selbst gestandene Zeitgenossen konsternierten und völlig undenkbar schienen. Ob es sich dabei um dem Mauerfall 1989 handelt, um das Ende der Sowjetunion 1991, um den Aufstieg von Bündnis 90/Die Grünen zur arrivierten Regierungspartei, um die Wahl eines offensichtlich egomanischen Demagogen zum US-Präsidenten (oder dem eines Schwarzen zum Präsidenten) … viele hätten solche Ereignisse eigentlich für undenkbar erklärt. Und dennoch ist das unsere heutige Geschichte.
Zu jedem einzelnen dieser Ereignisse und unzähligen anderen aus dem Ablauf der Geschichte kann man sich alternative Deutungen denken. Vielfach hingen die Entscheidungen von scheinbar irrealen „Hinge-Faktoren“ ab: vom Wetter, von widrigen Verkehrsverhältnissen, von unvermittelten Krankheiten, kinderlosen Heiraten, militärischen Desastern, verdorbenen Speisen und vielem mehr.
Die Vielgestaltigkeit alternativer Entwicklungen der Geschichte macht eigentlich deutlich, wie vieles, was wir heutzutage für selbstverständliche Fakten der Geschichte halten, auch ganz anders hätte geschehen können. Und damit sind wir in der Arena der alternativen Geschichte, auf die ich euch heute mit Vergnügen loslasse. Auch wenn diese Storysammlung inzwischen nur noch antiquarisch zu haben ist, lohnt sie jede Stunde der Lektüre, ihr werdet es rasch merken:
Wenn Napoleon bei Waterloo gewonnen hätte
(OT: If It Had Happened Otherwise)
Parallelweltgeschichten
Herausgegeben von J. C. Squire
Heyne 6310
400 Seiten, TB
August 1999
ISBN 3-453-14911-4
„Wenn es anders gekommen wäre“ (If It Had Happened Otherwise) lautete der Originaltitel dieser Storysammlung, die für sich genommen schon eine Antiquität ist. Der Band ist ursprünglich nämlich im Jahre 1931 (!) erschienen und würdigte die damals im Schwange befindliche „Manie“ von Scheideweg-Geschichten, die der britische Historiker Sir George Trevelyan mit seinem Essay „Wenn Napoleon die Schlacht von Waterloo gewonnen hätte“ gewissermaßen begründet hatte. Diese im Juli 1907 (sic!) von der Westminster Gazette prämierte Geschichte findet sich in diesem Buch wieder. Sie war auch in der Originalsammlung vertreten.
Vierzehn parallele Wirklichkeiten präsentieren sich hier dem geneigten Leser, und es handelt sich sämtlich um faszinierende bis abstruse Darstellungen, die in einem wesentlichen Punkt von unserer bekannten Geschichte abzweigen, zum Teil mit verstörenden Folgen.
Einige dieser Geschichten könnten – wie mir – bereits aus dem HEYNE SF-MAGAZIN bekannt sein, in denen Wolfgang Jeschke in früheren Jahren ein paar abdrucken ließ (so die Geschichte von H. A. L. Fisher und von Winston Churchill). Die anderen jedoch sind zum Teil atemberaubend:
In Wenn die Mauren in Spanien gesiegt hätten lässt die Zeitweiche im Jahr 1492 bei Granada die Richtung wechseln. Die spanische Reconquista ist im entscheidenden Moment erfolglos. Die Mauren triumphieren und treiben die spanischen Herrscher in die Flucht. Ferdinand von Spanien stirbt ein Jahr darauf, Isabella begibt sich ins Kloster und warnt bis zu ihrem Tod im Jahre 1512 vor einem erneuten Angriff auf die maurische Macht. In späteren Jahrhunderten führt das unter anderem dazu, dass ein bekannter Mann namens Benjamin Disraeli Großwesir im Königreich Granada wird. Und das ist nur ein Teil dieser Vision, die bis April 1919 führt …
G. K. Chesterton, eigentlich für Krimis bekannt, beschreibt in seiner Vision Wenn Don Juan d’Austria Maria Stuart geheiratet hätte eine Veränderung der britischen Politik, die die starke Position Elizabeths I. von England unmöglich gemacht hat und damit auch die Katastrophe der Spanischen Armada von 1588 nie geschehen ließ …
Wenn Ludwig XVI. eine Spur von Festigkeit gezeigt hätte, dann wäre wohl laut dem französischen Schriftsteller André Maurois die Französische Revolution nicht ausgebrochen. Bekanntermaßen entließ er auf Drängen der Adeligen den Minister Turgot, als dessen Reformen ihre Pfründe antasteten. Doch wäre das NICHT geschehen, nun, dann hätte er gewiss seinen Kopf nicht verloren …
Die Perspektive eines gerade verstorbenen Historikers, der von einem Erzengel in das „Archiv der nichtverwirklichten Möglichkeiten“ geführt wird, ist natürlich eine schriftstellerische Figur, die besonders für mich als angehenden Historiker UND Schriftsteller von beträchtlicher Faszination ist.
Hilaire Belloc nimmt einen noch banaleren Anlass zum Ausgangspunkt SEINER Version, um die Französische Revolution scheitern zu lassen. Bei ihm ist in der Geschichte Wenn Drouets Karren stecken geblieben wäre die Handlung schon weiter: die königliche Familie ist auf der Flucht, und der Soldat Drouet, der die Kutsche kommen hört, versucht verzweifelt, die Straße mittels eines Karrens zu blockieren, der allerdings im Finstern angekettet ist. Drouet ist erfolglos, und das hat schwere Folgen …
Wenn Napoleon nach Amerika entkommen wäre, vom britischen Historiker Herbert Albert Laurens Fisher (+1940) verfasst, liest sich ungemein faszinierend. Aus der Sicht eines jungen amerikanischen Lehrers, der Napoleons Ankunft im August 1815 in Boston miterlebt, breitet sich das Panorama der Aktivitäten des rührigen Korsen aus, der zunächst versucht, die Amerikaner zum Aufstand gegen die Franzosen und Briten aufzustacheln. Als dies misslingt, wendet er sich nach Südamerika und sucht sich einen charismatischen Verbündeten. Er findet ihn schließlich in niemand Geringerem als Simon Bolivar …
Bizarr schildert Harold Nicolson den Verlauf der weiteren Karriere des Schriftstellers Lord Byron in der Geschichte Wenn Byron König von Griechenland geworden wäre. In der Fassung eines Schriftstellers, der Byrons alias König Georg von Griechenlands heldenhafte Vergangenheit klarstellen will, erfährt man eine Menge Indiskretionen hierüber. Und wie Byron eigentlich gegen seinen Willen zur griechischen Galionsfigur wurde …
Wenn Lee die Schlacht von Gettysburg nicht gewonnen hätte, wäre laut Winston Churchill über kurz oder lang die E.S.A (Englisch sprechende Assoziation) entstanden, die die Gegensätze zwischen Nord- und Südstaaten endgültig überwunden hätte – allerdings erst nach jahrzehntelangem, erbittertem Wettrüsten zweier amerikanischer Staaten in ein und derselben Bündnisstruktur – und die schließlich erfolgreich als weltweit größte Militärmacht 1914 in Europa interveniert hätte. Eine faszinierende Vision, die umso beklemmender über 70 Jahre nach Abfassung wirkt in Anbetracht all dessen, was WIRKLICH geschah …
Wenn Booth Präsident Lincoln verfehlt hätte, hätte man, wie Milton Waldman ausführt, vermutlich herausgefunden, dass er viel autokratischer regierte als zu erwarten war. In dieser Welt, die er als Kritiker einer lincoln-apologetischen Buchpublikation beschreibt, schneidet der Präsident nicht sonderlich gut ab. Und was sein Ende angeht, nun … das ist doch etwas überraschend.
Sehr bemerkenswert möchte ich die Geschichte Wenn Kaiser Friedrich III. nicht Krebs gehabt hätte von Emil Ludwig hervorheben. Nach seiner Vorstellung wäre dann das so genannte „Dreikaiserjahr“ 1888 anders verlaufen. In diesem Jahr starb Kaiser Wilhelm I. im Alter von 91 Jahren. Kronprinz Friedrich aber plagte zu dieser Zeit eine schmerzhafte Erkrankung des Kehlkopfes, und die Ärzte diagnostizierten Krebs, der unbedingt operiert werden müsse. Beides führte schließlich zu Friedrichs Tod nach nur 99 Tagen Regentschaft, so dass ihm der junge Prinz Wilhelm II. auf den Thron folgte – und schließlich den Ersten Weltkrieg maßgeblich mit auslöste. Doch wenn Rudolf Virchow SICHER gewesen wäre, dass es sich NICHT um Krebs handelte, wenn Friedrich überlebt und auch keineswegs Bismarcks Entlassung angestrebt hätte, dann wäre es denkbar gewesen, dass sich die Geschichte in die Richtung entwickelte, wie Ludwig sie laufen lässt – die Konsequenzen sind schier atemberaubend …!
Die Geschichte des Herausgebers J. C. Squire schließlich bringt den Leser auf die Fährte einer unglaublichen Enthüllungsstory. Was wäre wohl passiert, wenn 1930 entdeckt worden wäre, dass Shakespeares Werke in Wirklichkeit von Bacon stammen. Was sich aus den anfänglichen „Wühlarbeiten“ (im wörtlichen Sinn!) des Professor Skinner J. Gubbitt von der Jones University in Rhode Island auf dem alten Grundstück von Lord Verulam alias Francis Bacon ergibt, dürfte insbesondere für Shakespeare-Fans eine veritable Schockstory sein. Wenn man auf einmal beim Schlachter „ein Stück Shakespeare“ bestellt (weil man Schinken haben möchte) und was um alles in der Welt mit dem „Verräter“ Shakespeare passiert, der sich Bacons Werke „unter den Nagel“ gerissen hat, das reizt wirklich die Lachmuskeln und stellt gute Unterhaltung dar. Aber dann ist natürlich noch immer eine Frage offen: Wer um alles in der Welt hat denn nun, wenn BACON Shakespeares Werke schrieb, BACONS Werke verfasst …?
Bei der nächsten Geschichte, die in jeder Hinsicht gewöhnungsbedürftig ist, wäre es sehr sinnvoll gewesen, wie bei den anderen einen kurzen Abriss der wirklich historischen Ereignisse voranzustellen. Wenn der Generalstreik erfolgreich gewesen wäre ist nämlich nichts anderes als der Auszug einer imaginären Zeitung vom 31. (sic!) Juni 1930, in der von verstörenden und völlig verwirrenden Dingen die Rede ist: von einer Klage der Bergbauunternehmer, die gerne dichtmachen würden, aber nicht können; von einem Milchsee im Hyde-Park; von Phantomstreiks; von der BBC, die versucht, Karl Marx „Kapital“ als Zwangsvorlesung an die Zuhörer zu bringen – und vieles mehr. Das meiste bleibt selbst für Historiker wie mich unverständlich. Wenn man sich nicht sehr gut mit der britischen Geschichte der Weltwirtschaftskrisenzeit auskennt, ist man hier wohl hoffnungslos verloren.
Wenn: Eine Jakobitische Phantasie nimmt wieder ein sehr reales Ereignis aufs Korn, das für mich als Leser sehr gut nachvollziehbar war. Der Grund lag in der Lektüre des Romanzyklus von Diana Gabaldon, der ja vor dem Hintergrund des Jakobitenaufstandes von 1745 spielt.1 Diese Geschichte von Charles Petrie, am 30. Januar 1926 in The Weekly Westminster abgedruckt, geht davon aus, dass Charles Stuart siegreich blieb und England gewissermaßen katholisiert wurde. Bedauerlicherweise ist sie sehr kurz. Seufz …
Sir George Trevelyan nimmt in seiner titelgebenden Geschichte Wenn Napoleon die Schlacht von Waterloo gewonnen hätte an, dass mit dem 26. Juni 1815, als Napoleon die Konvention von Brüssel unterzeichnen ließ, seine kriegerische Phase endete und ein „Napoleon des Friedens“ das Ruder des französischen Staates ergriff. Die Vision ist bestechend und beeindruckend. Was Trevelyans neuer Napoleon bis zu seinem Tod im Jahre 1836 noch alles bewegt, ist außerordentlich lesenswert und die Prämie, die er verdiente, auf jeden Fall wert …
A. P. Taylors Werk Wenn Erzherzog Ferdinand seine Frau nicht geliebt hätte weicht von den anderen Skizzen, Geschichten, Zeitungsartikeln usw. insofern ab, als er die realen Hintergründe erzählt, die zur Entstehung des Ersten Weltkriegs geführt haben. Nur zum Schluss ändert sich das. Aber hier ist das Abstraktionsvermögen des Lesers in hohem Maße gefordert …
Insgesamt betrachtet ist dieses Werk lange überfällig gewesen. Ein Buch, das erst nach fast 70 Jahren vollständig ins Deutsche übersetzt wird, ist eher ein Trauerspiel als irgendetwas anderes. Dennoch: gut ist es, dass man das überhaupt gemacht hat. Lesenswert sind fast alle der Geschichten. Und wenn man sich für Geschichte ebenso interessiert wie für Phantastik, dann kommt man hierbei ganz gewiss auf seine Kosten. Geschmückt von einem beunruhigenden Cover von Thomas Thiemeyer – das einen alternden Kaiser Napoleon vor einer ruinenbedeckten Welt mit Atompilz im Hintergrund zeigt, was leider in keiner Weise der Titelgeschichte entspricht – ist das Buch eine Zierde für jedes Regal eines jeden Phantasten, der Alternativweltgeschichten zu schätzen weiß …
© 2001 / 2009 by Uwe Lammers
In der kommenden Woche machen wir einen Besuch im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts und verfolgen den Pfad eines Detektivs, der einer Verschwörung auf die Spur kommt.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. Diana Gabaldon: „Feuer und Stein“, „Die geliehene Zeit“, „Ferne Ufer“, „Der Ruf der Trommel“, „Der magische Steinkreis“, „Das flammende Kreuz“ und (bisher) „Ein Hauch von Schnee und Asche“ (Stand: Februar 2009).