Rezensions-Blog 482: Die Begehrte (1)

Posted November 12th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

italienische Autorinnen, die erotische Literatur schreiben – oder solche Romane, die gern als solche gelabelt werden, sind selten in meiner Bibliothek, das sei zu Beginn erst mal eingestanden. Das hat nichts mit Qualität zu tun, es ist einfach eine Frage der Verfügbarkeit. Ich bin da nicht irgendwie festgelegt oder sortie­re bestimmte Länder aus. Das scheint mir völlig nutzlos zu sein und nur ein Ausweis eines begrenzten Literaturhorizontes oder anderweitiger, ebenso wenig haltbarer Vorurteile.

Zugleich muss ich zugeben, dass mich das vorliegende Buch überrascht hat. Als ich es 2017 las, mehrheitlich, weil mich die haptischen Eindrücke so faszinierten, da nahm ich – naturge­mäß – an, das Werk fiele in die Kategorie „Erotischer Roman“. Tatsächlich verhält es sich durchaus anders, auch wenn es deut­lich expliziter Liebesszenen nicht entbehrt.

Aber worum es in der Geschichte der schönen jungen Lehrerin Eleonora Contardi tatsächlich geht, das solltet ihr besser im Fol­genden nachlesen:

Die Begehrte

(OT: L’oltraggio)

Von Sara Bilotti

Blanvalet 0580

336 Seiten, TB (2016)

ISBN 978-3-7645-0580-6

Aus dem Italienischen von Bettina Müller Renzoni

Eleonora Contardi ist wirklich nicht vom Glück gesegnet. Die junge Lehrerin ist aus Rom geflüchtet, weil sie dort in einer un­befriedigenden Beziehung zu dem wesentlich älteren Roberto stand und einfach nur ausgenutzt wurde. Sie brauchte Abstand zu den Dingen, und der einzige Ort, der ihr einfiel, war Bruges – ein kleines, idyllisches Anwesen in der Toskana, wo ihre Kind­heitsfreundin Corinne lebt, die sie seit fünf Jahren nicht gesehen hat.1 Eleonora weiß, dass Corinne dort zusammen mit dem er­folgreichen Geschäftsmann Alessandro Vannini lebt.

Gleichwohl wirkt sie in Bruges wie ein Fremdkörper, und das merkt sie sehr schnell, ebenso, dass die kleine Gemeinschaft in Bruges Geheimnisse hat, sehr seltsame und beunruhigende Ge­heimnisse. So hängt beispielsweise der Haussegen zwischen Corinne und Alessandro gründlich schief. Während sie sich der Hoffnung hingibt, er würde sie lieben, erweist sich der in jeder­lei Weise zuvorkommende und liebenswürdige Alessandro als eine Person, die mehr eine Heiligenfigur ist als irgendetwas sonst. Jemand, der sich kaum bis gar nicht öffnet, unverbindlich ist und immer nur kurzfristig für eine Frau entflammt. Für Corin­ne ist das zu wenig … und für Eleonora bald reichlich verstö­rend, da sie sich von ihm angezogen fühlt, ungeachtet seiner scheinbaren Unnahbarkeit.

Dann ist da noch sein Bruder Maurizio, der mit der stets unzu­frieden wirkenden Denise verheiratet ist, und der dritte Vannini-Bruder Emanuele, der bei einem alten Künstler namens Raffaele und dessen Freundinnen auf einem nahen Hof wohnt, bringt Eleonora dann endgültig aus dem Gleichgewicht. Wo Alessandro unerträglich ruhig und distanziert ist, ist Emanuele eine Art von schwarzem Schaf der Familie. Er macht keinen Hehl daraus, dass er bereitwillig jede Frau in weitem Umkreis flachlegt, und zu ihrer nicht geringen Bestürzung gelingt ihm das mit seiner animalischen Anziehungskraft auch mit Eleonora. Dabei zieht es sie doch eigentlich zu Alessandro hin … der wiederum mit Corin­ne zusammen zu sein scheint, von ihr aber immer weniger wis­sen möchte.

Und dann diese Andeutungen. Diese Rätsel.

Was ist dran an der Geschichte, dass Alessandro ein Verhältnis mit der Kultursachverständigen Michela hat? Hat er tatsächlich – wie behauptet wird – auch mal ein Verhältnis mit Denise ge­habt? Und haben sich Emanuele und er die Frauen untereinan­der geteilt und sie anschließend auf sichere Distanz „abgescho­ben“? Und dann … wie ist das mit dem geheimnisvollen Trauma der Vergangenheit? Emanuele ist angeblich in der Kindheit ent­führt worden und wochenlang von Erpressern gefangen gehal­ten worden. Hat das zu seiner Verhaltensweise der Gegenwart geführt? Oder sind die Dinge in Wahrheit ganz anders? Warum hat Eleonora das beunruhigende Gefühl, Teil einer bühnenreifen Inszenierung zu sein, bei der auf derbe Weise mit ihrem Herzen Ball gespielt wird? Und wo um alles in der Welt ist ihr eigener Platz in dieser seltsamen Welt …?

Die Trilogie von Sara Bilotti ist rein optisch ein faszinierender, sinnlicher Genuss, und allein deshalb hat sie mich schon vor Monaten durchaus gereizt. Der Preis von 14.99 Euro pro Band schreckte mich jedoch jedes Mal durchaus davon ab. Gemessen etwa an dem Preis des neuesten Werkes von Peter F. Hamilton, wo man für 20 Euro gut 900 dicht bedruckte Seiten bekommt, schien mir das Preis-Leistungs-Verhältnis hier in keiner Weise gegeben zu sein. Ich neige dann dazu, solche Werke antiqua­risch für einen Bruchteil der ursprünglichen Kaufsumme zu er­werben. So war es auch hier.

Der Roman wusste zu überraschen. Es handelt sich nicht eigent­lich um einen erotischen Roman, wie ich annahm, sondern eher um ein familiäres Beziehungsdrama, das aber faszinierend in­szeniert ist. Es braucht eine ganze Weile, die komplizierten Be­ziehungsdetails zu klären, und der Leser ist darum anfangs ähn­lich orientierungslos wie Eleonora Contardi selbst. Und schnell gerät man in eine vergleichbare Lage wie sie und wünscht sich, das Dickicht aus Lügen, Halbwahrheiten und Vorspiegelungen durchbrechen und die Quellen der Probleme ausfindig machen zu wollen. Die Autorin bleibt dabei ihrer Erzählperspektive treu, bleibt aber manchmal doch zu unentschieden und distanziert, um intensives Miterleben zu ermöglichen … das hat damit zu tun, dass Eleonora selbst Geheimnisse mit sich herumschleppt und Selbstreflexivität nicht zu ihren Stärken gehört. So hat sie beispielsweise eine Narbe, die mit einem Tattoo kaschiert ist, über deren Ursprung sie nie etwas sagt.

Auch als sie schließlich eine Entscheidung zwischen den beiden Männern fällt, von denen sie begehrt wird – weswegen der Titel des Bandes durchaus treffend gewählt ist – , spürt man deutlich, dass das noch nicht das Ende vom Lied ist. Es bleibt interes­sant, es gibt noch unaufgehellte Kapitel der Vergangenheit, und die Zukunft ist nach wie vor offen. Ich bin neugierig, wie sich die Geschichte entwickelt.

Für Leser, die hier einen erotischen Roman im Stile der Plaisir d’Amour-Reihe erwarten, ist das Buch sicherlich enttäuschend, wer sich hingegen für die Tiefen der menschlichen Beziehungs­geflechte interessiert, wird hier spannenden Lesestoff vorfinden.

Einwandfreie Leseempfehlung.

© 2017 by Uwe Lammers

Da dem vorliegenden Roman noch zwei weitere folgen, ver­schiebe ich weitere Erörterungen auf später. Ich deute nur noch an, dass wir uns in der kommenden Woche an dieser Stelle auf das Glatteis der kontrafaktischen Geschichte begeben werden – ein Glatteis, das für mich bislang auch in Jahrzehnten nicht an Faszination eingebüßt hat. Vielleicht lasst ihr euch von diesen Ideen neugierig machen und inspirieren.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Wobei „Kindheitsfreundin“ ihr angespanntes Verhältnis nicht wirklich präzise be­schreibt, es ist sehr viel konfliktträchtiger. Von einer „Einladung“ auf ihr Landgut, wie es der Klappentext suggeriert, kann übrigens auch nicht die Rede sein.

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>