Liebe Freunde des OSM,

der Titel des Buches, das ich euch heute mal als interessante Lektüre ans Herz legen möchte, klingt wahlweise nach einem Fiebertraum oder einer nationalpatriotischen Wunschvorstel­lung. Das dachte ich vor knapp 15 Jahren, als ich es las, eben­falls … aber nicht lange.

Was wir hier vor uns haben, ist eine überaus feinsinnig ausge­führte historische Vergleichsanalyse, die die bekannten Fakten durch ein eher unsichtbares Raster leitet und zu interessanten Schlussfolgerungen kommt.

Wenn ihr ein wenig historisch interessiert seid und mal über simple Schlussfolgerungen zu etwas anspruchsvolleren Argu­mentationen übergehen möchtet, empfehle ich euch wärms­tens, hier weiterzulesen. Es lohnt sich.

Wie Deutschland den Ersten Weltkrieg gewann

von Benjamin Richter

Olzog-Verlag, München 2008

128 Seiten, TB

ISBN 978-3-7892-8253-9

Das Deutsche Reich hat den Ersten Weltkrieg verloren, das ist eine historische Tatsache. Der im Sommer 1914 begonnene Krieg, damals noch nicht als Weltkrieg absehbar und auch so von Anfang an nicht konzipiert, wucherte im Verlauf von vier Kampfjahren zu einem monströsen, mörderischen Geflecht von erbitterten Feindschaften und Zwängen, in dem offenkundig kei­ne Seite zuerst klein beigeben wollte. Doch als am 4. Oktober 1918, als das Deutsche Reich die Alliierten um einen Waffenstill­stand bat, der dann am 11. November 1918 in Kraft trat, stand für die Weltgeschichte eigentlich unumstößlich fest: das Deut­sche Reich, mit Abstand die treibende Kraft in dem Konflikt, hat­te das Ringen verloren. So steht es in den Geschichtsbüchern. Von anderen Dingen träumen allenfalls Phantasten oder Unver­besserliche.

Es ist darum verständlich, dass das Buch von Benjamin Richter, das ja just das Gegenteil der historischen Tatsachen zu be­schreiben schien, meine Neugierde weckte, sowohl als Histori­ker mit einem Neigungsschwerpunkt Erster Weltkrieg als auch als tätiger Phantast mit starkem Interesse an kontrafaktischer Geschichte.

Um eines vorwegzunehmen: Es handelt sich nicht um eine Phantasie, also nicht um eine kontrafaktische Ausarbeitung, wie das hätte aussehen können, wenn Deutschland tatsächlich, den Tatsachen zuwider, im Jahre 1918 (oder wann auch immer) den Ersten Weltkrieg gewonnen hätte. Eine solche höchst reizvolle, wiewohl auch äußerst anspruchsvolle Ausarbeitung harrt bis heute ihrer Realisierung. Nein, Richter hält sich strikt an die rea­len Fakten.

Dr. Benjamin Richter (Jahrgang 1977), tut vielmehr etwas ande­res. Wiewohl er kein Historiker ist, sondern Philosophie und Poli­tikwissenschaft studiert hat und inzwischen als Journalist arbei­tet, hat er sich des Themas des Ersten Weltkrieges angenom­men, um es gewissermaßen gegen den Strich zu bürsten.

Seine grundlegende These lautet nämlich: Wenn man unvorein­genommen auf den Krieg zugeht und sich einmal jenseits des Versailler Friedensschlusses und seiner Konsequenzen ansieht, für was für Ziele die einzelnen Nationen in den Krieg gezogen sind und ob und wenn ja, wie sie ihre Ziele erreicht haben, was für einen Schluss muss man dann daraus ziehen? Schon im Vor­wort kommt der Verfasser dadurch zu dem Schluss, dass alle Kriegsziele eigentlich verfehlt worden sind … bis auf die, derent­wegen die Deutschen in den Kampf zogen. Und deshalb, so zieht er Bilanz, hätte prinzipiell Deutschland den Krieg gewon­nen. So kommt er zu dem Titel.

Folgerichtig ist das Buch auch in fünf Hauptkapitel aufgeteilt, ein Resümee und einen bescheidenen Anhang von Endnoten und Karten. Jenseits der Einleitung führt uns das Kapitel 2 „Das Erbe Richelieus“ zur französischen Regierung. Und hier beschert sowohl der gut lesbare Stil des Verfassers als auch sein recht unerwarteter Blickwinkel eine Erleuchtung, was den bislang als wahnwitzig betrachteten „Plan 17“ des dortigen Generalstabs angeht.

Richter arbeitet nämlich heraus, dass es der französischen Füh­rung nur in zweiter Linie um „Revanche für 1870/71“ ging. Er blickt tiefer zurück, bis ins 17. Jahrhundert, und sein durchaus begründeter Schluss aus den politischen Plänen seit Kardinal Ri­chelieus Tagen führt dahin, dass es das Ziel der französischen Außenpolitik sein musste, Bismarcks Einheitswerk zu destabili­sieren, die als desaströs begriffene Nationenbildung Deutsch­lands rückgängig zu machen und Deutschland als Gesamtstaat zu zerteilen, um seine Macht dauerhaft zu brechen.

Es lässt sich nicht leugnen, dass auch der Versailler Friedensver­trag, der massiv von französischem Territorialinteresse diktiert wurde, genau in diese Richtung zielt. Gleichwohl hat Richter Recht – Frankreich hat zwar den Krieg faktisch gewonnen (mit alliierter Unterstützung), aber das eigentliche Kriegsziel, die Zerteilung Deutschlands, wurde nur höchst partiell erreicht und später von Hitler revidiert.

Unter „Der Griff nach Konstantinopel“ widmet sich der Verfasser der russischen Kriegszielproblematik. Hier muss er noch weiter zurückgehen, nämlich bis 1453, zum Sturz des byzantinischen Großreichs und der Flucht der dortigen Eliten nach Russland. Wenigstens bis zum Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts bin ich geneigt, Richter zuzustimmen, dass Russlands Politik wenigs­tens partiell dahin tendierte, Konstantinopel wieder zurück zu gewinnen bzw. die orthodoxe Herrschaft über die Stätten des Heiligen Landes sicherzustellen (was natürlich mit den Franzo­sen, Türken und anderen Mächten kollidierte). Eine zweite Stoß­richtung war die panslawistische Bewegung Richtung Balkan und die dortige Hegemonialstellung, die sich bis direkt in die Anfangstage des Ersten Weltkriegs verfolgen lässt und den di­rekten Konflikt mit Österreich-Ungarn herausforderte.

Der Wunsch, in der Konfrontation mit Österreich-Ungarn sieg­reich zu bleiben und Russland mithin mehr Einfluss auf dem eu­ropäischen Kontinent und vielleicht auch im Bereich des Bospo­rus zu sichern, wird also als zentrales Kriegsziel Russlands defi­niert, das mehr in den Konflikt hineingezogen wurde, als dass es ihn direkt gesucht hätte. Doch wie endete der Krieg für Russ­land? Durch das vorzeitige Ausscheiden aufgrund der bolsche­wistischen Revolution 1917 und das Zurückdrängen hinter die polnische Ostgrenze verlor Russland nahezu allen politischen Einfluss auf Deutschland und Zentraleuropa. Wahrhaftig – ein Sieger sieht anders aus.

Für England, charakterisiert der Autor im vierten Kapitel, war „Das europäische Gleichgewicht“ ausschlaggebend, und zwar schon seit vielen Jahrhunderten. Er geht in die vornapoleonische Zeit zurück, arbeitet den Antagonismus Frankreich-England her­aus und zeigt ebenfalls auf, dass die Briten kein Interesse an dem französischen Kriegsziel haben konnten, der Zerschlagung Deutschlands. Denn ihnen lag wahrhaftig nichts daran, ein star­kes Frankreich als neue Zentralmacht zu fördern. Hierin liegen für Richter auch die Wurzeln der Appeasement-Politik nach dem Ersten Weltkrieg, und das ist durchaus begründet. England musste vielmehr daran gelegen sein, das europäische Gleichge­wicht zu stabilisieren und zu verhindern, dass eine der Mächte zu stark wurde. Das Zauberwort hieß quasi: gleichmäßige Ent­kräftung aller Seiten.

Doch Österreich-Ungarn wurde planmäßig zerschlagen. Es ent­stand eine Pufferzone neuer Staaten im Osten Europas, Deutschland und Frankreich waren geschwächt, doch Deutsch­land erstarkte im Verlauf des Bestehens der Weimarer Republik vergleichsweise schnell, und von dem angestrebten europäi­schen Gleichgewicht blieb im Grunde nichts übrig. Auch die Bri­ten sind deshalb, wiewohl formell Sieger, grundsätzlich mit Blick auf ihr hauptsächliches Kriegsziel, Verlierer des Konflikts zu nen­nen.

Im Kapitel 5 „Krieg dem Kriege“ werden die Amerikaner als Krieg führende Nation charakterisiert. Zunächst isolationistisch, sich moralisch überlegen dünkend gegenüber dem „Sumpf“ eu­ropäischer Intrigen und Gemetzel. Als Präsident Woodrow Wil­son, mit Recht als Moralist alter Schule gezeichnet, endlich dem Morden in Europa nicht mehr länger zusehen konnte, kam er mit dem Prinzip, einen Krieg auszufechten, der alle künftigen Kriege beenden würde, mit einer Art von Kreuzzugsideologie nach Europa herüber, was zutreffend dem Weltkrieg ein ganz neues Gepräge gab. Amerika trat nicht in den Krieg ein, um Macht oder Territorien zu erobern, sondern um ein Ideal durch­zusetzen.

Das Ideal aber, mit diesem Konflikt und seinem siegreichen Aus­gang alle künftigen Kriege zu beenden, war wirklich zu hoch, um sich erfüllen zu lassen. Zu verbittert waren die europäischen Kombattanten, zu blutig das Schlachtengemetzel, zu verletzt die Völker – und der hehre Anspruch des amerikanischen Präsi­denten erwies sich als gar zu abgehoben. Zwar entschieden die frischen Truppen Amerikas den Krieg zugunsten der Alliierten, aber im Friedensvertrag von Versailles setzten sich die revan­chistischen Wünsche der Franzosen durch und vergifteten die Zukunft. Zwar entstand der Völkerbund, Wilsons Wunsch ent­sprechend, aber der amerikanische Kongress erteilte der Ratifi­zierung des Friedensvertrages eine Absage, und Amerika wurde kein Mitglied des Völkerbundes. Wilson erlitt bald darauf einen physischen Zusammenbruch und starb wenig später. Auch hier muss man leider sagen – dies ist keine Siegerstory, und Wilsons Idealismus kam zur Unzeit.

Auch Deutschland, dem Richter mit Abstand das längste Kapitel widmet (Kapitel 6: „Aufbruch der ‚Einkreisung’“, fast 40 Seiten lang), hatte sich nicht auf einen langen Krieg vorbereitet. Aber zumindest WAR es auf diesen Krieg vorbereitet, besser als die Nachbarstaaten. Nachdem im Jahre 1890 der neue Monarch, Wilhelm II., seinen alten Kanzler Bismarck aufs Altenteil ge­schickt hatte, verfiel Bismarcks bislang riskant, aber erfolgreich ausbalancierte Außenpolitik. Bismarck, der stets versucht hatte, Frankreich zu isolieren, wurde nicht mehr gehört, womit das ein­trat, wovor er stets gewarnt hatte: die „Einkreisung“ Deutsch­lands.

Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts waren aus Frankreich, Russland und England Verbündete geworden, die Deutschland umringten. Österreich-Ungarn mochte auf dem Papier territorial groß aussehen, doch militärisch war es in Wahrheit ein Papierti­ger – was sich im Weltkrieg mehr als einmal erweisen sollte und deutschen Beistand notwendig machte. Der militaristisch den­kende Kaiser Wilhelm II. sah die Lösung in einem schnellen, kurzen Krieg, für den nur der passende Anlass gefunden werden musste. Wirtschaftlich war Deutschland vor Ausbruch des Ers­ten Weltkriegs die mit Abstand stärkste Nation, sein Heer vor­züglich gedrillt und überproportional kampfstark. Und doch rüs­tete es sich wie in einer Zelle hoch, das Gefühl, die „Einkrei­sung“ schnüre die Luft zum Leben ab, je länger sie andauere, war weit verbreitet.

Also ein Befreiungsschlag. Für diesen Befreiungsschlag gab es Pläne, insbesondere den Schlieffen-Plan, der vorsah, im Falle ei­nes ausbrechenden Krieges zunächst unter Bruch der Neutrali­tät Belgiens in einem Gewaltmarsch zunächst gegen Frankreich zu marschieren und es niederzuwerfen. Sodann würden die Heere zur Ostfront zurücktransportiert werden, wo die „russi­sche Dampfwalze“ sehr allmählich mobil machen würde. So­dann sollte der Schlag gegen Russland erfolgen, was „unver­meidlich“ einen Friedensschluss von Seiten der Alliierten zur Folge haben würde. Deutschland würde dann darauf dringen, so sahen die Pläne es vor, im Osten Europas eine Reihe von Puffer­staaten unter deutschem Einfluss zu errichten, womit die Ein­kreisung ein für allemal enden müsse.

So war es geplant.

Wir wissen, dass es anders gekommen ist: Der Angriff durch Belgien blieb letzten Endes – unter anderem durch Verwässe­rungen des Schlieffen-Planes durch den neuen Generalstäbler Moltke – dicht vor Paris stecken und lief sich in einem bis dahin nie da gewesenen Grabenkrieg fest. Die Russen mobilisierten erschreckend viel schneller als erwartet. Die Österreicher ver­sagten bei dem Versuch, Serbien zu überrennen, außerdem er­wies sich die deutsche Hochseeflotte als völlig nutzlos, weil die Briten die See auch weiterhin beherrschten.

Richter sagt zutreffend, dass die Fachleute auf deutscher Seite bereits im Winter 1914 klar erkennen konnten, was die Stunde geschlagen hatte – dass der festgefahrene Krieg nicht mehr zu gewinnen sei. Intelligent wäre es gewesen, nun die Chance zu ergreifen und einen taktischen Rückzug einzuleiten. Diese Chance wurde vertan.

Auch die zweite Chance, als nämlich im Frühjahr 1917 die russi­sche Front zu zerbröckeln begann – die französischen Soldaten waren längst kriegsmüde und hätten möglicherweise einen ein­seitigen deutschen Rückzug auf die deutsche Grenze sehr be­grüßt und sich wahrscheinlich zu einem Kompromissfrieden be­reit gefunden – , wurde vom deutschen Generalstab ignoriert. Das lag wesentlich daran, wie der Verfasser sagt, dass im militä­rischen Führungsstab Erich Ludendorff inzwischen das Komman­do angab, der für solche Vorstellungen nicht zu haben war. Er wird hier als Hasardeur, als „Spieler“ charakterisiert, für den es nur „Alles oder Nichts“ gab, vollständiger Sieg oder vollständige Niederlage. Nicht umsonst ist es Ludendorff, der 1918 den Kapi­tulationsgedanken souffliert und sich danach aus der militäri­schen Verantwortung verabschiedet.

Gleichwohl: auch wenn Deutschland militärisch den Krieg ganz unübersehbar wenigstens in ein Patt gesteuert, bei Fortführung aber ganz bestimmt verloren hätte, muss man als Historiker Richter durchaus Recht geben: wenn es das zentrale Ziel des Deutschen Reiches war, die „Einkreisung“ aufzubrechen, so wurde dieses Ziel um einen sehr hohen Preis durchaus erreicht.

Natürlich kann man einwenden, dass das geschlagene und von Reparationen und territorialen Amputationen betroffene, demili­tarisierte Deutsche Reich wohl kaum siegreich genannt werden kann. Mit Recht würde man einwenden, dass die Isolation, in der sich Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg wieder fand, noch schlimmer als zuvor war … ja, aber nur auf Zeit. Bekanntlich zermürbte der geschlagene Koloss im Verein mit den desaströ­sen Erbschaften des Krieges die Nachkriegsordnung.

Die neu geschaffenen Staaten waren alles andere als stabil und selbstständig. Sie hatten mit Minderheitenproblemen zu kämp­fen, mit Freikorpseinflüssen, mit jederlei politischer Instrumen­talisierung durch umliegende Großmächte. Wirtschaftliche Kri­sen, politische Attentate, bürgerkriegsähnliche Unruhen, Streik­wellen, politische Radikalisierung … das alles war nicht auf Deutschland beschränkt, sondern suchte mehr oder minder ganz Europa heim.

Deutschland und Russland waren aus dem Völkerbund ausge­schlossen, ja. Aber die Parias Europas fanden sich in der Nach­kriegszeit zusammen, und spätestens, als die Reparationen ab­geschüttelt waren und die Verständigungspolitiker Stresemann und Briand eine zaghafte Annäherung der „Erzfeinde“ im Her­zen Europas versuchten, weichten auch die harschen Restriktio­nen des Versailler Vertrages auf.

Dass es letzten Endes Adolf Hitler sein sollte, der die Fesseln der Nachkriegsordnung endgültig über den Haufen warf und mit seiner schrankenlosen Kriegstreiberei das Maß der Dinge sprengte, ist eine böse Ironie der Geschichte. Doch formell be­trachtet, durch Benjamin Richters Brille, hatte Deutschland in der Niederlage schon zuvor das getan, was er behauptet: den Ersten Weltkrieg fast unabsichtlich doch noch gewonnen, we­nigstens vom Ursprungsziel her.

Infolgedessen ist dieses schmale, bescheidene Büchlein ein in­teressanter, sehr lesbarer Gedankenanstoß, den man auch His­torikern ans Herz legen kann. Ich denke, es lohnt sich.

© 2011 by Uwe Lammers

In der kommenden Woche reisen wir noch einmal deutlich wei­ter zurück, nämlich in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Da­mals erschien ein heute weithin vergessener, spannender SF-Roman eines Autors, der jetzt hoch betagt im Frühjahr 2024 ge­storben ist. Ich hatte diese Rezension erst kürzlich wieder in ei­nem alten Fanzine ausgegraben und digitalisiert.

Alles Weitere erfahrt ihr in der nächsten Woche.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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