Liebe Freunde des OSM,
ihr wisst, wenn ihr meinem Rezensions-Blog lange genug gefolgt seid, zur Genüge um meine Begeisterung für den einzigen beratenden Detektiv Londons am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts, geschaffen durch die Imagination des Arztes und Schriftstellers Arthur Conan Doyle. Die Rede ist natürlich von Sherlock Holmes.
Ich kenne den Kanon seiner Werke durchaus so gut, dass ich Anspielungen recht gut zuzuordnen verstehe. So horchte ich auf, als ich auf dieses Werk stieß, das durchaus auf analytische Weise einen Klassiker des Kanons gegen den Strich bürstete.
Das könnte interessant sein, dachte ich mir, besorgte das Buch und vertiefte mich darin … und fürwahr, interessant ist ein mächtiges Understatement für dieses raffinierte Werk, das auch den Kenner des Kanons ordentlich zu verblüffen weiß. Wer Holmes-Fan ist und es nicht kennt, sollte sich umgehend auf die Suche danach machen, denn die Lektüre lohnt in jeder Weise.
Vorhang auf für ein beeindruckendes Buch:
Freispruch für den Hund der Baskervilles
Hier irrte Sherlock Holmes
(OT: L’affaire du chien des Baskervilles)
Von Pierre Bayard
Kunstmann-Verlag, 2008
212 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-88897-529-5
Aus dem Französischen von Michael Keller
Whodunnit.
Das ist immer wieder die elementare, zentrale Frage, nicht zuletzt in Arthur Conan Doyles Werken über den Meisterdetektiv Sherlock Holmes. Denn üblicherweise geht es um Mord und Geheimnis, darum, ein Verbrechen aufzuklären, in das sich durchaus nicht selten scheinbar übernatürliche Dinge einmischen. Man kennt das als Holmes-Kenner etwa aus dem Fall des „Vampirs von Sussex“ und ähnlichen … aber ganz besonders natürlich aus dem legendären Fall des „Hundes der Baskervilles“.1
Wir erinnern uns: Sherlock Holmes bekommt eines Morgens Besuch in der Baker Street 221b. Der Landarzt Dr. Mortimer berichtet dem skeptischen Detektiv von unheimlichen Vorkommnissen in Dartmoor, in die die Familie seines Freundes Sir Charles Baskerville verwickelt ist. Er ist vor kurzem unter reichlich mysteriösen Umständen ums Leben gekommen, und allen Indizien zufolge war daran der Familienfluch schuld. Es geht nämlich die Mär um, dass ein Ahne von Sir Charles, Hugo Baskerville, einst ein sündhaftes Verbrechen mit Todesfolge beging und daraufhin von einem höllischen Hund zerfleischt wurde. Just diese Bestie soll nun wiedergekehrt sein.
Holmes ist naturgemäß ungläubig. Magie gehört nicht in sein Ressort, und er hält wenig von der Fluch-Hypothese. Als wenig später Henry Baskerville, der Erbe, in London eintrifft und sehr bereit ist, das Erbe von Sir Charles anzutreten, schickt Holmes seinen Adlatus Watson mit auf den Familiensitz der Baskervilles nach Dartmoor und behauptet, nachkommen zu wollen. Watson solle ihm regelmäßig über die Ereignisse berichten.
Die Dinge, die der Arzt vorfindet, sind reichlich verworren. Eine Reihe von dubiosen Personen treten auf, zum Teil im Haushalt, zum Teil auf dem Moor selbst. Lichter und Gestalten werden im Moor gesichtet. Es geht um einen entflohenen Sträfling und einen Naturforscher namens Stapleton und dessen Schwester Beryl. Dann taucht auch noch Laura Lyons auf, die sich letztlich als Geliebte von Stapleton entpuppt.
Ach ja, und der Hund hat seinen Auftritt, eine Bestie, leuchtend wie Phosphor, ein schieres Monstrum.
Nun, wir kennen die Geschichte und ihr Ende: Holmes entlarvt letzten Endes Stapleton als Verbrecher, der im Moor einen mit Leuchtfarbe angestrichenen riesigen Hund hütet und mit seiner Hilfe Sir Charles in den Tod gehetzt hat und schließlich auch noch – versehentlich – den Sträfling Selden umbringt, der Henry Baskervilles abgelegte Kleidung trägt. Als sich herausstellt, dass Beryl in Wahrheit Stapletons Frau ist und sowohl Kontakt zu Sir Charles als auch zu Henry Baskerville geknüpft hat, schließt Holmes die Indizienkette. Er verfolgt den flüchtigen Stapleton ins Moor, aber dieser wird nach allem Anschein Opfer seiner eigenen Pläne und versinkt im Morast. Die Spur des Hundes der Baskervilles verliert sich.
Soweit die Lesart, die uns Arthur Conan Doyle auftischt. Pierre Bayard, der schon andere Klassiker gegen den Strich gebürstet hat, rollt den Fall neu auf und weist durchaus präzise nach, dass das meiste, was der Leser vermittelt bekommt, durch die Brille voreingenommener Personen zugeleitet wird: Dr. Mortimer ist leicht zu beeindrucken und zutiefst beunruhigt, weil er an den Fluch der Baskervilles glaubt. Sir Charles war davon offensichtlich ebenfalls stark infiziert. Henry Baskerville ist zwar skeptisch, aber die Berichte verfasst ja Dr. Watson, so dass der Leser Watsons Sicht der Dinge zu sehen bekommt … und die ist ähnlich abergläubisch wie die von Dr. Mortimer, und das unheimliche Klima in Dartmoor tut das Übrige dazu, die Nerven noch weiter aufzureizen.
Bayard beginnt also mit einer akribischen literaturkriminalistischen Ermittlung, wobei nicht ohne Grund eingangs ein Zitat aus Jasper Ffordes „Der Fall Jane Eyre“ steht. Wir bekommen es in der Folge beispielsweise mit den „Immigranten des Textes“ und den „Emigranten des Textes“ zu tun, es wird der Realitätsgehalt der Fiktion und die Fiktionalität der Realität untersucht, und letzten Endes auch die Frage, wer denn wohl im „Hund der Baskervilles“ tatsächlich der Mörder war.
Bayards provokante These: der wahre Mord ist direkt vor den Augen von Holmes passiert, und Holmes´ Blasiertheit, die reale Alternativen zu dem, was er übermitteln ließ, außer acht gelassen hat, führte im Verein mit Watsons Voreingenommenheit und Arthur Conan Doyles „Holmes-Komplex“ dazu, dass das tatsächliche Verbrechen ungesühnt, ja, unbemerkt blieb. Und fürwahr … Bayards Indizienkette ist äußerst raffiniert gestrickt und beeindruckend gemacht. Wer immer den „Hund der Baskervilles“ zu kennen glaubt, sollte dieses Buch mal anschauen, um zu sehen, was er alles darin nicht entdeckt hat.
Ein spannendes, literaturkritisches Leseexperiment, das einer echten Holmes-Ermittlung kaum nachsteht. Sehr empfehlenswert!
© 2013 by Uwe Lammers
Ja, das ist wirklich ein kleines Juwel in meinen Bücherregalen, kein Zweifel. Und es tut mir nur leid, dass ich diese Rezension nicht längst ans Tageslicht des Blogs geholt habe … ich versichere euch, in den Aberhunderten meiner fertigen Rezensionen schlummern noch mehr solche Schätze. Nur keine Sorge, im aktuellen Jahr werde ich davon einige mehr heben und euch als Lektüretipps empfehlen. Es lohnt sich also eindeutig, hier ein Lesezeichen zu setzen und neugierig zu bleiben.
Aus der Vergangenheit von vor elf Jahren kommen wir in der kommenden Woche direkt in die Gegenwart zu einem Werk, das ich erst kürzlich las und, zugegeben, mit skeptischer Grundhaltung. Schließlich geht es um ein Phänomen, das an das ich nicht glaube: die Sintflut. Aber was macht ein Coautor von Clive Cussler daraus? Etwas Hochinteressantes. Mehr dazu in der kommenden Woche.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Leider wird der Titel auch heute noch sehr oft völlig verkehrt als „Der Hund von Baskerville“ wiedergegeben, der hartnäckige Fehler zieht sich sowohl durch Buchpublikationen wie durch Filmadaptionen. Dabei ist dem Kenner der Geschichte recht schnell klar, dass „Baskerville“, wie der Fehler suggeriert, durchaus kein Ort ist, was er aber sein müsste, sondern ein Familienname. Und dann kann es natürlich, wie auch im vorliegenden Buchtitel, nur korrekt „der Baskervilles“ heißen. Wer etwas anderes annimmt, zeigt damit nur, dass er das Buch nicht gelesen hat. Oder nicht gründlich genug.