Rezensions-Blog 469: Der Mann, der die Wörter liebte

Posted August 14th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Sprache ist ein fluides Medium der Verständigung, und egal, von was für einer Sprache wir reden – bezogen jedenfalls auf die, die noch gesprochen und geschrieben werden – , sie befin­det sich in permanenter Wandlung und Veränderung. Lehnwör­ter aus anderen Kulturen strömen in sie ein, die Dialekte ver­schiedener Regionen schleifen Wendungen und Endungen ab und modifizieren sie so lange, bis neue Varianten entstehen, die sich schließlich möglicherweise durchsetzen. Worte veralten und gehen unter. Neue blühen auf … Sprache ist ein ständiges Auf und Ab wie eine wogende See.

Dennoch kann ich jeden von euch verstehen, der sich mit Spra­chen schwer tat, nicht allein mit der – wie schon Mark Twain wusste – „awful german language“. Das gilt durchaus auch für Fremdsprachen wie das Englische.

Dafür gibt es dann doch Wörterbücher, die demjenigen, der nicht so gewandt in der jeweiligen Zunge ist, auf die Sprünge helfen und die Kommunikation erleichtern, nicht wahr?

Ja, heute ist das so. Aber auch das war nicht in Stein gemeißelt. Mitte des 19. Jahrhunderts, das ja noch gar nicht so lange zu­rückliegt, da war die englische Sprache eine ausdrückliche Bau­stelle, ein Dschungel voller Mutmaßungen, Irrtümer und unkla­rer Erläuterungen. Und dann begann ein Mammutprojekt, das damit ein für allemal aufräumen sollte.

Damit befinden wir uns in unserer heutigen Geschichte, und ich versichere euch – sie ist alles andere als banal oder langweilig. Stürzt euch ins Abenteuer, es lohnt sich:

Der Mann, der die Wörter liebte

(OT: The Surgeon of Crowthorne)

von Simon Winchester

Knaus Verlag, 1998

292 Seiten, geb.

ISBN-13: 978-3-8135-0225-1

Aus dem Englischen von Harald Stadler

Bereit für das Abenteuer eures Lebens? Bereit für eine wahre Geschichte, die so unglaublich klingt, dass man meint, sie müs­se einfach dem Hirn eines Schriftstellers entsprungen sein, weil in ihr die Faktoren Zufall, Beharrlichkeit und Wahnsinn eine sol­che Rolle spielen, die man unmöglich für wahr halten kann? Nun, dann schnallt euch an und reist mit mir zurück ins 19. Jahr­hundert.

Das Projekt, um das es hier geht, hatte die gigantomanischen Ausmaße, die vielleicht für die viktorianische Epoche allgemein üblich zu werden begannen. Brunel konstruierte mit der GREAT EASTERN das gigantischste Dampfschiff aller Zeiten – einen stählernen Moloch, der dazu dienen sollte, Transatlantikkabel zu verlegen; die industrialisierte Nation begann mit Planungen für die erste Untergrundbahn der Welt, sinnigerweise in London; die imperiale Bürokratie umspannte inzwischen zudem fast den ganzen Erdball, und überall schickten sich die Briten an, die Flagge Ihrer Majestät aufzupflanzen und „Rule Britannia“ zu sin­gen. England war unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Es existier­te nur ein Feld, wo sie außerordentlich saumselig waren, und wiewohl das schon seit Jahrhunderten bekannt war, schien es weder Notwendigkeit noch Möglichkeit zu geben, hier Abhilfe zu schaffen.

Welches Feld das war? Das der englischen Sprache.

Denn so unglaublich es uns heute scheint, es gab bis zum Zeit­punkt, wo diese Geschichte ihren thematischen Anfang nimmt, im Jahre 1857, kein zuverlässiges Wörterbuch der englischen Sprache. Was man als solche bis dahin verkaufte, waren eigent­lich wenig mehr als … nun … Kuriosasammlungen. So beispiels­weise das „Wörterbuch“ des Robert Cawdrey aus Rutland (1604), das ausdrücklich den Titel trug: „A Table Alphabeticall… of hard usual English Words“. Es umfasste gerade einmal etwa 2500 Wörter, und zwar nur solche, die wirklich auffielen und „unüblich“ waren. „Schwierige Wörter“ eben.

Niemand kam zu diesem Zeitpunkt auf die Idee, solche Aller­weltswörter wie „if“ oder „the“ oder „at“ auf ähnliche Weise zu erläutern. Die kannte man schließlich, nicht wahr? Was nicht ausschloss, dass sie dennoch ständig falsch verwendet wurden. Die Literatur Englands ist voll von solchen obskuren Wortver­wendungen, nicht zuletzt auch bei Shakespeare. Und da die Sprache in ständigem Wandel begriffen war, glich das Englische im Laufe der Zeit mehr und mehr einer babylonischen Sprach­verirrung, zahllose Schreibweisen, die für „richtig“ gehalten wurden, existierten munter nebeneinander.1

Auch die Erläuterungen waren durchweg wenig hilfreich. Was beispielsweise half es, für die Erklärung des Wortes „magnitu­de“ nachzuschlagen und auf das Wort „greatness“ zu stoßen? Manche Erläuterungen waren sogar äußerst abenteuerlich bis belustigend. Nehmen wir aus Cockerams „The English Dictiona­ry“ (ein vielversprechender und irreführender Titel) das Wort „commotrix“.2 Er erläutert wie folgt: „A Maid that makes ready and unready her Mistress“ [eine Hausangestellte, die ihre Herrin fertig und unfertig macht].

Nein, es war evident, dass hier dringend Handlungsbedarf be­stand, und so setzte sich 1857 die Royal Philological Society zum Ziel, ein endgültiges, umfassendes und präzises Wörter­buch der englischen Sprache herauszugeben, mit königlicher Billigung, selbstverständlich. Dies wurde als eine Art Sendungs­auftrag mit fast religiöser Inbrunst verstanden: die Verbreitung der korrekten englischen Sprache würde einher gehen mit der Verbreitung der englischen Lebensart und ihrer Kultur, und da­mit würde sie missionarischen Charakter weltweit tragen (nein, sie waren nicht bescheiden, die guten Herren, übrigens aus­schließlich Herren3).

Doch wie sollte man diese Aufgabe in Angriff nehmen? Einzelne Personen scheiterten daran einwandfrei. Richard Chevenix Trench, der den Anstoß zur Schaffung des Oxford English Dictio­nary (OED abgekürzt, noch heute ein Standardwerk) gab, mein­te, es sei am sinnvollsten, „ein Heer, ein riesiges Heer von Hun­derten und Aberhunderten unbezahlter Amateure“ zu rekrutie­ren, die auf standardisierten Vordrucken Belegstellen an die Re­daktion einsenden würden, die sie in Büchern, die sie lasen, ge­funden hätten.

Herbert Coleridge war der erste Herausgeber des Wörterbuchs, und er unterschätzte das Projekt ganz erheblich. Zur Erleichte­rung der Arbeit „konstruierte er ein kleines Regal aus Eichen­holz, neun Fächer breit und sechs Fächer hoch, als Ablage für die 60.000 bis 100.000 Zettel, die man erwartete.“ Er schätzte zudem, die Arbeit in zwei Jahren abschließen zu können. Womit er sich einer dramatischen Fehleinschätzung schuldig machte, aber das taten damals alle Beteiligten.

Nun, es mag genügen, dass die rekrutierten Freiwilligen am Ende etwa sechs Millionen Zettel einsandten. Und dann kam noch hinzu, dass ein Malheur passierte: „Herbert Coleridges frü­her Tod verzögerte alles noch zusätzlich. Er starb im Alter von einunddreißig Jahren, nachdem er sich ganze zwei Jahre der Ar­beit an dem Wörterbuch gewidmet und nicht einmal die Hälfte der Belegstellen für die Wörter mit dem Anfangsbuchstaben ‚A‘ gesichtet hatte.“

Der Umstand seines Todes ist irgendwie charakteristisch für die Bearbeiter des Projekts, deshalb sei er hier noch erwähnt: „Auf dem Weg zu einem Vortrag der Philological Society… war er (Coleridge) in einen Regenguß geraten, hatte in dem unbeheiz­ten Raum bis zum Schluß ausgeharrt, war krank geworden und gestorben. Seine letzten Worte waren: ‚Morgen muß ich mit Sanskrit anfangen.‘“

Hoher Enthusiasmus und fanatische Begeisterung waren nicht alles. Dieses Projekt zog auch durchaus schrullige und geniale Menschen an, und zweien davon ist dieses Buch insgesamt ge­widmet. Der eine war der langjährige Herausgeber des OED, James Murray, ein schottischer Lehrer, der 1869 in die Society eintrat. Man nannte ihn den „Mann, der das Vieh Latein lehrte“, und dies aus gutem Grund. Er besaß ein geniales Gespür für Wörter und ein beeindruckendes grammatisches Gedächtnis. Sprachenlernen war sozusagen ein Hobby für ihn.

Ein Auszug seines – abgelehnten – Bewerbungsschreibens für eine Stelle am British Museum mag das zeigen. Er schrieb: „Ich muß sagen, daß die Philologie mein ganzes Leben lang mein Lieblingsthema gewesen ist und daß ich eine allgemeine Ver­trautheit mit den Sprachen & Literaturen der arischen und syro-arabischen Klassen besitze… mit einigen bin ich etwas vertrau­ter, wie beispielsweise mit den romanischen Sprachen Italie­nisch, Französisch, Katalanisch, Spanisch, Lateinisch & in gerin­gerem Maße mit dem Portugiesischen, Waadtländischen, Pro­venzalischen und diversen Dialekten. Im germanischen Zweig bin ich einigermaßen vertraut mit dem Niederländischen (an meiner Arbeitsstätte muß ich Schriftverkehr auf holländisch, deutsch, französisch & gelegentlich in anderen Sprachen lesen), Flämischen, Deutschen, Dänischen… ich weiß ein bißchen über das Keltische und beschäftige mich zur Zeit mit den slawischen Sprachen…“

Unter der Ägide dieses hochbegabten Mannes erschienen schließlich die ersten Bände der OED, nachdem das Projekt schon kurz vor dem Scheitern gestanden hatte.

Der zweite Mann, der hier eine wesentliche Rolle spielte, war et­was, was man als „Graue Eminenz“ betrachten könnte. Obgleich er in Crowthorne, Broadmoor wohnte, von Oxford nur eine gute Zugfahrtstunde entfernt, kam dieser Mann, William Chester Mi­nor, niemals in die Redaktion des OED. Anfangs verblüffte das niemanden, denn Besuche waren ohnehin selten. Aber rasch kristallisierte sich heraus, dass Minor, anfangs einfach nur einer der zahllosen Zuträger des OED, irgendwie auf seltsame Weise anders war. Während die restlichen Leser mehr oder weniger wahllos ihre Wörterlisten einsandten, stellte Minor schon von Anfang an präzise Fragen, an welchem Buchstaben denn nun gearbeitet würde und welche Worte man in der Redaktion be­sonders innig suchte.

Und er lieferte die Antworten. Binnen Tagen, seltener binnen Wochen. Manchmal kamen mehrere akribische Briefbögen pro Woche aus Broadmoor in die Redaktion.

Es schien so zu sein, als sei er dem Lexikon stets ein paar Schritte voraus, wie auch immer das möglich sein mochte. Es war völlig unumgänglich, dass sich Murray für diesen seltsamen Menschen zu interessieren begann, den „Mann, der die Wörter liebte“, wie es schien, jene Person, die ihm so ähnlich war. Er begann einen intensiven, Jahre währenden Briefkontakt mit dem Sonderling, der nie aus seiner Studierstube herauszukommen bereit war. Und schließlich kam auch ans Tageslicht, warum das so war: Minor war ein unter Wahnvorstellungen leidender ameri­kanischer Militärarzt. Und ein Mörder …

Die faszinierende Darstellung der ineinander verschlungenen Biografien von William Chester Minor und James Murray, die Herkulesaufgabe des 70 Jahre dauernden Herausgabeprozesses der OED und zugleich noch eine beeindruckende Aufarbeitung der literarischen Gesellschaft des England über die zurücklie­genden zweieinhalb Jahrhunderte – und darin eingestreut zahl­lose Vignetten und Lebensbeschreibungen verschrobener Son­derlinge und genialer Köpfe – , das alles findet sich unter diesem Buchdeckel. Es handelt sich um Winchesters Erstlingswerk, das völlig zu Recht preisgekrönt und in zahlreichen Auflagen aufge­legt wurde.

Der britische Journalist Simon Winchester offenbart in diesem Werk eine breite, fast enzyklopädisch zu nennende Kenntnis der Zusammenhänge, über die er spricht, seine Zitate sind prä­gnant und oftmals originell, der Erzählstil fesselnd und Neugier­de erweckend. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung urteilte nicht zu Unrecht über das Werk: „Dieses Buch ist fesselnde Re­portage, lebendige Biographie, ein lehrreiches Stück Zeitge­schichte und nicht zuletzt eine anrührende Parabel von Tod und Leben, Schuld und Vergebung, Hass und Liebe.“ Allein den Wahnsinn, der ihnen wohl unangenehm war, haben sie hierin vergessen. Und der spielt eine zentrale Rolle in der ganzen Ge­schichte.

Religiöse Leser werden vielleicht finden, dass die menschliche Tragödie des Lebens von William Chester Minor notwendig war, um ihn zu der übermenschlichen Aufgabe hinzuführen, durch die er schließlich ewigen Ruhm errang. Doch bodenständigere Leser wie ich werden nach wie vor von kalten Schauern erfasst werden und sich eher dazu beglückwünschen, den klaren Men­schenverstand bewahrt zu haben. Wenn auch – vielleicht – um den Preis entgangener Genialität und Berühmtheit. Wenn man sieht, was Minor von seiner Berühmtheit letztlich hatte, wird man die Normalität vielleicht vorziehen.

In jedem Fall ist dies ein Werk, das uns künftig Wörterbücher mit einem völlig anderen Blick sehen lassen wird. Und es ist packen­de, gute Lektüre, die jedem neugierigen Leser wärmstens ans Herz gelegt werden soll.

© 2006 by Uwe Lammers

Wow, sagte ich mir, als ich das Buch ausgelesen hatte … ein Abenteuerroman ist nichts gegen DAS HIER! Und das denke ich auch nach über fünfzehn Jahren noch und empfehle das Werk guten Gewissens neugierigen Freunden.

In der nächsten Woche haben wir einfachere Kost vor uns, ver­sprochen. Da verirren wir uns wieder in die Dreiecksgeschichte von Irene Cao und betrachten ihr Schlusskapitel.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Ein Phänomen, von dem die gedruckte Literatur des 18. Jahrhunderts nicht nur in England, sondern auch in Deutschland beredtes Zeugnis ablegt. Man lese noch ältere Werke und raufe die Haare über die absurdesten Schreibweisen von Wörtern, die von Buch zu Buch unterschiedlich sind. Es war völlig klar, dass hier Abhilfe geschaffen wer­den musste, aber es geschah stets nur halbherzig.

2 Ein Wort, das heute veraltet ist. Es ist etwa mit „Zofe“ oder „Hausangestellte“ gleich­zusetzen.

3 So etwas wie Gendergerechtigkeit war damals weder üblich noch in den Köpfen der Zeitgenossen vorhanden. Selbst im frühen 20. Jahrhundert wurde die Gleichberechti­gung der Suffragetten-Bewegung anfangs kriminalisiert.

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