Rezensions-Blog 464: Geheimakte Odessa

Posted Juli 9th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wie ich kürzlich schon sagte (letzte Woche), dass es dieses Mal sehr viel mehr Bodenhaftung und Gegenwartsbezug geben wür­de in dem Buch, das ich vorstelle, so verhält es sich tatsächlich. Das Werk ist erst anno 2018 auf Deutsch erschienen und wurde schließlich Ende 2022 von mir gelesen … was der Lektüre er­staunlich gut tat, die dadurch an manchen Stellen eine wirklich gruselige Aktualität gewann.

Es geht um das untergehende Zarenreich 1917. Und es geht um einen Konflikt mit der Ukraine und Russland … also, wenn so et­was nicht gerade die Medien beherrscht – wenn wir jetzt mal vom leider noch aktuelleren Gaza-Krieg absehen – , dann weiß ich es auch nicht. Ich wurde jedenfalls vielfach bei der Lektüre dieses packenden Buches an die aktuelle Gegenwartspolitik er­innert.

Und das ist nun wirklich vollkommen anderer Stoff als „König Davids Raumschiff“ aus der Vorwoche. Das hier ist Action pur, und wer sich in dieses Buch verirrt, sollte es nicht als Feieraben­dlektüre fürs Bett aufsparen … sonst habt ihr womöglich eine schlaflose Nacht vor euch, weil ihr mit der Lektüre nicht mehr aufhören könnt. So wäre es mir beinahe ergangen.

Worum genau geht es also? Nun, schaut mal her:

Geheimakte Odessa

(OT: Odessa Sea)

Von Clive Cussler & Dirk Cussler

Blanvalet 0615

512 Seiten, TB, 2018

ISBN 978-3-0615-6

Aus dem Amerikanischen von Michael Kubiak

 

Vorbemerkung:

Es ist mitunter interessant, wenn man Romane nicht sofort nach Erscheinen liest, sondern sich damit ein paar Jahre Zeit lässt. Das ist an dem vorliegenden Werk ganz besonders zu spüren und hat ihm bei der Lektüre eine unerwartete Aktualität verlie­hen. Die Geschichte ist noch aus anderen Gründen recht ver­schieden von einem landläufigen Clive Cussler-Roman, und ich fand, dass das der Story ausgesprochen gut getan hat.

Worum es im Buch geht:

Im Februar 1917 ist das Zarenreich in Russland dabei, einzustür­zen. Die Dynastie der Romanows wankt empfindlich, und ohne ausländische Hilfe kann sie sich nicht mehr an der Macht halten. In dem Moment, wo die bolschewistische Revolution schon an Fahrt gewonnen hat, wird ein geheimer Konvoi von Schiffen über das Schwarze Meer in Richtung Bosporus gesandt, ge­schützt durch den Zerstörer „Kerch“. Das erweist sich als nötig, denn das Osmanische Reich zählt immerhin zu den Verbündeten des Deutschen Reiches, und so wird der Konvoi auch folgerich­tig angegriffen und die „Kerch“ dabei versenkt.

Im zweiten Prolog, im April 1955 spielend, befindet sich eine russische Tupolew-Maschine ebenfalls im Raum des Schwarzen Meeres auf einem Testflug. Doch sie wird im Gewitter von einem Blitz getroffen und stürzt ab. Das Schwarze Meer wird auch in diesem Fall zum Grab und nimmt ein Geheimnis mit in die Tiefe.

Die eigentliche Romanhandlung beginnt im Juli 2017: Der Frach­ter „Crimean Sea“ ist von der Ukraine ausgelaufen mit Kurs auf den Bosporus, als er in einen Sturm gerät und kurz darauf von einem unheimlichen, substanzlosen Tod attackiert wird. Es kann nur noch mit letzter Kraft ein Notruf abgesetzt werden, dann ist die Besatzung tot.

Zum Glück für das Schiff hat ein NUMA-Forschungsschiff, die „Macedonian“, den Notruf empfangen, und Direktor Dirk Pitt se­nior, der hier an Bord ist, um die Suche des bulgarischen Ar­chäologen Georgi Dimitow zu unterstützen, eilt dem Havaristen zu Hilfe. Dabei kommen sie beinahe ums Leben, denn eine jähe Explosion zerstört das Schiff und versenkt es … im letzten Mo­ment können sie noch einen schwer verletzten Matrosen retten. Dann verschlingt die See das Schiff.

An der bulgarisch-türkischen Grenze haben es derweil die Euro­pol-Sonderermittlerin Ana Belowa und ihr Kollege Petar Ralin mit der Verfolgung von Waffenschmugglern zu tun. Als die „Cri­mean Sea“ sinkt, erfahren sie davon und werden darauf ange­setzt. Da das Schiff allerdings gesunken ist, bitten sie die For­scher von der NUMA um Hilfe. Pitt, der das Ereignis ohnehin seltsam fand, kommt dem Ansinnen nach … und gerät nun in ein Abenteuer, das an lebensbedrohender Action kaum zu über­bieten ist. Denn es zeigt sich schnell, dass das Schiff nicht durch einen Unglücksfall untergegangen ist. Stattdessen beförderte es ebenfalls Schmuggelgut – eine Ladung waffenfähigen Plutoni­ums, das an den Iran verhökert werden soll, damit auf diese Weise die ukrainische Regierung (!) Waffen für den Kampf ge­gen die prorussischen Separatisten in der Ost-Ukraine (!) erhält.

Spätestens hier denkt man irgendwie, man befinde sich fast in der Gegenwart. Schließlich hat leider in der Realität Russland zusammen mit den Separatisten im Februar 2022 mit einer In­vasion der Ukraine begonnen. Der vorliegende Roman weiß davon natürlich noch nichts, aber die Annexion der Krim-Halbin­sel durch Russland ist hier klarer Hintergrund, was auch explizit so angesprochen wird, ebenso der (gleichfalls leider reale) Ab­schuss eines Passagierflugzeugs über der Ukraine, der klar den Separatisten nachgewiesen wurde. Ich hatte hier manchmal schon das Gefühl, dass diese Geschehnisse die Autoren deutlich in ihrer Darstellung beeinflusst haben.

Sind also nun die Machthaber in Kiew die Bösen in der Ge­schichte? Das könnte man jetzt naiv vermuten, aber so verhält es sich nicht. Nein, auch wenn das jetzt verwirrend klingt. Die Geschichte ist deutlich vertrackter, und letzten Endes wird man erkennen müssen, dass auf ungewöhnlich realistische Weise alle Fraktionen von Protagonisten mehr oder minder düstere Seiten besitzen und eine fragwürdige Moral (von Pitt & Co. mal abgesehen).

Schauen wir uns also mal die Gegenseite an.

Da haben wir beispielsweise den Niederländer Martin Hendriks, dessen Hauptniederlassung der von ihm geleiteten Hightech-Fir­ma Peregrine Surveillance Corporation auf den Bahamas ist. Auf den ersten Blick sorgt der Hersteller armierter Drohnen (!) nur für Verwirrung, weil er gar nicht ins Bild zu passen scheint. Das täuscht jedoch. Er ist dabei, Geschäfte mit der ukrainischen Re­gierung – konkret: Mit Kommandant Arsenij Markowitsch vom Bataillon Ajdar (heute würden wir wohl „Asow-Regimenter“ (!) dazu sagen, schätze ich) – zu machen. Gleichzeitig liefert er aber auch Waffen an die russische Seite (!). Was ihn nicht daran hindert, außerdem noch Drahtzieher hinter dem Nukleardeal mit den Iranern zu sein.

Weitere Verhandlungspartner von Hendriks sind Valentin Manke­do und Ilya Vasko von der Bergungsfirma Thracia Salvage, die hinter dem Anschlag auf die „Crimean Sea“ stecken und sich recht schnell heftig mit der NUMA balgen, um es sehr vorsichtig auszudrücken. Sie sind gewissermaßen die Haupt-Bösewichte der Geschichte, aber was für eine Waffe sie einsetzten, um die Schiffsbesatzung zu ermorden, bleibt lange rätselhaft.

Und dann wird die Geschichte sehr abenteuerlich – denn ob­gleich es Ana Belowa und Dirk Pitt durchaus gelingt, das Uran sicherzustellen, sind sie längst auf ein weiteres Rätsel gestoßen. Dicht neben dem Wrack der „Crimean Sea“ liegt nämlich ein Wrack aus dem Ersten Weltkrieg – die „Kerch“. Und aus dessen Lagerräumen hat Mankedos Bergungsunternehmen den Safe gehoben, in dem eine Geheimakte enthalten ist, die auf einen Schatz aus der Zarenzeit hindeutet. Das ist freilich nur ein Teil des Geheimnisses, das noch für sehr viel Verheerung und Tod sorgen wird.

Allerdings hat Pitt auch das von dem Wissenschaftler Dimitow gesuchte osmanische Segelschiff entdeckt, das sich in der sau­erstoffarmen Umgebung auf dem Grund des Schwarzen Meeres perfekt erhalten hat … aber verrückterweise liegt auf Deck die gut erhaltene Leiche eines russischen Fliegers. Das wiederum führt nun Dimitow auf die Spur eines weiteren Geheimnisses der Vergangenheit, von dem Pitt lange keine Ahnung hat.

Und dann ist da ja auch noch jene Handlungsspur vor Norwe­gen, wo die Pitt-Kinder Summer und Dirk junior ozeanografische Strömungen untersuchen und dabei zu ihrer Verblüffung auf ein Schiffswrack aus dem Ersten Weltkrieg stoßen. Es handelt sich, wie sie herausfinden können, um die „Canterbury“, die von ei­nem deutschen U-Boot torpediert wurde. Als Dirk junior und Summer hinabtauchen, um das Wrack zu untersuchen, finden sie zu ihrer Verblüffung einen Goldbarren mit dem Prägestempel der Romanows … und gleich darauf wird die „Canterbury“ von einem russischen Bergungsschiff zerstört.

Wie das alles dazu führt, dass beinahe Sewastopol untergeht, wieso es in England zu einer wilden Verfolgungsjagd zwischen den Pitt-Kindern und russischen Agenten kommt, warum das al­les mit einem versenkten U-Boot und weiteren Wracks zu tun hat und dies letztlich darin kulminiert, dass fast eine amerikani­sche Großstadt vernichtet wird … das muss man wirklich gele­sen haben. Die Plotstruktur ist beeindruckend vertrackt und so­lide gebaut.

Im Vergleich zum Vorgängerroman „Die Kuba-Verschwörung“1 hat dieser Roman definitiv sehr viel mehr Bodenhaftung. Seine Protagonisten sind nicht schematische 0815-Stumpfsinns-Böse­wichter, sondern raffinierte, verschlagene und schier unkaputt­bare Schurken, die den Pitts und ihren Helfern meist ein oder zwei Schritte voraus sind und die mit der Regelmäßigkeit einer ungeliebten Krankheit immer wieder in Erscheinung treten und Probleme erzeugen.

Besonders reizvoll fand ich an der Geschichte, dass speziell Dirk Pitt senior sehr lange überhaupt nicht konkret zu sagen wusste, wer eigentlich seine Gegner sind und was genau ihre Ziele sind. Die Motivation gerade des intransparenten Hendriks bleibt fast bis zum Schluss im Dunkeln. Und es wimmelt vor grässlichen Zwischenfällen.

Da werden Hinterhalte gelegt, Flugzeuge in die Luft gesprengt, Boote versenkt, Menschen verstümmelt, gemeuchelt oder ent­führt und dem sicheren Tod überlassen … es wird wirklich über­haupt nicht langweilig, weil man als Leser stets versucht, Ver­bindungslinien herzustellen, die sich lange nicht ergeben. Man grübelt also automatisch mit, und das finde ich bei Romanplots immer äußerst anregend.

Dabei verbinden sich hier die spannenden Elemente einer ver­winkelten Schatzsuche a la „Indiana Jones“ oder „Uncharted“, die ich schon an den Fargo-Abenteuern geschätzt habe, mit der klassischen Action eines Cussler-Romans. Man merkt indes auch hier wieder deutlich, dass der Roman klar für den modernen pu­ritanischen Geschmack des amerikanischen Publikums geschrie­ben wurde. Erotik: Fehlanzeige. Frauen dürfen tough sein und raffiniert, ja, aber so etwas wie ein sexuelles Selbst dürfen sie nicht besitzen … man könnte das als antifeministische oder chauvinistische Diskriminierung betrachten. Doch ich muss sa­gen, der Rest des Romans ist dafür einfach zu gelungen ge­schrieben.

Seit langem mal wieder ein Roman vom Vater-Sohn-Duo, der mir wirklich gefallen hat. Klare Leseempfehlung!

© 2022 by Uwe Lammers

Echt, das war ein rasantes Abenteuer, das mir mächtig Spaß machte! Wir bleiben bei tollen Büchern, denn als ich jüngst mal wieder meine Publikationsliste durchsah und vor allen Dingen den immer noch sehr voluminösen Speicher weitgehend oder selten veröffentlichter Rezensionen, da stieß ich auf einen Na­men, an den ich schon lange nicht mehr gedacht hatte.

Barbara Tuchman lese ich immer wieder gern (leider ist sie längst verstorben und weilt nicht mehr unter uns). Und die Auf­satzsammlung von ihr, die ich euch in der kommenden Woche vorstellen möchte, lohnt wirklich jede Minute der Aufmerksam­keit, die ihr ihr schenkt. Glaubt mir!

Auf das Werk könnt ihr echt mal gespannt sein.

Bis nächste Woche.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. Rezensions-Blog 288 vom 30. September 2020.

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