Rezensions-Blog 460: Unbestechlich

Posted Juni 12th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ich weiß, es ist lange her, dass ich einen Kriminalroman um den fiktiven amerikanischen Ermittler Isaac Bell gelesen und rezen­siert habe. Den letzten Roman las ich 2020, und ich gestehe, dass ich mich mit der Lektüre anfangs etwas schwertat. Das hatte verschiedene Gründe. Einer davon bestand in der Tatsa­che, dass ich mich an etwas gewöhnt hatte, was ich aus ande­ren Cussler-Romanen, insbesondere aus dem Kosmos des Schatzsucher-Ehepaars Sam und Remi Fargo, lieb gewonnen hatte: Das Personenregister.

Gibt es hier nicht.

Das machte die Übersicht gerade zu Beginn einigermaßen schwer, zumal Faktor 2 ins Spiel kam: Justin Scott baut die Isaac Bell-Abenteuer chronologisch aufeinander auf, die Personende­cke ist recht weitläufig. Das liegt nahe, weil die fiktive Van Dorn Agency nun einmal in den gesamten amerikanischen Bundes­staaten operiert. Da tauchen Agenten auf, Geschäftsstellenlei­ter, Informanten, Botenjungen … da kommt man schnell durch­einander. Und wenn dann noch, wie in diesem Roman, gelegent­lich Bezug auf frühere Fälle genommen wird, die ich vor Jahren (!) gelesen und nicht mehr ganz in Erinnerung habe, dann wird es noch wilder.

Die Handlungszeit macht die Sache nicht leichter: Die frühen 20er Jahre und insbesondere die Prohibitionspolitik der USA in jener Zeit sind mir nur sehr flüchtig geläufig, das wird wohl den meisten LeserInnen so gehen. Aber vertraut meinem Urteil: Man kommt dann doch rasch herein und wird vom leidenschaftlichen Handlungsstrom mitgerissen.

Besonders schön fand ich es, dass wir es hier mal wieder nicht – wie es gelegentlich bei schwächeren Cussler-Romanen ge­schieht – mit Dumpfbacken als „Villains“ zu tun haben, sondern mit ausgesprochen raffinierten, durchtriebenen und gnadenlo­sen Schurken, die Bell und seinen Mannen meist einen oder zwei Schritte voraus sind. Da wird gekämpft, intrigiert, gemor­det und Fallen gestellt, dass sich dem Leser bisweilen die Na­ckenhaare sträuben.

Und am Ende war ich so tief drin, dass ich nicht mehr rausge­kommen bin, ehe ich die letzte Zeile ausgelesen hatte. Also, Freunde, ich schlage vor, ihr nehmt euch das nicht als Abend­lektüre vor, es sei denn, ihr wollt die Nacht durchlesen!

Das bekümmert euch nicht, sondern macht euch eher noch neu­gierig? Well done, dann schauen wir uns die Geschichte mal nä­her an. Gurte angezogen, los geht die Achterbahnfahrt:

Unbestechlich

(OT: The Bootlegger)

Von Clive Cussler & Justin Scott

Blanvalet 0320

412 Seiten, TB, Oktober 2016

Übersetzt von Michael Kubiak

ISBN 978-3-7341-0320-9

Als das als Volstead Act bekannte Gesetz in den Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg das kurzlebige Zeitalter der Prohibition initiiert und den Alkoholverkauf und seinen Konsum unter Strafe stellt, explodiert das organisierte Verbrechen in ei­ner Weise, die man sich bis dahin nicht einmal im Ansatz vor­stellen konnte. Ehrbare Menschen, die durch die Entlassung aus dem Militärdienst oder eine wirtschaftliche Flaute in prekäre ökonomische Verhältnisse geraten sind, entwickeln auf einmal eine Art von bizarrer Doppelmoral. Austernfischer fahren hinaus aus dem Hafen, um auf der neutralen See in der so genannten „Rum Row“ Schmuggelschiffe aus der Karibik zu treffen und mit ihrer Konterbande nach der Rückkehr die Flüsterkneipen und kriminellen Syndikate zu beliefern, die die alkoholdurstige Öf­fentlichkeit versorgen.

Rasch stellt sich auch heraus, dass Polizisten und öffentliche An­gestellte, Politiker und selbst Volstead-Agenten, die eigentlich Schmuggler verfolgen und vor Gericht bringen sollen, gegen Schmiergeld bereitwillig wegschauen und Fünfe gerade sein las­sen. Ein Klima der allgemeinen Korruption breitet sich aus, und es ist bald offenkundig, dass die Prohibitionsgesetze genau das Gegenteil von dem bewirken, was sie eigentlich sollten.

Im Jahre 1921 befindet sich der Inhaber der Van Dorn Agency, der schon betagte Joseph Van Dorn, auf der Suche nach weite­ren Finanziers, und in diesem Zuge beteiligt er sich auch daran, Alkoholschmuggler auf See aufzubringen. Das ist beinahe sein letztes Engagement, denn er wird Zeuge davon, wie überra­schend ein hochgerüstetes, gepanzertes Boot auftaucht und die Schmuggler schützt. Er wird mehrfach angeschossen und kommt beinahe ums Leben.

Sein Chefermittler Isaac Bell setzt daraufhin Himmel und Hölle in Bewegung, um dieses schwarze Boot zu finden und den Bei­nahe-Mörder seines Chefs zu stellen. Aber er hat keine Ahnung, worin er hier durch schieren Zufall geraten ist. Der wichtigste Zeuge des Überfalls wird fast vor seinen Augen getötet – durch einen Genickschuss einer kleinkalibrigen Waffe. Der Täter kann entkommen. Dabei trifft Bell mit einer betörend schönen Frau zusammen, Fern Hawley, einer reichen Erbin. Noch hält er das alles für seltsame Zufälle und kann sich kaum denken, dass die­se Vorfälle letztlich dazu führen werden, dass er in eine haar­sträubende internationale Verschwörung hineingezogen wird. An diesem Punkt der Geschichte hält er das für ebenso abwegig wie der Leser, aber es kommt genau so.

Bells deutschstämmige Ermittlerin Pauline Grantzau, die auf dem Sprung ins chaotische Deutschland der Weimarer Republik ist und vor der Abreise noch von den Vorfällen erfährt, ist der Ansicht, dass die Mordmethode völlig unamerikanisch ist. Sie kennt dergleichen aus Europa – als Liquidationsmethode der Komintern, der Kommunistischen Internationale, die von Moskau gesteuert wird und überall auf der Welt die Weltrevolution vor­antreiben soll.

Isaac Bell hält das für sehr abwegig, zumal ihm bekannt ist, dass die amerikanische Kommunistische Partei und die Komin­tern verfeindet sind. Mehr noch glaubt er nicht an eine Verbin­dung zwischen den Alkohol schmuggelnden Bootleggern und ei­ner kommunistischen Verschwörung. Das klingt alles zu abstrus. Aber Pauline beweist den richtigen Riecher. In der Tat führen die Spuren, die der Chefermittler und seine Leute rasch zu verfol­gen beginnen, genau in diese Richtung. Ein dubioser russischer Adeliger, Prinz Andre, taucht auf, der in großem Stil in der Wall Street zu spekulieren beginnt. Ein mörderischer anarchistischer Sprengstoffanschlag in der New Yorker Innenstadt macht Bell bald klar, dass sie es mit einem absolut skrupellosen Gegner zu tun haben, der unter der Tarnung eines Bootleggers, also eines hochrangigen Alkoholschmugglers, daran macht, sinistre Ziele zu verfolgen. Ziele, die ihm aber lange Zeit unklar bleiben.

Die Fährte führt nach Detroit am den Großen Seen, wo die Van Dorn-Agenten in die Schusswechsel der Verbrechersyndikate hineingezogen werden und von abenteuerlichen Gerüchten hö­ren, eins abwegiger als das andere. Schwimmende Flüsterknei­pen. Luftschiffe, die dem Alkoholschmuggel dienen sollen, und dann wird auch noch von einem Schmuggeltunnel nach Kanada geflüstert … bald lassen sich Gerüchte und Realität nicht mehr auseinander halten.

Doch was Prinz Andre, der in Wahrheit völlig anders heißt, tat­sächlich für ein Ziel verfolgt, bleibt lange mysteriös und wider­sprüchlich. Als Isaac Bell endlich Klarheit gewinnt, ist es beinahe zu spät – und eine tödliche, schier unaufhaltsame Gefahr nähert sich mit Riesenschritten New York …

Das Zeitalter der Prohibition in den USA ist, parallel zu den tur­bulenten 20er Jahren in Europa (man denke nur an „Babylon Berlin“), eine chaotische, farbenprächtige Zeit, voller schillern­der Charaktere, atemberaubender Intrigen und dubioser Figu­ren, die ihr Fähnlein opportunistisch nach dem Wind drehen und bisweilen recht unerwartet das Lager wechseln. Justin Scott fängt diese wilde, wirre Zeit mit all den schillernden Personen recht solide ein. Die meisten Charaktere bleiben zwar holz­schnittartig, werden nur eher hemdsärmelig charakterisiert, doch lernt man als Leser rasch, den Leuten grundsätzlich zu misstrauen.

Nehmen wir nur ein paar Personen des Ensembles heraus: Da hätten wir Prinz Andre, den wir besser Marat Zolner nennen soll­ten. Ein eisenharter Bootlegger, aber ebenso ein Komintern-Agent in den USA. Ist er tatsächlich, wie seine Genossen mut­maßen, weich geworden und den Verlockungen des Kapitalis­mus verfallen? Oder glaubt er ernsthaft an „die Sache“, wie fragwürdig die Umstände auch sein mögen, in denen er sich be­wegt? Oder wie ist es mit Fern Hawley, der verwöhnten Millio­närserbin? Ist sie nur von Zolner fasziniert oder tatsächlich im Herzen an der Sache der Arbeiterschaft interessiert? Ist sie ein­fach ein Opfer unglücklicher Umstände? Schwer zu sagen.

Manche Leute hätten vermutlich heutzutage im Klima der Can­cel Culture und der schnell aufbrausenden Mimosenmentalität das Erscheinen des Romans an sich verhindert. Warum? Nun, in Detroit skizziert Justin Scott eine jüdische Bootlegger-Organisa­tion unter dem mörderischen Admiral Abe, die „Jewish Navy“ … da könnten naive, empfindsame Seelen schon der Ansicht sein, hier schwinge Antisemitismus mit. Bei genauerem Lesen natür­lich eine absurde Vorstellung. Aber es gibt heutzutage in unser ach so empfindlichen Mimosenkultur ja Leute, die schon bei ei­ner bloßen Andeutung in dieser Richtung lautstark aufschreien könnten. Ich zähle nicht dazu.

Unbestechlich“ ist ein wirklich vielseitiger, spannender Abenteuerroman geworden, in dem sich zwei hochintelligente Seiten belauern und bekämpfen, und in der beide Seiten rigide austeilen und einander ständig Verluste beifügen, ohne dass es – bis ganz zum Schluss – zu einem eigentlichen Showdown kommt.

Wer dabei alles auf der Strecke bleibt und wer künftigen Isaac Bell-Abenteuern als Handlungsfigur erhalten bleibt, das wird hier nicht verraten. Es sei aber gesagt, dass ich die zweite Hälf­te des Romans binnen von zwei Tagen verschlungen habe, weil ich nicht mehr aufhören konnte … ein eindeutiges Qualitäts­merkmal!

Absolute Leseempfehlung von meiner Seite.

© 2023 by Uwe Lammers

Na, das war mal eine schöne tour de force, hm? Dafür gehen wir in der nächsten Woche in dem sehr wichtigen Sachbuch, das ich vorstellen möchte, an einen der schrecklichsten Orte der Ge­schichte: Auschwitz-Birkenau.

Soviel zur Vorwarnung oder zum neugierig machen.

Bis demnächst, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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