Rezensions-Blog 453: Geisterschiffe

Posted April 24th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wer immer glaubt, er habe es jetzt hier mit dem Klabauter­mann, dem Fliegenden Holländer oder vielleicht, etwas boden­ständiger, der Mary Celeste, zu tun, der irrt sich grundlegend. Heute geht es nicht um Schauergeschichten aus der Seefahrt, wenngleich das doch nicht vollständig am Ziel vorbeigeht.

Dieses Mal tauchen wir ab in die eisig kalten Fluten der Ostsee und widmen uns einem für mich absolut faszinierenden Thema, nämlich der marinen Archäologie unter Wasser.

Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, dass sieben Zehntel der Erdoberfläche von Wasser bedeckt sind und dass dieses Ele­ment recht eigentlich für den Menschen feindselig ist, da er we­der über Kiemen noch Flossen verfügt. Es ist ihm immer nur mittels technischer Hilfestellung möglich, es sowohl zu überque­ren oder in die Tiefen hinabzutauchen, um sich dort begrenzte Zeit aufzuhalten.

Vielleicht nicht für jeden ist einsichtig, dass die Menschheit im Laufe zahlloser Jahrtausende der Seefahrt Abertausende von Schiffen und Millionen ihrer Mitmenschen an die kalten Wogen des Meeres verloren hat. Und die Reste all dieser Unglückseli­gen liegen in den Tiefen des Meeres verborgen wie in einer die Zeit anhaltenden Kältekammer. Besonders gilt das für jene Zo­nen des Meeres, in denen nahezu kein Sauerstoff mehr existiert, sodass dort der Zerfall organischer Substanzen nahezu auf Null reduziert wurde (man sehe sich nur den Grund des Schwarzen Meeres an, auf dem noch ungezählte Schätze schlummern).

Als ich das vorliegende Buch, das sich in opulenter Weise mit der Unterwasserarchäologie in der Ostsee befasst, in einem Buchprospekt erspähte, musste ich es sofort haben und habe es anschließend auch sogleich heißhungrig verschlungen. Wer weiß, vielleicht geht euch das ja ganz genauso?

Also schaut es euch mal näher an:

Geisterschiffe

(OT: Ghost Ships. Östersjöns okända historia)

Von Jonas Dahm und Carl Douglas

Piper Verlag 2022 (Malik)

272 Seiten, geb., Format: 33 x 24 cm

Übersetzt von Lisa Arnold

Preis: 45,00 Euro

ISBN 978-3-89029-573-2

Der Mensch ist nicht dafür gemacht, auf Dauer unter Wasser zu leben. Er ist dort stets nur zu Gast und nach mehr oder minder kurzer Zeit genötigt, zur Oberfläche zurückzukehren, von neu­em Luft in seine Lungen zu saugen und wieder normal zu at­men. Der Mensch gehört ans Licht und an die Luft … und den­noch fasziniert ihn das Meer seit Jahrtausenden. Das Meer als Reiseweg, als Nahrungsgrund, zuletzt auch als Hort von Rätseln und Geheimnissen.

Seit der Franzose Jacques Cousteau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Tauchen durch Erfindung der Aqualunge von den umständlichen Apparaturen befreite, die der Menschheit lange die Bewegung auf dem Meeresgrund erschwerten, hat die Tauchtechnik rasante Fortschritte gemacht. Heutzutage können Taucher mit speziellen Monturen und Atemmischungen sowie verbesserter Kenntnis der physiologischen Gegebenheiten beim Tauchen in Tiefen vorstoßen, die vor dem Jahr 1900 unzugäng­lich waren. Ebenso hat sich die Unterwasserfotografie seit ihren Anfängen in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts beeindru­ckend weiterentwickelt.

Das vorliegende Buch des Historikers Carl Douglas und des bril­lanten Unterwasserfotografen Jonas Dahm dokumentiert beides auf höchst bemerkenswerte Weise. In 145 großformatigen Bil­dern nehmen uns die beiden mit in die kalten, trüben Tiefen der Ostsee. In rund 3.000 Tauchgängen, die die beiden mit ihren Teams in wechselnder personeller Zusammensetzung durchge­führt haben, haben sie Hunderte von Wracks entdeckt und – so­weit es die Gegebenheiten zuließen – erkundet und fotografisch festgehalten.

Der großformatige Bildband stellt eine ganze Reihe dieser Wracks dar, in den nachgefügten erläuternden Texten werden die zumeist dramatischen Umstände ihres Sinkens und der vor­malige Werdegang der meisten Schiffe, die sie besucht haben, skizziert. Dabei ist das geisterhaft grüne Licht des Titelbildes, das den Leser von Anfang an gefangen nimmt, gewissermaßen symptomatisch für den Rest des Buches. Von Seite zu Seite dringt man immer tiefer ein in die Geheimnisse der versunke­nen Schiffe, die in einem Zeitraum vom 16. bis zum 20. Jahrhun­dert gesunken sind und sich in Fundtiefen bis gut 100 Metern Tiefe zum Teil verblüffend gut erhalten dem Blick des Zuschau­ers präsentieren.

Wir sehen sowohl überraschend gut erkennbare Wracks als auch solche, die durch Seeschlachten in wirre Bretterhäufen verwandelt wurden, aus deren Topografie man kaum mehr schlau wird. Doch die orientierenden Blicke der Taucher und die Erläuterungen lenken den Blick zurück zu den Bildern selbst.

Da war ein Sextant auf dem Bild? Wo? Und dort: Schuhe, Mün­zen, Gürtelschnallen mit noch lesbaren Inschriften. Beeindru­ckende, manchmal noch Farbreste tragende Galionsfiguren, die geisterhaft aus dem grünen Dämmer der Tiefe auftauchen. In Regalen stehen noch Flaschen, anhand erstarrter Maschinente­legrafen erkennt man, wie plötzlich der Untergang vonstatten ging. Wir sehen groteske Rettungsringe, die nutzlos im jähen Versinken des Schiffes waren und immer noch an der Reling be­festigt sind. Dann wieder tauchen pittoresk blank polierte, ver­zierte Metallstufen auf, die in das dunkle Innere eines Wracks hinunterführen und uns verlocken wie Sirenenrufe: Komm doch weiter, tauche tiefer hinein, schau, was sich hinter der nächsten Türe verbirgt … solchen Sirenenrufen müssen die Taucher meist widerstehen, da ihre Zeit in der Tiefe eng begrenzt ist.

Doch nicht immer – oft gibt es tatsächlich Gelegenheit, das In­nere der Wracks zu erkunden. Und dann erhascht man Einblicke ins Innere der Schiffe selbst: wie versunkene, düstere Moorland­schaften wirken sie zumeist im Licht der starken Tauchlampen, meist rostrote Dünenlandschaften, die die gefluteten Kabinen erobert haben. Bisweilen fremdartig wie die Oberfläche ferner Welten und doch auf beunruhigende Weise vertraut.

Doch in einem Punkt muss ich die am Ende gemachten Worte von Douglas etwas korrigieren. Er schreibt: „Es mag morbide wirken, wenn man dem Korallenriff – dem Inbegriff des Lebens – plötzlich tote Objekte unter Wasser vorzieht, aber mein Ge­schichtsinteresse wollte es damals so.“ Insofern ist das zu korri­gieren, als die Wracks nicht tatsächlich tot sind. Ja, es ist richtig, dass die meisten von ihnen die Grabstätten von zahllosen Men­schen sind, die hier auf tragische Weise ihr Leben verloren, und auf manchen der Bilder wird man auch tatsächlich der Gebeine der Verstorbenen ansichtig. Der Autor verschweigt nicht, dass dies Orte der Tragödie sind.

Zugleich ist aber auch bekannt – und auch dies dokumentieren die Bilder auf beeindruckende Weise, wenn man sie sich sehr genau anschaut – , dass diese versunkenen Schiffe zugleich Orte neuen Lebens sind. Sie bilden, was in tropischen Gewäs­sern offensichtlicher zutage tritt, künstliche Riffe, auf denen sich neues Leben ansiedeln kann. Auf den Ostseewracks ist das auf­grund der mageren Lichtverhältnisse und der Kälte in der Mee­restiefe in geringerem Maße der Fall, das ist wahr. Aber achtet, wenn ihr die Bilder anschaut, mal sehr genau auf die bisweilen wirklich beeindruckende Dichte der Muschelkolonien, die sich dort neuen Lebensraum erobert haben … Dahm verliert darüber kein Wort. Aber ich habe das deutlich registriert. Die Wracks sind nicht nur Orte des Zerfalls und des Morbiden, sondern auch Heimstätten neuen Lebens – dazu muss man nicht nur nach vorbeischwimmenden Fischen suchen.

Wer immer also sich vom rätselhaften Zauber der versunkenen Schiffe einfangen lassen möchte und sich ihrem geheimnisvol­len Charme nicht entziehen kann, sei ausdrücklich auf dieses wunderschön gemachte Buch hingewiesen, das sowohl ästhe­tisch wie historisch den Leser vollständig auf seine Kosten kom­men lässt. Mehr noch: Eigentlich wünscht man sich, wenn man das Buch, benommen von soviel faszinierenden Informationen, dann schließt, nur eines – wo ist eigentlich das nächste davon? Denn hier werden ja im Höchstfall 40-50 Wracks dokumentiert … da gibt es doch vielfach noch Material für weitere solche Bü­cher! Wo sind sie? Ich würde sie umgehend kaufen!

© 2022 by Uwe Lammers

Nun, meine Freunde, wie ist es mit dem Sirenenruf dieses Bu­ches? Packt es euch schon allein nach der Rezension? Dann habe ich meine Arbeit solide ausgeführt, würde ich meinen. Auf jeden Fall lohnt dieses Buch die Anschaffungskosten.

In der kommenden Woche kehren wir in den turbulenten eroti­schen Zyklus von Jessica Clare zurück. Es bleibt sehr vergnüg­lich, vertraut mir.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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