Liebe Freunde des OSM,
heute machen wir mal einen Ausflug auf ein bizarres Eiland der Zivilisation, gewissermaßen auf einen geheimen Hinterhof, wo die Zeit stillsteht und die Regeln der Normalität außer Kraft gesetzt sind.
Wir befinden uns in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, und in England pulsiert noch immer eine neue Denkrichtung der Phantastik, die man „new wave“ nennt. Es ist eine weitgehende Abkehr von den Weltraumimperien des frühen Jahrhunderts und der Pulp-Ära, es geht mehr um Innenraumerkundung, um bizarre, meist dystopische Landschaften, in denen sich die zerbrochene Psyche der Protagonisten spiegelt.
Dies ist der Background, vor dem man den Roman sehen muss, den ich heute mal aus dem Abgrund der Vergessenheit ans Tageslicht zurückbefördern möchte. Wie ich in der Rezension vor fünfzehn Jahren schon so treffend schrieb: Es ist nicht wirklich Science Fiction, sondern eine seltsam gebrochene Form von eskapistischer Literatur, die im Grunde auf eine jahrhundertelange Traditionslinie zurückblickt. Und doch schafft es James Graham Ballard, diese insulare Welt ganz ins Hier und Jetzt der pochenden Hightech-Zivilisation zurückzuholen.
Willkommen auf der Betoninsel und in einem Alptraum ganz besonderer Prägung …
Die Betoninsel
(OT: Concrete Island)
von James Graham Ballard
Heyne 3803, 1981, 192 Seiten
Aus dem Englischen von Walter Brumm
ISBN 3-453-30744-5
Robert Maitlands normales Leben endet am 22. April 1983. An diesem Tag fährt der 35jährige Londoner Architekt mit überhöhter Geschwindigkeit und hat an einem besonders unübersichtlichen Streckenabschnitt des Londoner Verkehrsnetzes einen Autounfall: er durchbricht die Leitplanke, schlittert eine mehrere Meter hohe, steile Böschung hinab und ist auf einmal auf einer Insel gestrandet, die von Hochgeschwindigkeitstrassen, Zäunen und steilen Böschungen umrandet wird.
Sein Wagen hat einen Totalschaden erlitten, er selbst ist allerdings erstaunlich gering verletzt. Ganz gefangen in dem Bewusstsein, schnellstmöglich in sein normales Dasein zurückkehren zu müssen, bemüht sich Maitland die Böschung hinauf und versucht, einen Wagen anzuhalten. Bei diesem Versuch kommt er beinahe ums Leben – schwer verletzt stürzt er erneut die Böschung hinab und findet sich nun in einer höchst prekären Lage wieder: er ist ein Gefangener dieses seltsamen „Betoneilands“, ohne Kontakt zur Außenwelt. Schnell stellt er fest, dass seine Chancen immer weiter sinken, dieses unglaubliche Gefängnis mitten in der Zivilisation zu verlassen, je länger er hier verweilt. Denn es gibt keine nennenswerte Nahrung, außerdem setzen ihm seine Verletzungen zu und Wundfieber schwächt Maitland weiter.
Doch die Umweltbedingungen stehen weiterhin gegen ihn, und immer mehr muss er begreifen, dass er sich auf diesem verwahrlosten Grundstück auf längere Zeit einzurichten hat, dass die Rückkehr so rasch wie erhofft nicht gelingen wird. Also macht sich Robert Maitland daran, sein neues Reich zu erforschen und findet entgegen seiner Erwartung (und damit führen sowohl der englische wie der deutsche Titel in die Irre) bis fast auf die Grundmauern geschleifte Gebäude, deren Keller aber teilweise intakt sind, er entdeckt die Reste eines Kinos, Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, einen Teil eines Friedhofs … und dann macht er auch noch die schockierende Entdeckung, dass er nicht der einzige Bewohner dieser seltsamen Insel ist, was naturgemäß ganz besondere Probleme erzeugt …
Genau genommen ist dies kein Science Fiction-Roman. Zwar hat Ballard ihn im Jahre 1973 geschrieben und zehn Jahre in die Zukunft projiziert, aber er entbehrt aller phantastischen Zutaten, die man für einen typischen SF-Roman erwarten würde. Wie viele seiner Romane ist auch diese Geschichte mehr eine Art von sozialem Experiment und damit ein klassisches Stück der New Wave, die ja weniger auf utopischen „Außenabenteuern“ basierte, sondern mehr auf dem „inner space“ des Menschen. Damit sind Ballards Werke, und besonders dieser hier, den sozialkritischen Werken eines Philip K. Dick vergleichbar. Hier ist diese Geschichte aber beinahe allen verfremdenden Beiwerks entblößt, was, wie man rasch erkennt, Methode ist.
Die drastische Form, in der Ballard hier einen modernen Menschen in der Erfolgsgesellschaft brüsk auf einem Abstellgleis des Daseins zum Stillstand bringt und ihn dann in einer Zwangsruhepause dazu nötigt, sich mit seinen eigenen inneren Dämonen auseinanderzusetzen (was Maitland eher schlecht gelingt), ist indes ein Topos, der sich schon seit Jahrhunderten großer Beliebtheit erfreut. Ein vielleicht bekanntes Beispiel hierfür ist Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, mit dem diese Geschichte einige Ähnlichkeiten aufweist. Und das vielleicht Beunruhigendste an diesem Werk ist wohl, dass es auf ähnliche Weise immer noch geschehen könnte.
Natürlich: der Lokalkolorit ist buchstäblich veraltet, und Bunker des Zweiten Weltkriegs wären nach 60 bzw. 70 Jahren sicherlich in Verkehrsplänen längst planiert, auch sind Che-Guevara-Plakate und Potrauchen, wie in diesem Roman, durchaus nicht mehr „en vogue“. Aber wie tief verwurzelt die Vorstellungen von „Aussteigen“ aus der hektischen Berufswelt, den Ellenbogenkämpfen des Aufstiegs und der rigorosen Rivalität sind, belegen zahllose Ratgeber, Meditationsseminare oder auch Filme wie „Cast Away“, wo vor einigen Jahren Tom Hanks etwas ganz Ähnliches widerfuhr wie Robert Maitland, nur eben im „passenderen“ Setting einer tropischen Insel.
Vermutlich die bestürzendste Entdeckung des Lesers besteht in Maitlands wahnhafter Veränderung gegen Schluss, über die ich lieber nichts Genaueres schreibe. Aber wenn man das Buch ausgelesen hat, ist man durchaus am Zweifeln, ob man, selbst genau in Maitlands Situation steckend, viel klüger handeln würde als er. Ja, daran kann man ohne weiteres zweifeln …
Auch wenn dieser Roman also streng genommen keine SF ist, sollte man sich seiner wieder erinnern (und falls es mal eine Neuübersetzung etwa von Joachim Körber geben sollte, wäre sie dieser Version sehr vorzuziehen, da sich der Übersetzer Walter Brumm Ballards Wortreichtum nicht gewachsen sieht) …
© 2009 by Uwe Lammers
Ihr kennt das von meinem abwechslungsreichen Rezensions-Blog: Schwere oder bizarre Kost wechselt sich mit leichterer Lektüre durchweg ab. Und so kommen wir in der nächsten Woche weg von dem bizarren, verkehrsumbrausten Betoneiland und landen wieder in der amüsanten Welt von Jessica Clares „Perfect Passion“. Wieder erwischt es einen Milliardär … doch wen nur?
Mehr dazu in der kommenden Woche.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.