Liebe Freunde des OSM,
was fasziniert uns an Büchern und führt dazu, dass wir sie kaufen? Diese Frage umfassend zu beantworten würde hier natürlich den zur Verfügung stehenden Raum sprengen, ganz klar. Für mich, und nur für mich kann ich recht präzise sprechen, gibt es eine klare Rangliste von alternativen Kategorien.
Zum einen sind da natürlich bekannte, vertraute und als gut eingestufte Autorinnen und Autoren.
Zum zweiten reizt mich vielfach das Sujet, da greife ich auch gern zu neuen, unbekannten SchriftstellerInnen. Da kommt es selbstverständlich bisweilen zu Fehlgriffen.
Zum dritten mögen Titelbild oder Klappentext relevante Auswahlkriterien sein.
In diesem Fall war es, kein Witz, eine Kombination aus Thema, der Haptik des Buches (!) und natürlich der schieren Gelegenheit: Es gab die Möglichkeit, das Buch quasi umstandslos zu verschlingen.
Ich muss sagen, in diesem Fall hat mich die Intuition nicht getrogen, sondern mich zu einem interessanten Buch einer unvertrauten Autorin hingelenkt. Und ein wesentliches Element des Werkes fand ich ganz besonders anheimelnd und überraschend.
Welches? Ach, lest einfach weiter, dann erfahrt ihr mehr:
Fly me to the Moon
Von Anaïs Goutier
Knaur 51671
448 Seiten, TB
August 2015
ISBN 978-3-426-51671-3
Es gibt Bücher, die kauft man und stellt sie monate- oder jahrelang ins Regal, gewissermaßen als Lesevorrat, um sie zu gegebener Zeit zu schmökern. Und dann gibt es Bücher … wie soll ich das ausdrücken … Bücher, die sofort geradewegs danach rufen, unverzüglich gelesen zu werden. So ging es mir mit dem vorliegenden Werk.
Im Jahre 2013 erschien auf der Selfpublisher-Plattform Neobooks der vorliegende Roman als sechsteiliger E-Book-Zyklus. Ungeachtet seines englischen Titels handelt es sich um ein Werk einer deutschen Autorin, das es dann zwei Jahre später in einer grundlegend überarbeiteten Fassung zu einer Buchpublikation bei Knaur gebracht hat (etwas, was nicht allzu viele E-Books aus Selfpublisher-Hand fertig bringen, hier hat mutmaßlich der sonstige Rang der anonym schreibenden Autorin etwas nachgeholfen). Das Titelbild ist natürlich wie üblich völlig sinnfrei gewählt, aber die etwas samtige Haptik des Umschlags hat etwas unleugbar Sinnliches an sich, was zweifellos Intention ist. Und auch sonst hat das Buch einige Überraschungen in petto.
Worum genau geht es?
In Frankfurt am Main lebt und arbeitet die junge Dozentin Ann-Sophie Lauenstein, deren Schwerpunkte Kunst- und Geschlechtergeschichte sind. Als engste Vertrauten fungieren ihre beiden launischen Katzen und ihre Freundin Kiki, eine kommunistisch-fundamentalistisch angehauchte Künstlerin (die freilich im Buch etwas zu flüchtig thematisiert wird, um hinreichend Profil zu gewinnen). Im Grunde genommen arbeitet Ann-Sophie an ihrer Habilitationsschrift, unterrichtet aber weiterhin einige Tage an der Woche und gibt entsprechende Kurse an der Universität.
Im Zuge einer Exkursion im Rahmen dieser Kurse, die sie in ein vom milliardenschweren Hotelier Ian Reed gestiftetes Privatmuseum führt, lässt sie sich im Anschluss an die Führung zu ein paar despektierlichen Bemerkungen bezüglich Reeds seltsamem Verständnis von Kunst und Privatsammlung hinreißen … wobei sie nicht ahnt, dass der attraktive Mann am Nebentisch Ian Reed IST. Als Wiedergutmachung für ihre Worte fordert er von ihr ein gemeinsames Abendessen, und es zeigt sich sehr schnell, dass Reed mehr im Sinn hat als nur ein romantisches Dinner. Eine erstaunlich leidenschaftliche Liebesnacht schließt sich an, und ehe die junge Dozentin begreift, was da eigentlich passiert, ist es auch schon geschehen – sie hat sich in ihn verliebt.
In Ian Reed, einen Mann, der quasi aus dem Koffer lebt und dessen Leben aus unentwegten Reisen rund um den Globus besteht. Teilweise ist das notwendig als Leiter der Reed Group, eines internationalen Hotelkonzerns. Aber schnell entdeckt sie, dass hinter dem Playboy und Immobilienhai noch ein völlig anderer Mensch steckt, der eine durchaus dunkle Seite der Erotik bevorzugt … und als ihr eine vormalige Gespielin Ians namens Isabelle schockierende Videos von dem zeigt, was angeblich Reeds tiefste Sehnsüchte darstellt, da kommt es zum peinigenden Bruch zwischen den beiden.
Und – ganz analog zu E. L. James´ Liebespaar Christian Grey und Anastasia Steele in „Fifty Shades of Grey“ – beide leiden darunter, da die Verliebtheit längst beiderseitige Obsession ist … und sie raufen sich dann wieder zusammen. Aber wie Ann-Sophie entdecken muss, sind die Schatten der Vergangenheit noch deutlich finsterer, und es gibt Dinge, die Ian Reed so mustergültig verdrängt hat, dass sie vielleicht für immer zwischen ihnen stehen … gar zu verschieden scheinen ihre beiden Lebenswelten zu sein, vielleicht völlig unvereinbar …
Während also vieles von dem, was in der Geschichte abgehandelt wird, in der Tat recht vertraut wirkt, wenn man mal ein paar mehr erotische Romane mit Anklängen aus dem BDSM-Milieu gelesen hat, so hat der Roman doch einen nicht geringen Lesesog ausgestrahlt und erreicht, dass ich ihn binnen vier Tagen – in sehr zurückhaltendem Lesetempo, sonst wären auch zwei denkbar gewesen – geradewegs verschlang. Lesbar ist er also unbedingt.
Überrascht, und zwar enorm positiv überrascht, hat mich ein Element des Inhalts, der wirklich nicht zu erwarten war. Ja, es wird im Klappentext geschrieben, die Verfasserin sei „eine 1985 geborene Autorin und Kulturwissenschaftlerin, die im Bereich der interdisziplinären Frauen- und Geschlechterforschung publiziert und forscht“, aber das kann nur bedingt auf die erstaunlich breite Detailversessenheit Ann-Sophie Lauensteins vorbereiten. Da werden Autoren und Künstler, Kunstwerke, Kunststile, Architekturdetails und Galerien, historische Kontexte und Stilrichtungen souverän in die Geschichte eingeflochten, dass mir ein ums andere Mal durchaus die Sprache wegblieb. Soviel Detailkenntnis, die der weiblichen Hauptperson perfekte wissenschaftliche Konturen verleiht, habe ich bislang noch in keinem erotischen Roman finden können, nicht mal da, wo es vermeintlich um Galeristinnen oder Ähnliches ging.
Respekt, das war wirklich gelungen!
Das ist das große Plus, das sicherlich auch zahlreiche Leserinnen, die sich auf diese Weise angenehm unterhaltend fortbilden möchten, sehr reizvoll wirken dürfte. Und zugleich kaschiert dies ein Manko, das ich an dieser Stelle auch nicht verschweigen will: Die Dramaturgie der Geschichte wirkt nur in der ersten Hälfte des Gesamtkontextes, danach erwartet man zwar noch mancherlei dramatische Verstrickung, aber es kommt keine mehr. So betrachtet sind – abgesehen von Ians Offenbarungen über seine Vergangenheit – die dramatischen Pulver verschossen. Ein wenig überkam mich das Gefühl, als versuchte die Autorin am Ende etwas gezwungen ein Happy End zu etablieren, das indes hinter den Erwartungen zurückblieb.
Manch ein Leser mag die vielen intellektuellen Details „verkopft“ nennen oder unangemessen ablenkend (da ich selbst kulturwissenschaftlichen Background aufweise, sah ich das weniger als Manko, sondern als gelungenen Teil der Protagonistencharakterisierung), manch einer mag die Elemente zu bekannt komponiert finden oder denken, dass der Schluss nicht so weit ging, wie vielleicht erhofft … aber alles in allem bleibt für mich eine durchaus angenehme Leseerinnerung zurück. Und wer neugierig geworden sein sollte, sei ausdrücklich aufgefordert, mehr als einen Blick in das Buch zu werfen.
Ach ja … und was ist mit dem Titel? Nein, es geht nicht wirklich zum Mond … aber um den Titelbezug zu realisieren, sollte man das Werk tatsächlich schmökernd genießen.
© 2022 by Uwe Lammers
In der nächsten Woche entführe ich euch mal wieder zu den Sternen. Ich las vor einer Weile ein weiteres SF-Werk eines leider schon verstorbenen Altmeisters der SF. Wem der Name Jack Vance noch etwas sagt, der spitzt womöglich die Ohren. Welches seiner zahlreichen Werke ich in der kommenden Woche bespreche, nun, da müsst ihr euch noch ein paar Tage gedulden.
Bis bald, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.