Liebe Freunde des OSM,
der Titel ist, wenn man das Thema des Buches erst mal begreift, zu Beginn durchaus ein Mysterium. Denn wie kann man, vorsichtig gesprochen, einen Schlaganfall, der einen autonomen, stolzen und selbstbewussten Mann von einem Moment zum nächsten in ein mehr oder minder hilfloses, bedürftiges Wesen verwandelt, als Glücksfall bezeichnen?
Dem Hollywood-Schauspieler Kirk Douglas, der hier von seiner diesbezüglichen Erfahrung spricht, widerfährt aber exakt dies. Und ja, zu Beginn ist das alles für ihn verstörend, die ganze Welt scheint sich jählings komplett zu wandeln, auf eine durchweg bestürzende Weise … aber nach einer Weile erkennt er durchaus Licht am Ende des Tunnels. Und er kämpft sich zurück in die Selbstbestimmtheit und gewinnt durch diesen Schicksalsschlag einen völlig neuen Blick auf das Leben.
Manchmal, hat man beim Lesen dieses Mut machenden Buches das Gefühl, ist es vielleicht tatsächlich so, dass man im Leben eine Vollbremsung benötigt, um den wahren Wert des Daseins wieder zu entdecken.
Dies hier ist also kein Jammerbuch eines durch das Schicksal Abgehängten, es ist ausdrücklich ein Mutbuch – und ein sehr lesenswertes dazu.
Lest unbedingt weiter:
Ein Fall von Glück
(OT: My Stroke of Luck)
von Kirk Douglas
Bastei 61539
Oktober 2003, 7.90 Euro
Aus dem Amerikanischen von Wolfdietrich Müller
ISBN 3-404-61539-5
Manchmal kommt das Glück ganz unverhofft, und gelegentlich sogar in Form von Katastrophen, die die Betroffenen an allem zweifeln lassen, an Gerechtigkeit, an Gott, schlicht an allem.
So ging es dem Urgestein Kirk Douglas, jenem Schauspieler, der schon vor dem Zweiten Weltkrieg seine Karriere am Theater und später im Film begann. Im Jahre 1996 änderte sich sein Leben auf eine radikale Weise, die er sich früher nie hätte träumen lassen, und das geschah so:
„Ich fühlte mich recht gut nach meiner Rückenoperation, hatte Lust, mich zum Golfen zu verabreden, und träumte von einem langen Treibschlag am vierten Loch. Plötzlich hatte ich ein komisches Gefühl in der rechten Wange.
Es war, als hätte ein spitzer Gegenstand einen Strich von der Schläfe gezogen, auf meiner Wange einen Halbkreis beschrieben und dann innegehalten. Ich spürte keinen Schmerz, aber als ich es Rose, meiner Maniküre, zu schildern versuchte, konnte ich nicht sprechen. Es kam nur Quatsch heraus. Was war mit mir los?“
Nun, was er hier beschreibt, ist seine ganz persönliche Erfahrung mit einem Schlaganfall, zu seinem Glück nur einem sehr leichten – dennoch: seine Stimme ist nahezu verschwunden, er ist von einem Moment zum nächsten vom Star zu einem Krüppel degradiert, dessen Karriere sich buchstäblich in Luft auflöst.
Das Schlimme daran ist, dass er zwar noch vernünftig denken kann, aber unfähig ist, sich zu artikulieren. Und der eigentlich steinalte Schauspieler findet es ungerecht, dass es gerade ihn getroffen hat. Um seine eigenen Worte zu verwenden: „Schlaganfälle sind etwas für ältere Leute, die undeutlich sprechen und sich mit Gehhilfen oder Rollstühlen fortbewegen. Ich war erst 80 – wie könnte ich zu einem Schlaganfall kommen? Heißt das, dass es morgen nichts wird mit dem Golfplatz …?“
In dem Moment, in dem er realisiert, was geschehen ist – und wie viel Glück er gehabt hat – , da schlägt eine unerbittliche Woge aus Selbstmitleid und Verzweiflung, ja, Depression über ihm zusammen. Bringt ihn, den „tough guy“ aus zahllosen Filmen, dazu, sich stundenlang in sein Schlafzimmer zurückzuziehen und ohne Unterlass zu weinen. Dieses … dieses Dasein, sagt er sich, das er jetzt zu führen gezwungen ist … ist das noch lebenswert? Wäre es nicht besser, tot zu sein?
Er entsinnt sich seiner 1958 gestorbenen Mutter, deren letzte Worte an ihn gerichtet waren und die ihm Mut machen sollten: „Hab keine Angst, das geschieht mit uns allen.“ Er denkt an all die Vorfälle, bei denen er dem Tod von der Schippe gesprungen ist, begonnen im Alter von fünf Jahren, wo er beinahe in einem Wassergraben ertrinkt, bis zu einem Hubschrauberabsturz im Jahre 1991.
Und später, als er sich mühsam berappelt und mit Hilfe einer Sprachtherapeutin beginnt, sich wieder ins Leben zurückzubegeben, entdeckt er auch die zahllosen tragischen Vorfälle in Kreis seiner Filmgefährten. Und er sieht beklommen, wie erschreckend häufig Schlaganfälle und ihre Folgen sind: „Jede Minute bekommt eine Person in den Vereinigten Staaten einen Schlaganfall. Das sind Jahr für Jahr mehr als 700.000 Menschen. Während Sie diese Seite lesen, bekommen zwei weitere Personen einen Schlaganfall …“
Während seine Genesung quälend langsam Fortschritte macht, begreift Douglas ganz allmählich – es ist ein Prozess, der sich über mehrere Jahre hinzieht – , wie egoistisch er bisher durch sein Leben gehastet ist, wie wenig er auf die Bedürfnisse seiner Freunde eingegangen ist und wie leicht es für ihn war, Menschen jahrzehntelang aus dem Blickfeld zu verlieren. Er entwickelt ein Gespür für das Leiden anderer, und er beschließt, etwas dagegen zu tun.
Zusammen mit seiner Frau Anne begründet er ein Heim für alzheimerkranke Schauspieler. Er engagiert sich für Kinder, seine Frau hilft dabei, Spielplätze in Innenstädten sowie Schulhöfe zu sanieren. Und als Kirk Douglas erst einmal wieder imstande ist, halbwegs verständlich zu sprechen, macht er auf eigene Kosten zahlreiche Reisen, um Vorträge über das Thema Schlaganfall zu halten und dafür zu sorgen, dass diese Menschen in der Öffentlichkeit mehr Gehör finden.
Schließlich geht er, nachdem er zahllose Briefe erhalten hat, dazu über, einen Leitfaden zu schreiben, mit dem er verhindern möchte, dass Schlaganfallpatienten in dumpfem Selbstmitleid und ihren Depressionen ersticken, wie es ihm selbst beinahe gegangen ist. Der Leitfaden, ein außerordentlich lesenswertes Dokument der Humanität, befindet sich in diesem Buch.
Während Kirk Douglas (sein bürgerlicher Name ist Issur Danielovitch, er ist Sohn jüdisch-russischer Einwanderer und 1916 in New York geboren) seine Depressionen überwindet und von seinen Schlaganfall-Erfahrungen schreibt, fließt in dieses Buch auch vieles andere ein, das man eher in einer Biografie erwarten würde. Er erzählt von seinen Eltern, insbesondere von seiner Mutter, von seinen Erlebnissen beim Film, vom Schicksal vieler Freunde und Bekannter.
Und natürlich, ganz wichtig – Punkt 3 seines sechs Punkte umfassenden Leitfadens – , er verliert nie seinen Sinn für Humor. Das ist an manchen Stellen so heftig ausgeprägt, dass man schallend lachen muss. Und das bei einem Buch, das eigentlich ein recht erschreckendes, trauriges Thema behandelt. Ich gebe nur eine Stelle wieder, die ich sehr prägnant fand. Douglas ist in Berlin zu Gast, um den Goldenen Bären in Empfang zu nehmen. Er schreibt: „Die Übergabe ging auf Englisch vonstatten. Ich machte jedoch Eindruck, als ich meine Dankesrede auf Deutsch hielt. Ich glaube, die deutsche Sprache klingt mit einem Schlaganfall besser …“
Und schließlich, im Jahre 1999, schafft er es sogar, wieder einen Film („Diamonds“) zu drehen, diesmal über einen von einem Schlaganfall genesenden Boxer. Naheliegend, dass es keine bessere Besetzung geben konnte.
Insgesamt ist Kirk Douglas´ Buch – er bezeichnet den Schlaganfall sogar im Buch und im Titel als Glücksfall für sich! – ein eindrucksvolles Plädoyer für die Fähigkeit des Menschen, mit Schicksalsschlägen fertigzuwerden und zu lernen, dass auch ein Leben als solcherart „reduzierter“ Mensch lebenswert sein kann, ja, vielleicht sogar manchmal lebenswerter als zuvor, weil man nun die feineren Nuancen wahrzunehmen versteht, die dem Gesunden meist entgehen.
Ich wünsche diesem Buch viele Leser unter all jenen, die an ihrem Leben verzweifeln und nach Trost und Mut suchen. Dieses Buch gibt euch Kraft.
© 2005/2020 by Uwe Lammers
Und wie ich euch das letztens schon in einer Fußnote versprochen habe, beginnt in der kommenden Woche die Erstveröffentlichung meiner Rezensionen zu einem wirklich goldigen Romantikzyklus, den ich in einem geradezu abenteuerlichen Tempo heißhungrig verschlungen habe. Ich könnte mir gut denken, dass euch das ähnlich geht, wenn ihr dafür einen Nerv besitzt.
Lasst euch mal überraschen, worum es genau geht.
Bis nächste Woche, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.