Liebe Freunde des OSM,
ich hatte schon lange bevor ich 2006 auf dieses Buch stieß, eine unheilbare Infektion erlitten, die bis heute andauert – sie ist unter Historikern weit verbreitet und kann unter dem Label „Archivitis“ einsortiert werden. Archivfieber. Gemeint ist damit eine unstillbare Neugierde, in einem Archiv zu sein, sei es als Nutzer oder als Mitarbeiter, geheimnisvolle Kartons mit nicht selten unsortiertem Inhalt zu öffnen und sich in alten Dokumenten in die rätselhaften Tiefen der Vergangenheit entführen zu lassen.
Nein, ich gestehe, diesem Sirenenruf kann ich mich nicht entziehen und habe es auch überhaupt nicht vor. Mehr noch: Jedes historische Buch, das von Archivitis-Süchtigen gleich mir verfasst worden ist, das also auf breiter Kenntnis der meist jahrhundertealten Originaldokumente entstanden ist, saugt mich fast ebenso gut in die Vergangenheit hinein wie es ein Archivkarton mit unkartiertem Inhalt vermag.
Und deshalb kenne ich dieses rätselhafte Knirschen von Löschsand, das Souhami an einer Stelle kundig erwähnt, das man in alten Dokumenten aus dem 17. oder 18. Jahrhundert immer wieder findet, nicht nur im Public Record Office in London (in Kew, um exakt zu sein, wie ich inzwischen weiß).
Noch mehr hat mir am vorliegenden Buch allerdings gefallen, dass die Autorin (die für das Buch immerhin 2001 den Preis für „die beste Biografie“ einheimsen konnte, was ich für ausgesprochen angemessen halte) der gefährlichen Klippe entging, eine Schmalspurdarstellung zu verfassen. Diese Gefahr besteht immer, sie ist oftmals eine klare Folge zu enger Zeithorizonte beim Abfassen eines Buches. Diana Souhami bemüht sich stattdessen, ein Kontinuum darzustellen und die Biografie Alexander Selkirks, des historischen Vorbilds für Daniel Defoes Abenteurer Robinson Crusoe, in ihren zeithistorischen Kontext einzubetten.
Das klingt langweilig? Freunde, entschuldigt, aber ihr habt ja keine Ahnung! Wer heutzutage „Geschichtsunterricht“ aus abschreckender schulischer Erinnerung an schlechte Pädagogen immer noch mit „Auswendiglernen von Geschichtszahlen“ verbindet, hat ohne Frage die letzten 25 Jahre Schulentwicklung verschlafen. Heutzutage wird auch in der Geschichtsdidaktik schon seit langem vernetzt gedacht, man lernt einfach angemessener, wenn man komplexe Sachverhalte und Kausalitätsbeziehungen erlernt … Geschichtszahlen sind als Orientierungsmarken natürlich immer noch wichtig, aber stumpfsinniges Auswendiglernen solcher Zahlen ist ebenso nutzlos und abstrus, als wenn man glaubte, jemand, der alle Zahlen von 1-1000 auswendig könnte, beherrschte Mathematik.
Seht ihr, das haltet ihr auch für albern. Aber bei Geschichte soll das funktionieren? Schaltet bitte euer Gehirn ein und lasst euch mal von einem wirklich gelungenen historischen Buch zeigen, was Geschichte TATSÄCHLICH bedeutet.
Neugierig geworden? Dann lest weiter:
Selkirks Insel
(OT: Selkirk’s Island)
von Diana Souhami
Goldmann, 2002
Aus dem Amerikanischen von Ditte und Giovanni Bandini
ISBN 3-442-30885-2
„Was würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?“, lautet heute eine oft gestellte Frage in Interviews, wenn es darum geht, die geistige Tiefe des Gesprächspartners auszuloten. Nicht wenige Menschen blamieren sich dabei unsterblich. Und doch hat diese Frage einen tieferen Kern, der selten hinterfragt wird. Während es hier um eine rein hypothetische Angelegenheit geht, war es in früheren Jahrhunderten nicht selten eine Frage von Leben und Tod, und eine Wahl gab es für den Betreffenden nur höchst selten.
Als im Jahre 1719 der britische Vielschreiber und gescheiterte Politiker Daniel Defoe sein Buch The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe1 anonym publizierte, das sehr zu seinem eigenen Erstaunen zu einem Bestseller wurde und rasch ein Millionenpublikum fand, da war diese Frage brandaktuell. Und das lag an einem rätselhaften Mann namens Alexander Selkirk, der bald darauf im Schatten von Robinson Crusoe nahezu vollständig verschwinden und von der Geschichte aufgesogen werden würde. Doch verdrehte das eher moralisch erbauliche Buch Defoes, das die namenlose Insel, Crusoes Exil, in einen dem Garten Eden ähnlichen Paradieszustand zurückversetzte, nahezu alles, was wirklich geschehen war.
Nicht nur verlegte Defoe die Insel von einer Seite des südamerikanischen Kontinents auf die andere (präzise: vor die Mündung des „Orinokoo-Flusses“), nicht nur zauberte er ein Schiffswrack in erreichbare Nähe, er bevölkerte die Insel auch mit anderen „Schreckgestalten“ aus damaligem Seemannsgarn wie etwa Kannibalen und Wilden, die sich bereitwillig missionieren ließen (beispielhaft Crusoes dunkelhäutiger Diener „Freitag“).
Das Vorbild aber für diese abenteuerliche Mär von erfolgreicher und sogar segensbringender Zivilisationsflucht war die Lebensgeschichte des schottischen Matrosen Alexander Selkirk, und die Geschichte davon, wie es wirklich gewesen sein dürfte, hat die britische Sachbuchautorin Diana Souhami aufgezeichnet:
Die Seefahrt gegen Ende des 17. und frühen 18. Jahrhunderts war Wagnis, Lockung und Katastrophe zugleich. England führte schon seit Jahrhunderten Krieg mit anderen Nationen – namentlich mit Spanien und Frankreich – , um die Schätze anderer Länder auszubeuten, und dieser Kampf um die britische Vorherrschaft zur See, die später weithin unangefochten sein sollte, war zu diesem Zeitpunkt alles andere als entschieden. Die Neue Welt lockte seit dem Fall des Azteken- und Inkareiches unermesslich, und die immer neuen Legenden, die Seeleute und Abenteurer aus der Ferne brachten, die Luftschlösser, die in kurzlebigen Zeitungsblättern ausgebreitet wurden, sie verzehrten die Seelen derer, die daheim in engen, ärmlichen Verhältnissen lebten und kaum jemals aus ihrem Kirchensprengel herauskamen.
Hungersnöte, Kindersterblichkeit, bittere Armut, maßlose Brutalität, Trunksucht und Untreue, all das waren Dinge, denen viele, zumal junge Menschen zu gerne auf irgendeine Weise zu entfliehen suchten. Am meisten lockte die See – und zahllose junge Männer suchten ihr Heil auf Schiffen, die in die Ferne segelten, in Erwartung kostbarer Schätze, des Ruhmes oder einer bessere Weltregion, in der sie angenehmer zu leben vermochten.
Die meisten dieser Männer erlitten stattdessen unermessliche Qualen, sie starben in Stürmen, an entsetzlichen Krankheiten, gegen die keines der damals gängigen Mittel (wie Aderlass etwa) half. Falls sie denn nicht Hungers litten, weil die Vorräte verdarben oder sie keine neuen besorgen konnten, mussten sie froh sein, wenn überhaupt Kurs gehalten werden konnte, da die Längengradberechnung noch nicht möglich war.2 Phantasieländereien, die Anlass boten zu wilden Besiedelungsplänen, führten zu kolonialen Desastern von unbeschreiblichen Ausmaßen.3 Und so konnten die arglosen, schnell desillusionierten Seelen, die diese Katastrophen überstanden, von Glück reden, überhaupt ihr Leben zu retten.
Wenn es dann noch dazu kam, dass fremde Schiffe gekapert werden sollten – häufig überhaupt der Zweck solcher Unternehmungen – oder sich die Reisen ausdehnten, bis die Rümpfe unter dem Ansturm von Bohrmuscheln zerfielen, dann konnte man eigentlich jede Hoffnung von vornherein aufgeben. Doch bis sich das zeigte, waren die Schiffe meist Tausende von Seemeilen von der Heimat entfernt, und es gab keine andere Möglichkeit mehr, sich gegen das Schicksal zu sträuben, wenn man denn überhaupt zurückkehren wollte.
Der mutmaßlich im Jahre 1680 geborene Alexander Selkirk, ein jähzorniger junger Schotte, gebürtig in Nether Largo, war einer von diesen jungen Männern, die sich mit der engen Welt um sich herum nicht anfreunden konnten und an Bord eines Schiffes floh, um sich selbst zu verwirklichen. Dummerweise hatte er sich mit der Cinque Ports des Kapitän Stradling ein Schiff „ausgesucht“, das es nicht gut mit ihm meinte. Nur noch übertroffen von dem Kommandanten des Begleitschiffes, Kapitän Dampier, einem zwar erfahrenen Südseekommandanten, der aber jedwedes Risiko scheute und offensichtlich notorisch betrunken war, war auch Stradlings Kommando nicht eben vom Glück verfolgt.
Als sie schließlich nach zahlreichen verlustreichen Gefechten, zahllosen Entbehrungen und entgangenen Chancen mit arg dezimierter Mannschaft vor der späteren chilenischen Küste die Insel Juan Fernandez4 anliefen, die 650 Kilometer entfernt vom nächsten Land entfernt lag, da reichte Stradling die ständige Kritik Selkirks, und er beschloss kaltblütig, seinen Steuermann an Land auszusetzen und ihn hier zurückzulassen.
So sah sich Alexander Selkirk völlig unvermittelt mutterseelenallein auf einer wilden Insel, auf der es vor Ziegen (und Ratten) wimmelte, ohne hinreichendes Werkzeug, nur mit einer Bibel als Lesestoff, und vor seinem Auge erstanden die sattsam bekannten, furchtbaren Bilder anderer Inseln, die sie in den zurückliegenden Jahren angesteuert hatten – Inseln, auf denen sie die bleichenden Gebeine Ausgesetzter gefunden hatten, die in der Einsamkeit den Verstand und das Leben verloren hatten. Und alles deutete darauf hin, dass er, Selkirk, nun dasselbe Schicksal erleiden würde.
Indes – jenes Schicksal hatte anderes mit ihm im Sinn. Und nach schier endlosen vier Jahren und vier Monaten sichtete er endlich wieder ein Segel, das direkt auf Die Insel zuhielt …
Diana Souhami erzählt in dieser Biografie nicht ausschließlich das Leben des jungen schottischen Draufgängers Alexander Selkirk, und sie spricht auch, entgegen der Titelangabe, durchaus nicht nur von Der Insel. Vielmehr ist es ihr Anliegen, umfassend das Kontinuum darzustellen, in dem sich dieses Leben kometengleich bewegte, ein Leben, das durchwoben wird von dem Garn von Legenden, von Wunschträumen, Phantastereien und unglaublichen Desastern, Irrtümern, blutigen Wirklichkeiten und das oft genug von Zank, Hader, Inkompetenz, Trunkenheit und ähnlichen Dingen erzählt, die in gängigen Piratenfilmen gerne unterschlagen werden.
Das Leben als Freibeuter im Dienst der Krone war alles andere als angenehm, es erwies sich als entbehrungsreich, enttäuschend, oftmals tödlich, und es wimmelte von schrecklich Versehrten, von beispiellosen Unfällen, sodomitisch missbrauchten Tieren und Menschen (Selkirk bildet keine Ausnahme, egal, was Daniel Defoe später aus seinem Leben macht, das er sich nicht mal andeutungsweise vorzustellen vermag!). Doch Selkirk ist nicht nur der arme, mittellose, verwilderte Barbar auf seiner gebirgigen Insel, sondern er wird der Herr Der Insel, und diese gut vier Jahre außerhalb der menschlichen Gesellschaft prägen ihn dermaßen, dass er später unfähig ist, sich wieder in die menschliche Gesellschaft zu integrieren.
So erzählt Diana Souhami in diesem Buch sowohl von dem inkompetenten Willliam Dampier, von Kapitän Stradling und Kapitän Woodes Rogers als auch von den Nöten, die Aktionäre und beteiligte Matrosen hatten, nach Abschluss von Kaperfahrten (sofern die Schiffe überhaupt wieder zurückkehrten), an ihr Geld zu kommen. Von all den sich anschließenden Prozessen, Klagen und Protokollen jener gerichtlichen Vernehmungen einmal ganz zu schweigen.5 Überdies sind zahlreiche private Dramen in das Netzwerk dieser Seiten eingewoben, die es schwer machen, gerecht darzustellen, wie viel nun genau in Souhamis Buch steckt.
Und wer immer sich ein wenig die salzige Seeluft auf den kleinen, gefährlichen und bedrohten Schiffen des frühen 18. Jahrhunderts um die Nase wehen lassen möchte, um einen Eindruck zu bekommen, wie es damals wohl gewesen sein könnte, der sollte sich dieses Buch zur Abendlektüre auswählen. So erfährt man, auf was für einer seltsamen Faktenbasis Daniel Defoe seinen Roman aufbaute und wie arg verklärt doch die vier Jahre und vier Monate für Defoe zu 28 Jahren (!) wurden. Man erfährt in diesem Werk mehr und realistischer als bei Defoes Bestseller, wie das frühe 18. Jahrhundert und das Seemanns- und Inselleben wirklich war.
Selkirks Insel lohnt die Lektüre auf jeden Fall.
© 2006 by Uwe Lammers
Ihr meint, es sei unverständlich, warum diese Rezension so lange in meinem Materialfundus schlummerte? Tja, lasst euch versichern, dass es da noch sehr viel mehr derartige Schätze gibt. In Bälde werdet ihr mehr davon sehen.
In der nächsten Woche schauen wir uns etwas völlig anderes an. Einfach neugierig bleiben!
Bis bald, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. Daniel Defoe: Robinson Crusoe, Düsseldorf 2001.
2 Erst die Erfindung des Uhrmachers John Harrison ermöglichte eine präzise Berechnung des Längengrades, aber dies war erst Jahrzehnte später möglich. Vgl. Dava Sobel: „Längengrad“, 1996.
3 Vgl. John Prebble: „The Darien Disaster“, 1968.
4 In dem Buch durchgängig als „Die Insel“ bezeichnet, um sie von anderen Eilanden zu unterscheiden.
5 Überaus faszinierend sind auch die Anmerkungen zu den Quellen selbst, wenn sie beispielsweise zu Dokumenten schreibt: „Siehe dazu auch staubige Pappkartons voll von unsortierten, meerwasserfleckigen und sandknirschenden zeitgenössischen Dokumenten … des Public Record Office, London.“