Liebe Freunde des OSM,
heute möchte ich euch einmal jemanden vorstellen, den ich als Seelenverwandten der Vergangenheit bezeichnen könnte – einen Romantiker im Herzen, allerdings deutlich lyrischer veranlagt als ich selbst es jemals sein könnte. Und jemand, in dessen Prosa sich Philosophie, Religion und wunderbare Formulierungskunst zu einem Meisterwerk sanfter, träumerischer Schönheit verbinden, die man sonst nur zu selten findet.
Außerdem ist dieser Gewährsmann, ein 1931 verstorbener Schriftsteller mit orientalischen Wurzeln namens Khalil Gibran, heute wohl nur noch bekannt durch sein bis zur Gegenwart aufgelegtes Meisterwerk „Der Prophet“. Damit ist durchaus nicht der Prophet Mohammed gemeint, wie ihr beizeiten hier nachlesen könnt, wenn ich euch die Rezension dieses Buches zur Kenntnis gebe. Heute gibt es, sehr passend, wie mir scheinen möchte, in der Vorweihnachtszeit einen ersten Vorgeschmack auf seine meisterhaften Formulierungskünste. Und vielleicht versteht ihr diese Rezension auch als ein Zeichen dafür, dass der Orient noch aus deutlich mehr besteht denn nur aus Korruption, religiösem Fanatismus und Terrorismus.
Wer neugierig geworden sein sollte, der lese einfach weiter:
Vor dem Altar der Liebe
(OT: The Broken Wings/ Die gebrochenen Flügel)
von Khalil Gibran
Lotos-Verlag 2003
(ursprünglich: New York 1912)
Deutsch von Hans Christian Meiser
132 Seiten, geb.
Der Libanon hat heute den Ruch eines Landes der andauernden, verbitternden Gewalt, der Brutalität und des Terrors. Aber das war nicht immer so. Wenn man in der Geschichte nur wenige Jahrzehnte zurückgeht, in die Zeit, als der Erste Weltkrieg noch nicht die Landkarten der Region mit neuen, blutgetränkten, ethnisch ungerechten Linien überzogen hatte, findet man ein rätselhaftes, orientalisches Land, das dem Leser vorkommt wie ein Traum aus Tausendundeiner Nacht. Ein Land, über das man solche Sätze schreiben konnte:
„Der Frühling ist überall schön, am schönsten aber ist er im Libanon. Er ist ein Geist, der rund um die Erde streift, über dem Libanon aber anhält, um mit Königen und Propheten zu reden und mit den Heiligen Zedern die Erinnerung an eine ruhmreiche Vergangenheit heraufzubeschwören. Frei vom Schmutz des Winters und vom Staub des Sommers gleicht Beirut im Frühling einer Braut oder einer Wasserjungfrau, die am Ufer eines Baches sitzt, um in den Strahlen der Sonne ihre glatte Haut zu trocknen…“
Mystische Stimmung fängt den Leser schon sehr früh ein und schickt ihn zurück in jenes verwunschene Land, das wenige Jahre bereits der Vergangenheit angehörte und bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist. Es ist das Reich des christlichen Dichters Khalil Gibran, der dort am 6. Januar 1883 geboren wird. Und dieses Buch enthält einen Teil seiner Lebensgeschichte (ohne Zweifel dichterisch geglättet und geschönt, das ist unbestreitbar, aber hinreißend zu lesen).
In seinem achtzehnten Lebensjahr, also um das Jahr 1900/01 herum, lernt der junge Dichter eine schöne zwanzigjährige Frau kennen, Selma Karamy, die Tochter eines vereinsamten, wohlhabenden Beiruter Kaufmanns. Noch völlig unbeleckt von der Liebe und so liebenswert unerfahren in Herzensdingen, fühlt er sich auf unbeschreibliche Weise zu der blonden, melancholisch wirkenden Schönheit hingezogen, die auf ihre Weise scheu und zurückgezogen gelebt hat. Doch nur kurze Zeit nach ihrem Kennenlernen fällt ein Schatten auf ihr junges Glück – der Bischof Galib, den Gibran als gottlosen und nur am eigenen Vorteil interessierten Mann beschreibt, hat ein Auge auf den Reichtum von Selmas Vater geworfen und möchte nun die junge Frau mit seinem verdorbenen Sohn vermählen.
Sowohl der junge Gibran als auch seine tief religiöse Seelenfreundin Selma stürzen in einen Kessel der Verzweiflung. Und der Dichter begehrt auf. Er will nicht daran glauben, dass Gott selbst es zulassen wird, diese reine, ehrliche Liebe zugunsten einer Erpressung zu zerstören…
So schön die Ausgabe des Lotos-Verlages auch sein mag, sie krankt an vielerlei Dingen. Zuallererst ist zu nennen, dass sie sich bibliografisch inkorrekt verhält und weder den originalen englischen Titel noch das Ersterscheinungsdatum nennt. Auf diese Weise wird der Leser in dem Glauben gewogen, es handele sich um eine deutsche Ersterscheinung. Auch der neu vergebene Titel – der originale, die „Gebrochenen Flügel“ passt weitaus besser – ist misslich und zielt nur auf ein kleines Stück der Geschichte selbst, nämlich im Kern auf die Treffen am Ischtar-Tempel nahe Beirut.
Doch der lyrischen Schönheit der Geschichte vermag dies nichts anzuhaben. Natürlich bekommt der mitleidende Leser rasch heraus, auf welchen Abgrund die Handlung hinsteuert, aber die Art und Weise, wie Gibran seine Liebe beschreibt, die tiefen, philosophischen Gedanken, die er vor dem Leser ausbreitet, sie bleiben erhalten und entfalten ihren Zauber ungeachtet aller Beeinträchtigungen.
Und am Schluss kann man als Romantiker einfach nur Gibran zustimmen, wenn er still vergnügt resümiert: „Im Leben eines jeden jungen Mannes gibt es eine ‚Selma‘, die völlig unerwartet im Frühling seines Lebens erscheint, seine Einsamkeit in Stunden der Glückseligkeit verwandelt und die Stille seiner Nächte mit Musik erfüllt.“
Für alle jene Leser, die bereit und fähig sind, romantisch zu träumen, ist diese Geschichte überaus geeignet. Und selbstverständlich für jene Menschen, die nicht genug von Khalil Gibrans lyrischer Fähigkeit bekommen können. Es ist wirklich zu schade, dass er bereits 1931 diese Welt hinter sich ließ, um vielleicht in der nächsten glücklicher zu werden als bei uns…
© by Uwe Lammers, 2006
Ich genieße es immer wieder, Gibrans Werke zu lesen, von denen noch einige in meinen Regalen ungelesen schlummern und auf mein neugieriges Auge warten. Wie ich oben schon andeutete, gibt es noch mehr Rezensionen zu seinen Werken, die in absehbarer Zeit hier und an diesem Platz ihren Raum finden werden.
In der kommenden Woche möchte ich gern den Zauber der Vorweihnachtszeit vertiefen und ausdehnen. Ich werde euch dann ein Buch vorstellen, das ich zweimal gelesen habe, und beide Male völlig davon verzaubert war. Merkt euch den Namen des Verfassers jetzt schon einmal vor: Mark Helprin.
Und wer mit diesem Namen etwas anfangen kann, wird kommende Woche gewiss hier wieder mit dabei sein. Wer ihn noch nicht kennt – kommt, um ihn kennenzulernen.
Es lohnt sich!
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.