Liebe Freunde des OSM,
es ist vermutlich nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass die Majorität der Menschen auf dieser Welt sich danach sehnt, ihr Leben so weit als möglich auszudehnen. Unsterblichkeit mögen sich die wenigsten Hellsichtigen wünschen, aber Langlebigkeit? Vielleicht über einige Jahrhunderte hinweg, um zu sehen, wie die Weltgeschichte sich entwickelt? Der Gedanke hat immer schon immensen Reiz gehabt, und immerzu war auch der finstere Schatten der Verdammnis spürbar. Egal, ob wir von „Ahasver, dem Ewigen Juden“ sprechen oder, etwa im Falle der BBC-Serie „Torchwood“ von einer Welt, in der die Sterblichen auf einmal unsterblich sind und die vormals Unsterblichen sterblich … es hat etwas unheimlich Widernatürliches an sich, wenn die Kraft des Todes auf einmal so ausgehebelt wird.
Schriftstellerisch ebenfalls wirkungsmächtig ist die Personifizierung des Todes, beispielsweise in Form des „Reiters auf dem schwarzen Pferd“ bei Piers Anthony oder in anderer Form. Auch der portugiesische Schriftsteller José Saramago hat sich dieses Themas angenommen und dabei auf gewöhnungsbedürftige Weise thematisiert, wie die Gesellschaft entgleist, wenn ohne ersichtlichen Grund auf einmal die Funktion des Todes außer Kraft gesetzt wird.
Wer sich auf dieses Leseabenteuer einlassen möchte, der lese neugierig weiter:
Eine Zeit ohne Tod
(OT: As Intermitências da Morte)
von José Saramago
Reinbek bei Hamburg 2007
September 2007, 260 Seiten
ISBN 978-3-498-06389-4
Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis
Eines unbestimmten Tages, genau zu Neujahr, kommt es in einem kleinen südländischen Staat mit rund zehn Millionen Einwohnern zu einem Wunder, das zunächst niemand genau registriert, weil es so subtil dahergeschlichen kommt: an diesem 1. Januar eines nicht genannten Jahres stirbt im Lande X niemand. Zunächst registriert das, wie gesagt, niemand. Doch als findige Journalisten den üblichen Schmierstoff ihres Gewerbes, das Blut der Opfer, auf einmal entbehren müssen, als sie nicht mehr über tragische Geschehnisse berichten können, die mit dem Tod enden, da prägt eine Reporterin den fatalen Satz, der Tod „streike“.
Zunächst ist das nichts als eine schrullige Formulierung, dergleichen ist man von den auf Effekte abzielenden Medien natürlich gewöhnt … doch das Entsetzen dringt zusammen mit allmählich aufkommenden Emotionen schierer Euphorie in die Schichten der Gesellschaft ein und breitet sich gleich einer ansteckenden Krankheit aus, als schon nach wenigen Tagen (in denen auch weiterhin niemand stirbt) aus der scheinbaren Zeitungsente Realität wird: Im Lande X wird nicht mehr gestorben. Wenigstens sterben keine Menschen mehr, muss einschränkend gesagt werden, auf Tiere und Pflanzen hat dieses mirakulöse Geschehen keine Auswirkung.
Die einen sagen begeistert: Wir sind unsterblich! Jetzt sind wir allesamt unsterblich! Der Tod hat keine Kraft mehr über uns! Wozu brauchen wir noch den Trost der Religion? Wir werden nicht mehr sterben, wir können tun und lassen, was uns gefällt! Und es wird gefeiert.
Die anderen geraten derweil in eine Existenzkrise: die Bestattungsunternehmer etwa, die keine Klientel mehr haben; die Kirchen (denn ohne Tod ist auch kein Jenseits mehr denkbar, damit auch keinerlei Erlösung, weswegen sich Kirchenaustritte häufen …); auch die Versicherungsbranche gerät ins Trudeln (wozu noch Lebensversicherungen abschließen? Und fernerhin: alle Lebensversicherungen werden nachher ausgezahlt werden müssen, und zwar für immer und ewig!1 Schließlich gerät auch die Regierung in Unruhe.
Und dann ist da die Heerschar der immer zahlreicher werdenden Verzweifelten. Ärzte sehen sich immer mehr siechen, aber nicht mehr dahinsterbenden Dauerkranken ausgesetzt, die Kliniken füllen sich in unbeschreiblicher Weise, die Rentenkassen werden bald so beansprucht werden, dass der Staatsbankrott droht, der Arbeitsmarkt wird zusammenbrechen …
Und niemand weiß eine Erklärung dafür.
Merke daran: so schrecklich auf unsereins der Tod auch wirkt, weil er natürlich eine individuelle Katastrophe ist, so ist er für eine sich ständig erneuernde menschliche Gesellschaft doch ganz unabdingbar, für das reibungslose Funktionieren der gesellschaftlichen Abläufe zwingend erforderlich.
Schlimmer noch als dies ist jedoch ein weiterer Umstand: jenseits der Grenzen wird „ganz normal“ weiter gestorben. Was immer auch passiert, es geschieht nur in dem Land X, aus welchem Grund auch immer. Dieser Umstand jedenfalls wird vom organisierten Verbrechen (hier „Maphia, mit ‚ph’!“ genannt) auf skrupellose Weise ausgenutzt für eine neuartige Art von „Geschäft“ … und dann, eines Tages nach Monaten, findet der Direktor des nationalen Fernsehens auf mysteriöse Weise einen violetten, unzerstörbaren Brief in seinem Büro vor, der Aufklärung darüber gibt, was geschehen ist – und was noch geschehen wird! Denn der Brief stammt vom Tod höchstpersönlich …
Der auf Lanzarote lebende, 1922 in dem portugiesischen Dorf Azinhaga geborene Literaturnobelpreisträger (1998) José Saramago hat mit diesem Roman, der ausdrücklich nicht als Phantastik deklariert ist, vom Topos her aber ganz einwandfrei der Phantastik zugeordnet werden muss, ein überraschendes, philosophisches Buch geschrieben, mit dem er eine Gesellschaft in einer verwirrenden Krise charakterisiert und im Längsschnitt strukturell analysiert.
Was geschieht mit einer Gesellschaft, fragt er hier, wenn eines der Grundphänomene des Lebens, eben der Tod, auf einmal partiell ausgeschaltet ist? Was erzeugt das für gesellschaftliche Schockwellen, welche neuen Entwicklungen bahnen sich an, wie arrangieren sich die Menschen mit diesem Einbruch einer neuen Zeit?
Durchaus plausibel, wenn auch stets nur exemplarisch – keiner seiner Protagonisten trägt einen Namen, weder wird das Land lokalisiert noch besitzen die Personen über ihre Ämter und bestimmte Charaktereigenschaften und physiologische Details eine spezifische Individualität – geht Saramago durch dieses fiktive Land in dieser fiktiven Situation und sieht sich an, was passieren könnte, wenn das geschähe. Das ist in mancherlei Hinsicht durchaus überraschend.
Der Stil der Geschichte ist dabei durchaus sehr gewöhnungsbedürftig. Man sollte als Leser Zeit und die Neigung für sehr lange Sätze mitbringen: Da Saramago keinerlei wörtliche Rede kennzeichnet, sondern vielmehr Rede und Gegenrede, durch Kommata abgegrenzt, innerhalb von teilweise seitenlangen Bandwurmsätzen unterbringt, ist ein wenig Durchhaltevermögen nötig. Die arme Übersetzerin tat mir ernstlich leid, sie hat ihre Aufgabe aber mit Bravour bewältigt.
Auch ein wenig schade ist Saramagos Schlusswendung, die, wenigstens in meinen Augen, die Aussage des Romans wieder abschwächt. Trotz alledem ist dies ein faszinierendes Werk, und ein jeder, der dem Traum nachhängt, doch gerne sehr, sehr langlebig oder gar unsterblich sein zu wollen und dies ausschließlich positiv sieht, sollte ihn sich einmal zu Gemüte führen. Und danach sollte er sich wirklich überlegen, was er sich wünscht …
© 2009 by Uwe Lammers
Soviel heute zu dem Land, in dem niemand mehr starb. In der kommenden Woche gehen wir zu einer neuen Autorin über, jenseits des großen Teichs, und zu einer Partnervermittlungsagentur, die unerwartete, finstere Untiefen aufweist.
Bis bald, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Es soll an dieser Stelle nicht verraten werden, wie die pfiffigen Versicherungsnehmer mit dieser Herausforderung fertig werden, aber die Lösung ist wirklich raffiniert. Sie lohnt sich nachzulesen.