Liebe Freunde des OSM,
manchmal gibt es paradoxe Fortsetzungen von etwas, das ursprünglich gar nicht auf Fortsetzung angelegt war, ja das sogar seine eigenen Fortsetzungsgrundlagen absichtlich zerstörte, um für immer ein Unikat zu sein. So erging es dem Geschichtenverlauf in Jack Finneys großartigem Roman „Von Zeit zu Zeit“ (bzw. in der alten und titelmäßig eigentlich schöneren Fassung „Das andere Ufer der Zeit“). Wer sich an die Inhaltsangabe im Rezensions-Blog 349 vor drei Wochen erinnert, wird, wenn er von diesem vorliegenden Werk nicht schon Kenntnis hatte, ähnlich überrascht sein wie ich damals, als ich es vor rund 15 Jahren entdeckte und – notwendig – kaufen und umgehend verschlingen musste.
Wir hatten alle gedacht, Simon Morley hätte alle Brücken in die Zeit, aus der er kam, abgebrochen und sei im Ende des 19. Jahrhunderts glücklich geworden. Und zugleich sicher, jedweder Intervention durch das „Projekt Vergangenheit“ ausgeschaltet zu haben.
Doch die Zeit ist ein tückisches Gebilde, ein Strom, der sich gelegentlich in Seitenäste verströmt, wenn der Hauptpfad jählings verschlossen ist (das dürfte den US-Amerikanern, die am Mississippi wohnen, sehr vertraut sein, der Strom hat seinen Verlauf in den letzten Jahrhunderten zahlreiche Male gründlich geändert, und gleich ihm ist der Zeitstrom, wie Finney ihn hier darstellt, ein ziemlich unberechenbares Biest).
Faktum des vorliegenden Romans ist so genanntes „temporales Treibgut“, man könnte auch von Strandgut aus Wahrscheinlichkeitswelten sprechen. Das erzeugt dann für den ahnungslosen Simon Morley ein Abenteuer, das ihn in die Lage versetzen könnte, ein zentrales Ereignis des 20. Jahrhunderts zu verändern – mit ungeheuerlichen Konsequenzen.
Aber schaut euch das besser mal selbst an:
Im Strom der Zeit
(OT: From Time To Time)
von Jack Finney
Bastei 14165, November 1998
360 Seiten, damals 12.90 DM
Die Zeit ist eine wunderliche Sache – substanzlos, doch für jedes Lebewesen unseres Planeten eine unabdingbare, unausweichliche Naturgesetzlichkeit. Dinge wachsen, Dinge altern, Dinge sterben. Nichts ist dagegen zu tun.
Was aber, wenn doch?
Einst gelang es den Verantwortlichen im „Projekt Vergangenheit“, Dr. Danziger und dem Soldaten Rube Prien, den begabten Zeichner Simon Morley dazu zu bewegen, an dem Projekt teilzunehmen, dessen Ziel es sein sollte, eine These von Albert Einstein zu überprüfen. Einstein ging davon aus, dass die Zeit nicht ein für alle Mal vergangen sei, wenn das Blatt im Tageskalender umgeblättert sei, sondern dass der vergangene Tag nur „hinter die Schleife des Flusses Zeit“ zurückgeblieben wäre. Wenn man Mittel und Wege fände, die Flusskehre zu überschreiten, würde man im Gestern landen und daran teilnehmen können.
Simon Morley war einer der wenigen Teilnehmer am Projekt, denen das gelang. Sein Besuch im New York der 1880er Jahre führte zum Aufschluss über ein Verbrechen der Vergangenheit … und dort lernte er die Frau kennen, die er liebte, seine Julia. Als er aufgefordert wurde, eine dezidiert politische Veränderung der Vergangenheit vorzunehmen, kehrte er in die Vergangenheit zurück und vernichtete die Grundlagen des „Projekts Vergangenheit“, indem er Dr. Danzigers Geburt verhinderte.
Damit endete der Roman „Von Zeit zu Zeit“.1
Nach 25 Jahren kehrt Jack Finney zu seinem „Helden“ Simon Morley zurück und schildert seine weiteren Abenteuer. Und der fassungslos schauende Leser stolpert über bekannte Namen: Rube Prien. Dr. Danziger.
Das ist doch unmöglich, denkt er. Das kann nicht sein. Und wird gruselnd eines Besseren belehrt:
Die Zeit ist ein unheimliches Gebilde, weitaus gespenstischer, als es sich Einstein vorstellen konnte. Sie produziert offensichtlich so etwas wie temporales Treibgut, und die Entdecker dieses Treibguts, diese Anomalien, sind durch diese Funde äußerst verstört: da gibt es Ausgaben von Zeitungen jenseits der Liquidation des Zeitungsverlages, weit jenseits davon. Da gibt es Wahlkampfbuttons von John F. Kennedys zweiter Amtszeit. Und ein alter Zeitzeuge erinnert sich äußerst lebhaft, wie er Zeuge vom Einlaufen der TITANIC im New Yorker Hafen war – auch wenn die Umwelt nichts davon weiß und das Gegenteil in den Geschichtsbüchern steht.
Und ein Soldat namens Rube Prien hat vage, wirre Träume von einem „Projekt“, erinnert sich an einen Mann, dessen Nachname mit D beginnt. Und schließlich findet Rube Prien das Backsteingebäude in New York, in dem das „Projekt“ beheimatet war, forscht unermüdlich nach weiteren Anomalien und findet schließlich einige weitere Mitarbeiter. Aber nicht Dr. Danziger. Er kennt zwar seinen Namen, aber er hat nie existiert.
Nicht in dieser Zeitlinie.
Doch als erst einmal Simon Morley als Verantwortlicher der Zeitveränderung ausfindig gemacht worden ist, reist ein anderer, der durch diese Veränderung alles verloren hat, zurück – quasi in das Ende des vorigen Romans – und verhindert Simons Manipulation. Wer jetzt denkt, alles kehrte ins alte Gleis zurück, der hat keine Ahnung. Denn nun entwickeln sich die Dinge völlig unerwartet.
Mit der Veränderung schwinden auch Erinnerungen dahin, und dennoch lebt Simon Morley unverdrossen im New York des Jahres 1886 weiter, inzwischen mit Julia verheiratet und Vater des kleinen William Simon Morley. Als er dann schließlich einfach testhalber in die Gegenwart zurückkehrt, trifft er auf Dr. Danziger und Rube Prien, die Erben eines ruinierten „Projekts“.
Aber die Anomalien sind noch immer da, rätselhafter denn je. Und wenngleich Simon nicht die geringste Neigung dazu verspürt, noch einmal für das geschasste „Projekt“ tätig zu werden, kann ihn doch Rube Prien überreden, ein einziges Mal noch tätig zu werden – indem er das New York des Jahres 1912 aufsucht und eine für die Zukunft der Welt wichtige Person identifiziert.
Der arglose Simon hat noch keine Ahnung, was für eine bösartige Überraschung noch auf ihn warten wird, und erst recht hat er keine Ahnung davon, dass er verfolgt wird …
Mit dem zweiten und diesmal wohl abschließenden Roman um den Künstler Simon Morley, in dem man als Leser unschwer das alter Ego des Autors erkennt, der in das New York des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verliebt ist, kehrt Jack Finney in jene Gefilde zurück, die er einst mit seinem Erstling so genial und beeindruckend beschrieb. Wieder einmal wandert der Leser durch das New York der Vergangenheit, in dem Hochhäuser Gebäude meint, die allerhöchstens acht bis zehn Stockwerke haben, in denen es noch von Kutschen wimmelt, von Cabarets und Varietés und in der Künstler sich auf manchmal erbärmlichste Weise den Lebensunterhalt verdienen.
Unbestreitbar ist das eine faszinierende, schillernde, von Leben nur so sprühende Welt. Aber man hat als Leser eben stets die gespenstischen Schatten der Anomalien im Hinterkopf, die das Dasein überschatten, man hat den PLAN im Kopf, den Rube Prien mit Simon Morley im Sinn hat – den Plan, den Ersten Weltkrieg ungeschehen zu machen, indem er im Jahre 1912 die Weichen anders stellt.
Leider muss gesagt werden, dass Finney in diesem Roman erkennbar an den Fotografien und Bildern hängt, die er in das Buch integriert. Die Handlung ringsherum wirkt eher gezwungen, an manchen Stellen auch über Dutzende von Seiten so fern des Handlungs-Hauptstranges, dass das Gefühl aufkommt, er wolle um jeden Preis das Buch noch etwas strecken. Das tut der Atmosphäre und dem Buch selbst bedauernswert Gewalt an. Und der Schluss gerät dann hastig, brüsk und wirkt dadurch höchst unrealistisch.
Sagen wir es dem fiebernden Leser lieber zuvor: Simon Morley verhindert den Ersten Weltkrieg nicht, obwohl er sich einige Mühe gibt, es zu tun. Er hat ja auch einen guten Grund dafür … aber eben dieser Grund ist es am Ende, der die ganze Geschichte und insbesondere den Schluss völlig unrealistisch ausklingen lässt. Es mag gemutmaßt werden, dass er ein wenig Angst vor der eigenen Courage bekam.
Warum?
Nun, wer die Größe der Veränderungen auch nur erahnen kann – und wer könnte das besser als ein Neuzeithistoriker wie ich? – , den schwindelt vor der Fremdartigkeit jener schemenhaft durch das Buch durchschimmernden Parallelwelt. Es geht nicht nur um eine im New Yorker Hafen einlaufende TITANIC, so schön der Gedanke auch wäre. Es geht um MILLIONEN junger Menschen, die weitergelebt hätten; es geht um Staaten, die nicht in sich zusammengebrochen wären; es geht um Staaten, die gar nicht erst entstanden wären. Wir reden von Kolonien, von Kaiserreichen, von Republiken. Wir sprechen über Israel, die Türkei, den Libanon, über afrikanische Gebiete, über Grenzziehungen in Europa, Minderheitenkonflikte, den Versailler Vertrag und die Grundlagen des Zweiten Weltkriegs.
Wen da noch nicht schwindelt, der hat keinen historischen Sachverstand.
Was wäre, wenn? Die geniale, den Puls beschleunigende kontrafaktische Frage schwingt in diesem ganzen Roman durch wie in einer genial komponierten Oper der Hauptton. Und am Ende begradigt Finney diese ganze Oper mit wenigen Sätzen, trägt sie zu Grabe. Und da soll der Leser nicht enttäuscht sein? Das kann man nicht ernstlich erwarten.
Was schließlich jene geheimnisvollen temporalen Anomalien angeht … im Oki Stanwer Mythos (OSM) könnte ich sie mit Hilfe des Modells der Matrixfehler recht gut erklären. So aber ist Finney eher ratlos, wie er ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen könnte … und beschließt, sie am Schluss einfach zu ignorieren. Auch hieraus könnte man ganze Romane machen, ganze Serien gestalten. So viel Potenzial, einfach aus Angst um die entscheidende Handlung verschenkt, aus Zaghaftigkeit fortgeworfen.
Nein, Mr. Finney – „Von Zeit zu Zeit“ war ein großartiger Roman mit einer wunderbaren Stimmung und einer durchdachten, stimmigen Handlung. Dieser Nachfolger indes ist genau das, was viele Sequels in Film, Fernsehen und Buch immer gewesen sind: Ein müder Aufguss, der noch dazu nicht einmal sehr gut durchdacht worden ist. Es wäre schöner gewesen, Simon Morley da zu lassen, wo er war und ihn nicht zu exhumieren. Oder aber die Anfangsidee konsequent umzusetzen. Aber dazu waren Sie ja zu ängstlich …
© 2006 by Uwe Lammers
Ja, ich glaube, man merkt mir die Enttäuschung auch nach über 15 Jahren, die seit der Lektüre verstrichen sind, immer noch an. Ich liebe Kontrafaktik, aber diese Vollbremsung war doch sehr stimmungstötend, das kann ich nicht mehr anders nennen. Jenseits eine gelungenen Manipulation hätte natürlich ein unkalkulierbares Abenteuer begonnen, soviel steht fest. Aber ob wir dazu den Historiker Alexander Demandt konsultieren und sein intelligentes Buch „Ungeschehene Geschichte“ oder die neue Marvel-Animationsserie „What If…?“, der Reiz solcher Geschichten ist nach wie vor ungebrochen, und es gibt mutige Leute, die den Faden bereitwillig weiter spinnen als Mr. Finney.
Nun, das Buch ist geschrieben, der Autor hat seine Entscheidung getroffen, und sie fiel nicht im Sinne der Geschichtsveränderung aus – das muss man leider respektieren, auch wenn es nicht schmeckt.
Nächste Woche kommt wieder mal das Kontrastprogramm – ein politisches Buch, das auch schon vor geraumer Zeit erschien und dessen Verfasser inzwischen leider verstorben ist. Das Thema des Buches ist leider nur noch zu aktuell, immer noch, auf beschämende Weise.
Details dazu? Nein, noch nicht jetzt. Aber wir reisen nach Kuba, soviel sei angedeutet. Mehr dann in der nächsten Woche.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. Rezension: Jack Finney „Von Zeit zu Zeit“ bzw. den Rezensions-Blog 349.