Liebe Freunde des OSM,
für die meisten von euch brauche ich den Doktor und die Serie und um ihn nicht mehr vorzustellen, will mir scheinen. Er gehört dank der medialen Präsenz seines Neustarts ab 2005 nicht allein zur britischen Popkultur, sondern auch zu der deutschen.
Inzwischen gibt es verstärkt Romane zur Serie, und dieser hier ist insofern ein besonders interessanter, als er a) von einem der Drehbuchautoren geschrieben wurde und b) eine englische Filmstaffel in papierner Form wiedergibt. Es ist also nicht so wie etwa mit den zahllosen Doctor Who-Comicalben, die mit einem feststehenden Personal neue Abenteuer erzählen, die es in der Fernsehserie nie gab.
Well, es mag Puristen geben, die der Ansicht sind, nur die schriftliche Ausweitung des Kanons über die filmischen Episoden hinaus würde tatsächlich eine Bereicherung darstellen. Dazu zähle ich nicht. Ich habe diesen Roman mit großem Interesse und einigem Gewinn gelesen, wenngleich es auch manifeste Kritikpunkte gibt, die ich nicht aussparen wollte. Aber um es kurz und bündig zu machen: in diesem Krieg des Doktors mit seinen Erzfeinden, den Daleks, gibt es reichlich interessante Aspekte, und nicht die geringsten bestehen in unverhohlenen Reverenzen an die früheren Filmepisoden. Da ich sie kannte, machte das einen erheblichen Reiz der Geschichte aus.
Doch schaut euch das vielleicht lieber selbst im Detail an:
Doctor Who – Die Hand des Omega
(OT: Doctor Who – Remembrance of the Daleks)
von Ben Aaronovitch
Bastei 20881
240 Seiten, TB (2017)
Aus dem Englischen von Axel Merz
ISBN 978-3-404-20881-4
Eine Warnung vorweg, meine Freunde – wer mit Doctor Who und seinen Erzfeinden, den Daleks, noch keine Berührung gehabt hat, wird nahezu überall in diesem Buch nur Bahnhof verstehen. Es eignet sich darum eher nicht als Einstiegslektüre in die britische BBC-Kultserie, sondern richtet sich ausdrücklich an Kenner der Materie, die auch mit leisesten Anspielungen schon vergnügliche Erinnerungen an die Fernsehepisoden verknüpfen können. Und wer den Doktor schätzt, aber die Daleks hasst (solche Leute soll es geben, ich kenne davon selbst welche, zähle mich persönlich aber nicht dazu), der ist hier ebenfalls kaum in der Lage, dieses Buch zu genießen.
Denn Daleks kommen hier reichlich vor. Sehr viele Daleks. Sehr gewalttätige Daleks. Es gibt, was für die Fernsehserie eher unüblich ist, reichlich Mord und Totschlag, und mittendrin sind der Doktor und seine Begleiterin Ace.
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die Romanfassung des einleitenden Episodenzyklus „Remembrance of the Daleks“ aus der Jubiläumsstaffel 25 der alten, 1963 begründeten BBC-Kultserie „Doctor Who“ (die mit Staffel 26 dann eingestellt wurde, um erst 2005 eine Wiedergeburt feiern zu können, mit der ich dann ab 2015 die Serie entdeckte). „Remembrance of the Daleks“, auf Deutsch „Die Hand des Omega“, umfasst die Folgen 668-671 der Ursprungsserie und wurde vom 5.-22. Oktober 1988 in England ausgestrahlt, in Deutschland dann bei RTL plus vom 11. Februar – 4. März 1990. In den Folgen spielt Sylvester McCoy den 7. Doktor, seine Begleiterin in den Jahren 1987-1989 ist die junge und ungestüme Ace (Sophie Aldred), damals Anfang 20 und ein wenig punkig gestaltet.1
Soweit ich das erkennen kann, liegt von „Remembrance of the Daleks“ nur der erste Teil deutsch synchronisiert in einem Streaming-Portal vor, das ist wenigstens der einzige, den ich mir während der Lektüre des Buches anschauen konnte. Aber der Abgleich zwischen Buch und Filmhandlung zeigt schon recht deutlich, dass sich Aaronovitch, der damals auch das Skript zu den Episoden schrieb, sich in der Romanfassung sehr getreu an seine eigenen Drehbuchvorgaben hielt.
Worum genau geht es in dem vorliegenden Roman? Dazu muss ich etwas ausholen.
Als die Fernsehserie „Doctor Who“ 1963 startete, begann das auf eine eher obskure Weise in direkter Nähe zur Coal Hill School im Londoner Stadtteil Shoreditch auf einem Schrottplatz, der einem Schrotthändler namens I. M. Foreman gehörte. Wer den ersten DW-Zyklus „An unearthly child“ (1963!) gesehen hat, kennt diesen Schauplatz in Schwarzweiß noch sehr gut. Und es ist wichtig, sich daran zu erinnern, ehe man dieses Buch liest. Damals verfolgten zwei Lehrer der Coal Hill School eines ihrer Schulmädchen namens Susan Foreman auf den nämlichen Schrottplatz, wo sie entdeckten, dass es in eine seltsam deplatzierte blaue Polizei-Notrufzelle schlüpfte und mit irgendwem darin zu reden begann. Sie folgten ihr und … befanden sich unvermittelt in einem zeitreisenden Raumschiff, der TARDIS, und Susans Onkel (William Hartnell) erwies sich als der Doktor, ein zeitreisender Timelord vom Planeten Gallifrey, der seit Jahrhunderten durch Raum und Zeit reiste und sie nun kurzerhand mitnahm. So begann die Serie.
Wenige Minuten später (!) erscheint anno 1963, und damit sind wir im aktuellen Roman, in der Fernsehserie schrieb man das Jahr 1988, ebenfalls in Shoreditch mit derselben TARDIS eine deutlich spätere Inkarnation des Doktors, womit er knapp eine Zeitkollision verhindert.
Dummerweise kommt er bereits zu spät. Denn seine zeitreisenden Feinde, die Cyborgs aus dem Volk der Daleks, sind bereits vor ihm erschienen. Als der Doktor einst Shoreditch verließ, blieb eine machtvolle Waffe der Timelords hier zurück, die so genannte „Hand des Omega“. Eine ihrer Wirkungen besteht darin, stark fokussierte Zeitreisen möglich zu machen, wie sie etwa eine TARDIS vollführt. Die Daleks können zu diesem Zeitpunkt der Handlung nur eine relativ unscharfe Fokussierung realisieren2, und diese Waffe würde es ihnen ermöglichen, mit den Timelords gleichzuziehen und womöglich den immer noch tobenden Zeitkrieg zu gewinnen.
Der Doktor ist auf der Erde angekommen, um zu verhindern, dass die „Hand des Omega“ in die falschen Hände (oder Greifarme, um präziser zu werden, da Daleks ja keine Hände im eigentlichen Sinne besitzen) fällt. In die Griffe der falschen Daleks, um genau zu sein.
Da setzt die Irritation schon ein.
Daleks sind Daleks, nicht wahr?
Nun, von dem Gedanken sollte man sich in diesem Roman gründlich befreien. Hier haben wir es mit zwei Fraktionen von Daleks zu tun. Zum einen mit den so genannten Imperialen, die mit einem bedrohlichen Schlachtkreuzer unter Leitung des Imperators selbst über der Erde kreisen und imstande sind, mit ihren Waffensystemen ganz London auszuradieren. Und dazu sind sie auch sehr willens, weswegen vorsichtiges Taktieren zwingend notwendig ist. Wenn die „Hand des Omega“ unter die falsche Kontrolle gerät, droht ein Blutbad unbeschreiblichen Ausmaßes durch die Imperialen.
Auf der anderen Seite gibt es dann nämlich noch die so genannten Renegaten, die bereits vor Ort erschienen sind und den Schrottplatz besetzt haben. Sie sind, wie im Laufe des Romans herauskommt, so gründlich mutiert, dass sie zwar äußerlich noch wie normale Daleks anmuten, innerlich aber vollkommen anders aussehen. An ihrer grundlegenden Direktive und ihrem Hass auf andere Lebensformen hat das leider nichts geändert. Diese Daleks sind ebenso wie die Imperialen strikte Todfeinde. Verhandeln unmöglich. Auch ihr Lieblingswort lautet: „Eliminieren!“
Als der Doktor auf der Bühne erscheint, ist der Kampf leider schon im Gange, und in die Auseinandersetzungen mischt sich uneinsichtiges britisches Militär und eine Forschergruppe ein, die von dem Timelord relativ schnell auf Kurs gebracht wird. Aber bedauerlicherweise sind nicht nur die Daleks die Gegner, sondern es gibt darüber hinaus auch noch Marionetten und kriminelle Sympathisanten auf der menschlichen Seite, es gibt Verräter und Intriganten. Und der Doktor, undurchsichtig und schweigsam wie immer, gerät schnell in Teufels Küche, mitten zwischen die Fronten des tobenden Bürgerkriegs der Daleks, der nichts und niemanden schont und schnell die Form eines Partisanenkampfes mitten in London annimmt …
Dieser erste Doctor Who-Roman, den ich las, hinterließ in mir einen zwiespältigen Leseeindruck. Zum einen war ich natürlich durch Aaronovitchs Vorwort gewarnt, dies sei gewissermaßen eine „Jugendsünde“, ein Romanerstling, der mit deutlich mehr Engagement als stilistischem Geschick geschrieben sei. Das sagte der Autor 22 Jahre nach Abfassung der unverändert abgedruckten Geschichte, und das erwies sich auch als sehr gescheit, denn vieles in dem hochdramatischen Roman mit seinen hastigen, schnellen Blenden und stakkatohaften Sätzen erinnerte mich sehr an meine frühe Heftromanlesezeit und den Duktus eines Kurt Brand in der Ren Dhark-Serie (den Duktus habe ich damals bereitwillig in meine frühen eigenen Geschichten übernommen, deshalb war er mir immer noch so vertraut).
Zum anderen fand ich es aber interessant, ein ausführlich ausformuliertes Abenteuer des Doktors zu lesen und seine Todfeinde, die Daleks, in Aktion zu erleben. Nachteilig dabei blieb, ich deutete es eingangs an, dass der Roman klar für Insider geschrieben wurde. Die Beschreibung des Doktors und des ganzen Umfeldes blieb eher ein wenig unscharf und vage, gemäß dem Motto: das kennen die Leser doch alles schon aus der Fernsehserie, darauf brauche ich keinen Wert zu legen. Die Balance zwischen Beschreiben und Agieren in der Handlung lag sehr deutlich auf dem Agieren, was die Geschichte vielfach sehr atemlos gestaltete und, wegen der erwähnten hastigen Blenden, auch etwas unübersichtlich gestaltete. Ehe man recht verstanden hatte, wer auf welcher Seite stand und warum und wieso gewisse Personen so handelten, wie sie handelten, waren oft schon mehrere Seiten und zig Blenden Vergangenheit.
Bedauerlich ist, dass der Grund, warum die „Hand des Omega“ vom Doktor auf der Erde deponiert wird, so völlig diffus bleibt, einfach ein Mittel zum Zweck, das im Verlauf der Handlung für mancherlei Überraschungen gut ist (ich deute nur mal an: schwebender Sarg, energetisch aufgeladener Baseballschläger). Die Handlungsweise des Doktors ist auch lange Zeit völlig indifferent geschildert, und die Vielfalt an Protagonisten sorgt für Unübersichtlichkeit. Insbesondere die menschlichen Dalek-Sympathisanten erscheinen quasi unmotiviert aus dem Nichts, wie sie zu ihren Rollen kommen, bleibt in der Regel unklar. So hat man mitunter das Gefühl, eine Art von sehr schnell geführter Schachpartie zu verfolgen, wobei Menschen wie Daleks die Figuren darstellen.
Die strategischen Winkelzüge der Daleks werden zwar recht solide durchleuchtet, aber da ausführliche Blenden Seltenheitswert haben, gewinnt der Leser den Eindruck eines Films mit zu wenig Bildern pro Sekunde, so dass eine Art literarischer Stroboskopeffekt entsteht, der eine besonders genaue Leseweise erzwingt. Das kann schon ein wenig anstrengend auf die Dauer sein. Da ist die Geschichte durchaus nicht so leserfreundlich, wie sie vielleicht hätte sein können.
Meine Empfehlung für geeignete Leser ist also diese: Wer eine erhebliche Zahl der alten Episoden der 1963er-Serie (namentlich mindestens die ersten zwei, drei Zyklen) angeschaut hat und sowieso eine Menge für die Daleks übrig hat, ist ganz gut gewappnet, um dem Handlungsstrom der Serie zu folgen. Wer über diese Erfahrungen nicht verfügt, sollte vielleicht besser die Finger von der Geschichte lassen. Sie ist sehr auf Tempo, Dramatik und Action geschrieben und darum für Einsteiger eher nicht geeignet.
Bei meinem eigenen Informationshorizont, die Serie betreffend, war es eine interessante Leseerfahrung, stilistisch etwas grenzwertig. Der Übersetzer Axel Merz, der früher etwa Peter F. Hamilton übersetzt hat, versuchte zweifellos, das Beste aus der vorliegenden Vorlage zu machen. Gleichwohl ist lediglich ein Buch für eingefleischte Fans herausgekommen. Ich hätte mir doch deutlich mehr Tiefgang gewünscht, wiewohl es interessante Ansätze (z. B. zu britischem Rechtsextremismus und Rassismus gibt).
© 2019 by Uwe Lammers
Ja, das ist eine ziemlich frische Lektüre, eingestanden. Und mit der Rezension der kommenden Woche setze ich das muntere Kontrastprogramm wieder fort. Wir begeben uns auf historischen Pfaden in den Himalaya und ins 19. Jahrhundert. Was wir da suchen? Ah, lasst euch überraschen!
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Wer Näheres zu ihrer Person erfahren möchte, sollte sich den ausführlichen WIKIPEDIA-Eintrag zu „Doctor Who“ unter dem Abschnitt „Begleiter“ ansehen. Für die Rezension würde das jetzt zu weit führen.
2 Was es ihnen, das sei hier kurz angemerkt, aber im alten DW-Zyklus „The Chase“ immerhin ermöglicht, die TARDIS des Doktors durch Raum und Zeit zu verfolgen. Für Spezialisten und Neugierige: Es handelt sich dabei um den 16. Zyklus der Serie (Staffel 2), der die Episoden 72-77 umfasst und vom 22. Mai bis 26. Juni 1965 ausgestrahlt wurde. Ungeachtet seines Alters halte ich ihn für einen recht innovativen Zyklus, der besonders den Innovationsreichtum und die heimtückische Raffinesse der Daleks sehr in den Vordergrund rückt.