Rezensions-Blog 331: Was wäre gewesen, wenn?

Posted Dezember 22nd, 2021 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Kontrafaktik, das habe ich bestimmt an dieser Stelle schon mal erzählt, ist die Lehre von den geschichtlichen Abläufen, wie sie eben gerade NICHT geschehen sind und ergo dem widerspre­chen, was in den Geschichtsbüchern steht. Unter traditionellen Historikern gilt Kontrafaktik meist als etwas anrüchig, schließ­lich handelt es sich formell um Fiktion … aber wiewohl jeder ar­rivierte Historiker, auf solche Dinge wie Kontrafaktik, alternative Geschichte, virtuelle Historie und wie die Variationen dieses Themas auch immer lauten mögen, abstreiten würde, sich seri­ös mit so etwas zu befassen, so wenig vermögen sie doch aus ihrer Haut zu schlüpfen.

Damit meine ich: Sie sind Menschen. Sie wissen, dass Geschich­te gewissen strukturellen Pfaden folgt. Und dass Geschichte notwendig von Menschen gemacht wird – was in der Quintes­senz dazu führt, dass eben diese Menschen selbstverständlich im Fall schicksalshafter Entscheidungen überlegen, wie die Ge­schichte „hätte verlaufen können“, wenn man bestimmte (meist fatale) Abzweigungen der Historie nicht genommen, gewisse Entscheidungen nicht getroffen hätte.

Will also heißen: Das Denken in historischen Alternativen ist nichts Abseitiges, es ist vielmehr zutiefst menschlich. Das ist Punkt 1. Und Punkt 2 ist insbesondere für kreative Geister, die Geschichten schreiben, noch sehr viel interessanter: bietet doch die Kontrafaktik beispielloses Potenzial für wilde Geschichten­ideen. Je näher sie dem historischen Wendepunkt bleiben, desto plausibler sind sie. Wer sich natürlich ausmalt, dass beispiels­weise Alexander der Große hoch betagt gestorben wäre denn als recht junger Feldherr, der gerät leicht auf schwankenden Bo­den. Mit zunehmender Distanz zum Kulminationspunkt, von dem ab die historischen und kontrafaktischen Linien abzweigen, mengen sich einfach zu viele unkalkulierbare Faktoren mit hin­ein. Da ist dann die Grenze zwischen historisch plausibler Spe­kulation einerseits und Science Fiction bzw. freier Erfindung recht unscharf.

Robert Cowley hat sich schon vor langer Zeit mit solchen Szena­rien befasst. Ich las den vorliegenden Band schon vor beinahe zwanzig Jahren und fand, es sei dringend an der Zeit, ihn euch mal vorzustellen – nicht zuletzt, um die darin vermittelten, be­eindruckenden Gedankenexperimente, die leicht ganze Roman­serien zur Folge haben könnten, vor eurem neugierigen Auge auszubreiten.

Ich wünsche frohe Lektüre und hoffe sehr, viele dieser Anregun­gen in Folge fallen auf fruchtbaren Boden und ergeben beizeiten eigene Geschichten. Das würde belegen, dass weder Geschich­te an sich noch kontrafaktische Geschichte trocken und uninter­essant sind. Allerdings war das noch nie meine Ansicht, andern­falls hätte ich bestimmt nicht Geschichte studiert …

Was wäre gewesen, wenn?

(OT: What If?)

von Robert Cowley (Hg.)

Knaur 77609, München 2002

400 Seiten, TB

Aus dem Amerikanischen von Ilse Utz

ISBN 3-426-77609-X

Man bezeichnet sie als die geheimste Leidenschaft des Histori­kers, eine Frage, die so anrüchig scheint, dass jeder, dem man sie unterstellt, davor fast entrüstet zurückschreckt und meint, er stelle sich solch eine Frage nicht. Nein, das wäre unseriös, unwissenschaftlich und entbehre im Übrigen jeder Grundlage. Historiker beschäftigten sich doch mit dem, was geschehen ist, nicht mit der Frage Was wäre gewesen, wenn?

Diese Entrüstung ist künstlich.

Jeder Historiker von Namen, den man sich denken kann, hat ir­gendwo in seinen Werken mehr oder weniger lange Passagen, in denen er sich Gedankenspiele gestattet und ausmalt, was nicht geschehen ist: was wohl hätte geschehen können, wenn jener Feldherr nicht an diesem Tag schlecht geschlafen hätte; wenn er seinen Soldaten eine Ruhepause gegönnt hätte, um sie erst dann in den Kampf zu führen. Die Weltgeschichte könnte anders ausgegangen sein, wenn man bestimmte Dinge getan oder un­terlassen hätte. Das geht bei so profanen Dingen wie einem fal­schen Abendessen los und hört bei verlorenen Nachrichten oder Statusgehabe auf, das der offensichtlichen Logik der Entschei­dungen mitunter im Weg steht.

Lange Zeit behandelten die Historiker von Namen dennoch die so genannte Spekulation, die Frage, „Was wäre gewesen, wenn?“ herablassend, geringschätzig. Inzwischen hat sich das Blatt etwas gewendet, ja, es ist ein regelrechter Zweig der Ge­schichtswissenschaft entstanden, der sich mit kontrafaktischen Geschichtsverläufen beschäftigt (von contra factum = etwas, das gegen die Tatsachen verstößt bzw. sich nicht ereignet hat). Die einen sprechen von kontrafaktischer Geschichte, andere von „virtueller Geschichte“, was dasselbe meint und nur vorneh­mer klingt.

Bei solchen Untersuchungen wird die Grenze, die Geschichts­wissenschaft und Science Fiction trennt, regelmäßig eingeris­sen. Deshalb ist dieses Gebiet so eminent wichtig für die SF, ge­wissermaßen ein Feld interdisziplinärer Forschungen. Hier sto­ßen arrivierte Historiker in die Gefilde der Phantastik vor, in par­allele Welten, in alternative Räume, in denen Imperien entstan­den, die es nie gab; in denen Reiche untergingen, obwohl sie in unserer Zeit weiterbestanden. Hier starben wichtige Leute frü­her oder lebten länger, und die sich daraus ergebenden Folge­wirkungen sind mitunter von einer extremen Dramatik.

Robert Cowley, der Gründer des Quarterly Journal of Military History (MHQ), hat sich im Jahre 1999 die Mühe gemacht, aus­gehend von dieser geänderten Haltung der Historiker – insbe­sondere natürlich der Militärhistoriker – , Experten zu befragen, was sie als Wendepunkte der Geschichte betrachten würden und wie die Geschichte wohl anders hätte verlaufen können, wenn sie gewissermaßen „am Rad der Zeit drehen könnten“.

Herausgekommen ist ein Band mit beeindruckend und manch­mal erschreckend deprimierenden Geschichten, mit Verläufen, die dem halbwegs historisch gebildeten Leser die Haare zu Ber­ge stehen lassen.

Ein paar Beispiele gefällig?

Im Jahre 701 vor Christus stehen die jüdischen Reiche vor der Kapitulation. Eine Stadt nach der anderen fällt an die assyri­schen Eroberer unter König Sanherib. Nur eine kleine, unbedeu­tende Ortschaft namens Jerusalem wehrt sich hartnäckig gegen die Eindringlinge und wird belagert. König Hiskia von Juda ver­traut auf seinen Gott Jahwe und auf die Wehrfähigkeit seiner Stadtmauern. Er hat Glück: eine Seuche wütet unter den Bela­gerern, die daraufhin die Belagerung abbrechen. Sein Kult wird gestärkt, und die Keimzelle des heutigen Judentums, Christen­tums und Islams entsteht.

Wäre die Seuche jedoch nicht gewesen, hätte Sanherib Jerusa­lem eingenommen, womöglich ergrimmt über die lange Belage­rungszeit seinen Leuten die Plünderung, das Vergewaltigen und Brandschatzen erlaubt und die Bewohner Jerusalems mehr oder minder ausgelöscht. Es gäbe kein Judentum … Man denke mun­ter weiter.

Im Jahre 480 vor Christus sammeln sich die völlig verzweifelten Athener, die schon ihre Stadt aufgegeben haben, zu einer letz­ten, heroischen Kraftanstrengung, um die Streitkräfte der persi­schen Eroberer unter ihrem König Xerxes in der Bucht von Sala­mis zu stellen. Doch sie unterliegen, die Seeschlacht ist das Ende der griechischen Flotte, die Perser überrollen ganz Grie­chenland und machen Stadt um Stadt zu ihrem Vasallen, bis sich kein Widerstand mehr rührt. Die griechische Philosophie mutiert zum religiösen Kult, der sich an persischem Vorbild ori­entiert. Das Christentum entsteht nie …

Wäre Alexander der Große schon bei seinem ersten Vorstoß nach Persien gestorben – und er war nur sehr knapp am Tode vorbeigekommen, genauer gesagt, um einen einzigen Schwert­hieb – , dann wäre die makedonisch-griechische Armee wohl in die Flucht geschlagen worden und hätte es nicht mehr gewagt, sich Persien zuzuwenden, sondern ihr Expansionsziel im westli­chen Mittelmeer gesucht, in Sizilien. Doch dort erwächst ihnen mit den Karthagern in Nordafrika eine kampfesfreudige Rivalen­streitmacht. Als sich Athen als wiedererstarkte Militärmacht auf dem Peloponnes mit Karthago einen verlustreichen, viele Jahr­zehnte dauernden Kleinkrieg leistet, wird dadurch die römische Machtposition gestärkt, bis diese in Griechenland einfallen und Athen belagern. Doch: „Die hartnäckige Weigerung der Athener, sich nach einer langen Belagerung zu ergeben, stellte die Ge­duld der Römer auf eine harte Probe. Als die Mauern der Stadt schließlich fielen, liefen die römischen Soldaten Amok. Die Be­völkerung wurde massakriert, die Stadt niedergebrannt …“

Man kann sich die Folgen für unsere Geschichte denken.

Im Jahre 1242 überrennen die Mongolen Europa. Zwei große Rit­terheere werden mit mongolischer Perfektion so brutal und rücksichtslos niedergemetzelt, dass sie nicht den Hauch einer Chance besitzen (realer Ablauf!). Zehntausende von kampfer­probten Reitern finden sich im Sommer des Jahres 1242 vor den Mauern von Wien ein, andere fallen über Breslau her, über Kra­kau und Belgrad. Und von dort ziehen sie weiter, hinterlassen Scheiterhaufen aus brennenden Städten: Wien, Prag, Buda, Hannover, Venedig, München, Rom … als sich die Horde schließ­lich zurückzieht, in deren Gefolge Pest und andere Seuchen ka­men, liegt ein Kontinent in Trümmern, der sich über Jahrhunder­te von dieser kulturschänderischen Barbarei nicht erholen wird. Das Mittelalter verlängert sich um ungezählte Jahrhunderte …

Oder was wäre geschehen, wenn die Azteken den schon gefan­gen genommenen Eroberer Hernán Cortez in Tenochtitlan am 30. Juni 1521 doch geopfert und sein Herz herausgerissen hät­ten?

Was hätte passieren können, wenn am 8. August 1588 der Wind anders gestanden hätte und der spanische König ein bisschen weniger starrköpfig gewesen wäre? Hätte Spanien England mit der Armada erobert? Große Gegenwehr war nicht zu erwarten …

Auch die Amerikanische Revolution stand an mindestens drei­zehn Punkten unmittelbar vor dem Scheitern, einmal hätte so­gar ein Soldat der Gegenseite George Washington bequem und problemlos aus dem Sattel pusten können. Er tat es nur nicht, weil er keinem Menschen in den Rücken schoss (hinterher hat er sich wahrscheinlich über seine Skrupel geärgert).

Napoleon ist natürlich ein beliebtes Ziel der Spekulation, das ist auch in diesem Band so. Ebenso die abenteuerliche Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs, wobei besonders das Szena­rio „Vietnam in Amerika, 1865“ von beklemmender Faszination ist, wenn man sich ein bisschen mit spanischer Geschichte zu napoleonischer Zeit auskennt – denn hier tobte 1809 ein lang­jähriger, blutiger Guerillakrieg, der schließlich drei Fünftel von Napoleons Armee, einige hunderttausend Mann also, band und seinen Vorstoß nach Moskau schwächte. Und wenn man dann noch weiß, dass der deutsche General Gneisenau ernsthaft er­wog, im Jahre 1806 nach der Niederlage gegen Napoleon in Preußen einen Volkskrieg zu führen …1

Unter der Überschrift „Bitte keine Zigarre“, die ich nicht ver­stand, findet man ein knapp zweiseitiges Szenario, das so un­glaublich war, dass ich es dreimal lesen musste. Ich konnte es einfach nicht glauben: Im November des Jahres 1889 befindet sich in Berlin-Charlottenburg Buffalo Bills Wildwest-Show, und der Höhepunkt der Show ist Annie Oakleys Zielschießen. Auf ihre scherzhafte Frage, wer aus dem Publikum nach vorne kom­men wolle, um sich die Asche von der Zigarre schießen zu las­sen, springt auf einmal ein junger, drahtiger Mann in schneidi­ger Uniform aus der königlichen Loge: Kaiser Wilhelm II., der erst seit einem Jahr auf dem Thron Deutschlands sitzt. Niemand kann ihn zurückhalten.

Es geht gut. Annies Hand zittert nicht. Aber wenn sie statt der Zigarre seinen Kopf getroffen hätte …

Der brillante Militärhistoriker John Keegan beschreibt, wie Adolf Hitler den Zweiten Weltkrieg hätte gewinnen können – indem er sich dem Nahen Osten zuwandte und die Ölquellen eroberte.

Es wird vom Scheitern des D-Day in der Normandie 1944 ge­sprochen.

Robert Cowley diskutiert die atemberaubende Möglichkeit eines von den Russen rasch noch besetzten Hokkaido, so dass nicht nur Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt gewesen wäre, sondern auch Japan. Was die gesamte Geschichte dieser Weltregion komplett umgekrempelt hätte.

Und Robert L. O’Connell erzählt davon, wie wir Europäer und Weltbürger Anfang November 1983 um Haaresbreite einem nu­klearen Krieg der Supermächte entgangen sind …

Der Möglichkeiten sind viele, und hier sind Dutzende von Visio­nen, von alternativen Handlungsszenarien und Entscheidungen aufgeführt, von denen viele in Katastrophen, manche aber auch wieder zurück in die reale Geschichte münden. Sehr plausibel und nüchtern wird hier Szenario um Szenario entworfen, um den geschichtskundigen Leser schaudern zu machen. Doch der SPIEGEL macht es sich zu einfach, wenn er auf dem Klappentext schreibt, es sei „angenehm gruselige Lektüre“.

Es ist mehr.

Man lernt viel über die Geschichte im Allgemeinen und ihre Wendepunkte im Besonderen. Man lernt zudem sehr viele Per­sonen mit all ihren Schwächen und Stärken kennen und be­kommt ein Gespür dafür, wie viel in unserem Leben und der menschlichen Geschichte doch vom blanken Zufall diktiert wird. Eine Kugel, die einen Menschen tötet, kann Jahrhunderte verän­dern. Unter anderem. Es gibt aber auch viele weitere Möglich­keiten, Geschichte umzuschreiben.

Für Phantasten ist dieses Buch fraglos eine ganz erstaunliche Quelle unzähliger Geschichten-Ideen, und jeder, der sich ein bisschen für Geschichte interessiert, sollte sich hierin vertiefen. Er wird sehr bereichert aus diesen Seiten hervorgehen!

© 2002/2018 by Uwe Lammers

Man merke, ich war damals wirklich ganz von der Rolle wegen dieses Buches, und in gewisser Weise bin ich das noch heute. Eine in jederlei Beziehung packende Lektüre und sicherlich eine gute Gelegenheit, verstärktes Interesse für Geschichte im Allge­meinen zu entwickeln – leider Gottes wird ja vielen Schülern durch inadäquaten Geschichtsunterricht genau dieses Interesse abgetötet. Ich hatte da Glück … aber ich gestehe, ich war auch zuvor schon sehr an Geschichte interessiert, wenngleich auch nur an bestimmten Epochen der frühen Antike. Das hier führt dann zu einem wesentlich breiter angelegten Interesse an der Geschichtswissenschaft. Und vielleicht zu mehr …

Soviel für heute. Macht es erst mal gut und bis bald, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Ich habe über dieses Thema in einer Hausarbeit geschrieben: „Die Idee des Volkskriegs in Preußen“, 1995 (unveröffentlicht).

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