Rezensions-Blog 328: Der Zeitriss

Posted Dezember 1st, 2021 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

es gibt manchmal Schwierigkeiten mit sehr alten Rezensionen, die ich in meinen Unterlagen finde und für den Rezensions-Blog aufbereite. Das ist hier der Fall – ich versäumte damals, den englischen Originaltitel zu vermerken, und da das Buch nicht mehr zu meinem Bibliotheksbestand zählt, kann ich das auch nicht rasch nachschlagen und nachliefern – ich hoffe dennoch, dass das so funktioniert.

Zum Buch selbst: eine gute Grundidee, das zeigt sich bedauerli­cherweise an diesem Werk, taugt nicht viel, wenn die Umset­zung in wesentlichen Teilen misslingt. Und das musste ich 2002 leider von Garry Kilworths Roman sagen, wie ihr lesen werdet.

Der Seelentransfer eines Menschen der Gegenwart mit dem ei­nes Steinzeitmenschen ist durchweg eine faszinierende Idee, aus der man sehr viel machen kann … in der Umsetzung wer­den aber so viele Möglichkeiten verschenkt, insbesondere in Be­zug auf das verwendete Personal, dass ich beim besten Willen nicht sagen kann, das Endresultat sei gelungen. Und die voll­mundige Klappentextankündigung führt einen potenziellen Le­ser geradewegs in die Enttäuschung.

So jedenfalls mein damaliges und heutiges Fazit aus einer Di­stanz von 19 Jahren … aber vielleicht seht ihr das ja grundle­gend anders. Riskiert also einfach mal einen Blick.

Vorhang auf für:

Der Zeitriss

von Garry Kilworth

Knaur Science Fiction 5745

176 Seiten, TB (1982)

Übersetzung von Marcel Bieger

Paul Levan ist ein wohlhabender Mann, der durch eine Erbschaft nicht gezwungen ist, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Stattdessen begibt sich der alleinerziehende Vater mit seinem fünfzehnjährigen Sohn Richard nach Zypern, um einen Traum zu verwirklichen: er möchte die Knochenreste von frühzeitlichen Menschen finden, die auf der Insel gelebt haben. Richard hat für diese alten Knochen nichts übrig. Er interessiert sich für allerlei andere Dinge, unter anderem – aber das ist ihm noch nicht so recht bewusst geworden – für die vierzehnjährige Rosemary, die Tochter der Geliebten seines Vaters. Diese Frau, Loraine, ist ih­rerseits geschieden und hat sich erst durch Gleichheit der Schicksale und schließlich durch Leidenschaft an Paul gebun­den.

Paul findet in der Tat urzeitliche Knochen, sogar die einer gan­zen Familie, wie es scheint. Und er engagiert einen Wissen­schaftler, der versuchen soll, mit einer neuen Erfindung, dem „Wiederhaus-Nachbilder“, einen Blick in die Vorzeit zu werfen.

Auf erschreckende Weise wird die Vorzeit wieder lebendig und die Skelette treten als reale Menschen von vor 33000 Jahren zu­mindest holografisch in Erscheinung. Doch dann berührt der junge Richard Levan das Hologramm und ein Blitz löscht die Er­scheinung aus.

Und dann ist alles anders.

Paul erwacht im Körper des Steinzeitmenschen Esk wieder zum Leben, auf einer eisigen Insel Zypern, die sich im Griff der Eis­zeit befindet. Mitten in der Primitivität des damaligen Daseins, erlebt er Stammesrivalitäten und die Konfrontation mit einer großen Horde von Neandertalern, die auf ihrem Wanderweg die Insel erreicht haben.

Aber die Lage ist ein wenig verzwickter, denn Richard ist nicht nur in Esks Körper, sondern Esk ist auch noch da. Und wenn er in der Vergangenheit schläft oder bewusstlos wird, sind beide in der Gegenwart

Diese Situation, die unsagbar spannend ist, hätte Garry Kilworth nun dazu benutzen können, einen wirklich guten Roman zu schreiben. Stattdessen kann er sich das ganze Buch hindurch nicht recht entscheiden, ob er einen Steinzeitroman, ein Fanta­sybuch oder das schreiben möchte, unter dessen Label das Ganze nachher erschienen ist: Science Fiction.

Das hätte man ja noch als Unmöglichkeit anerkennen können, sich zu entscheiden, weil das Sujet es einfach nicht hergab. Aber meines Erachtens gehören dann ein paar andere Ingredi­enzien zu dem Roman hinzu, die einfach nicht vorhanden sind. Ein bisschen weniger Klischee beispielsweise. Eine intelligentere Romanhandlung in der Gegenwart. Etwas mehr Leben.

Beispiele gefällig? Nun, Rosemary for example. Das Mädchen hat nur einen einzigen richtig interessanten Auftritt, wo sie als Person in Erscheinung tritt, und der ist etwa drei bis fünf Seiten lang. Danach und davor ist sie reine Statistin ohne Eigenleben. Loraine beispielsweise. Sie wird als sturköpfige Schottin charak­terisiert, leidenschaftlich, dickköpfig usw. Wo sie in Erscheinung tritt, merkt man Kilworth an, dass er sie so einfach nicht agieren lassen KANN. Sie ist nur Staffage. Auch der durch und durch egozentrische Paul Levan und Loraines Ehemann sind Figuren aus der Klischeekiste, weitgehend ohne Vergangenheit, nur handlungsorientiert verwendet. Die Eindimensionalität der Ver­gangenheitspersonen erwähne ich mal besser gar nicht.

Die technische Dimension, der „Wiederhaus-Nachbilder“, wäre eine gute Möglichkeit gewesen, die SF-Seite zu installieren und auszubauen. Was macht Kilworth? Erklärt, dass der Bediener Leiderman, der das Gerät aufbaut und einstellt, selbst eigentlich keine Ahnung von den Prinzipien hat und sich bei der Maschine eher vorstellt, dass sie „magischen“ Gesetzen gehorcht, gewis­sermaßen eine „technifizierte Séance“ darstellt! Was, bitte, ist das denn anderes als Fantasy, hm? In dem Moment, wo Leider­man das erklärt, hat der Leser den Autor vor Augen, der hilflos sagt: „Hey, Leser, ich weiß ja, dass die Idee gut ist, ich habe aber null Ahnung, wie ich das nun erklären soll, also greife ich mal auf Magie zurück …“

Ätzend.

Was das Buch definitiv rettet, ist der gut lesbare Stil, die inter­essanten Formulierungen und Marcel Biegers Übersetzung. Den­noch bin ich froh, dass ich das Buch 1987 zum Geburtstag ge­schenkt bekam und vierzehn Jahre liegen ließ, bis ich es las.

Sorry, Garry, aber das war keine Glanzleistung. Dem Urteil im Klappentext vermag ich mich nicht anzuschließen: „Der vorlie­gende Roman beweist, daß Kilworth zu den größten Talenten in der Science Fiction gehört.“

Na ja …

© 2002 by Uwe Lammers

Das war eher ein Schuss in den Ofen? Ja, das würde ich auch so sehen. Ich mache so etwas ungern, aber manchmal muss das einfach sein.

In der kommenden Woche komme ich zu einem Roman, der mir sehr viel besser gefallen hat, nicht nur, weil er sehr viel jünge­ren Datums ist, sondern weil er auch vom Sujet her sehr viel le­bendiger ist und ich eine neue Lieblingsautorin schätzen lernte.

Bis demnächst, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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