Liebe Freunde des OSM,
Philip Kindred Dick, 1982 gestorben, gilt heutzutage, ich sage es auch in der unten wiedergegebenen Rezension von 2006, nicht zu Unrecht als einer der Großen der amerikanischen Science Fiction, dessen Ideen bis heute massiven Einfluss auf Film, Fernsehserien und andere Autoren ausgeübt hat. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts habe ich viele von Dicks Romanen gelesen, allerdings geschah das zu einer Zeit, in der ich noch kaum Rezensionen verfasste. Darum sind nur ein paar wenige in der Spätzeit entstanden, in der Regel zu Kurzgeschichtensammlungen. Diese ist eine davon.
„Der goldene Mann“ gibt einen bunten Reigen von Geschichten Dicks wieder und versammelt Werke aus verschiedenen Jahrzehnten seines Schaffens. Stets kehren dort Fragen nach der Natur der Wirklichkeit und philosophische Ideenansätze wieder, die ihn zeitlebens umgetrieben haben. Wer Dick wider Erwarten noch nicht kennen sollte – und zwar nicht von den Verfilmungen wie „Blade Runner“, „Minority Report“, „Total Recall“, „A Scanner Darkly“, „The Man in the High Castle“ und wo immer sich seine Einflüsse sonst noch finden, sondern von vereinzelten Geschichten oder Romanen – , dem empfehle ich von Herzen die vorliegende Kurzgeschichtensammlung. Wer mehr möchte, ist sehr gut beraten mit der im Haffmanns-Verlag erschienenen Gesamtcollection von Dicks Werken, deren Lektüre aktuell noch vor mir liegt – und ihr könnt sicher sein, ich freue mich sehr darauf.
Also, tretet ein in Dicks facettenreiche Welt und lest weiter:
Der goldene Mann
(OT: The Golden Man)
von Philip K. Dick
Moewig Hardcover, 1980
366 Seiten
Deutsch von Joachim Körber
Dick zählt heute zu den Klassikern der Science Fiction, und das – meiner Ansicht nach – durchaus zu Recht. Der amerikanische Schriftsteller, der 1982 verstarb, hat als Autor der New Wave intensiven Einfluss auf die Entwicklung der angloamerikanischen SF ausgeübt und inspiriert noch heute Filmregisseure, die seine Hauptthemen – Fragen nach Identität oder nach dem Wesen der Wirklichkeit – aufgreifen und in ihren Filmen verarbeiten.
Dieses Buch aus der alten Reihe der Moewig-Silberbände kam noch zu seinen Lebzeiten heraus und enthält 14 Geschichten, die im Verlauf von 15 Jahren (1953-1968; Dick selbst spricht im Vorwort irreführend von drei Jahrzehnten) erschienen sind. Übersetzt von Joachim Körber und von Dick mit einem Vorwort und ergänzenden Anmerkungen zu den einzelnen Stories versehen, geben sie einen interessanten Überblick über Dicks Werk, wenngleich man hier nicht direkt von einer „repräsentativen“ Auswahl sprechen kann.
Vieles an diesen Geschichten ist natürlich überholt und fast schon amüsant, auch nimmt ihnen der Charakter der Plot-Story doch gelegentlich einiges an Reiz und macht ein paar recht durchsichtig. Aber viele sind andererseits auch recht verblüffend. Vor allen Dingen, wenn man sich mit Dicks Romanen und späteren Werken auskennt, hat man als Leser gerne eine „Umdrehung mehr“ im Geiste drauf und wird durch den Schluss überrumpelt.
Die Titelstory „Der goldene Mann“ behandelt das Problem der Mutanten, das Dick sein ganzes Leben verfolgt hat. Was passiert, wenn die Evolution einen neuen Weg einschlägt und aus dem Schoß der Menschenfrauen eine neue Form von Leben entsteht, die der bisherigen weit überlegen ist? Wie werden die „alten“ Menschen reagieren? Oder, präziser: wie werden die „Goldenen“ sich gegenüber den Menschen verhalten? Sehen sie sie noch als Mitmenschen oder mehr als eine Form von Nutzvieh oder gar als etwas, was man, mit Dicks Worten, zu Gebäuden schickt, „die die Aufschrift DUSCHEN tragen, in Wirklichkeit aber etwas ganz anderes darstellen“ …?
„Rückspiel“ thematisiert die Heimtücke einer außerirdischen Rasse, die offenkundig gegen die Menschheit Krieg zu führen trachtet. Sie leiten Spielcasinos und lassen, als sie flüchten müssen, einen Spielautomaten zurück. Tja, wenn das nur ein Spielautomat wäre …
„Der König der Elfen“ ist einer von Dicks seltenen Ausflügen in die Fantasy. Wie üblich beginnt die Geschichte ganz unspektakulär: an einer alten, heruntergekommenen Tankstelle, dessen in die Jahre gekommener Besitzer Shadrach Jones (!) eines regnerischen Abends Besuch von einer Gruppe kleinwüchsiger Männer bekommt, deren Existenz er gar nicht glauben kann. Es sind Elfen, und ihr König ist erkrankt. Und dann sind da noch die Trolle, gegen die sie kämpfen … wenn es die denn nun wirklich gibt …
„Yancys Sinneswandel“ ist vielleicht die Furcht erregendste Geschichte überhaupt, völlig unspektakulär, bieder geradezu. Eine Gesellschaft wird durch eine allmächtige, allgegenwärtige Persönlichkeit, den Durchschnittsbürger Yancy, geformt, der zu allem etwas zu sagen hat, meist völlig banale Dinge. Aber hinter diesem Yancy steckt ein diabolisches System …
„Auf den Einband kommt es an“ ist wieder – von der Erklärung her – ein Ausflug in die Fantasy, wenn man genau ist, ein geradezu schrulliger Gedanke, der Philologie, Religion und Geschäftsdenken karikiert. Ein marsianischer Verleger lässt ein klassisches Werk, Lukrez´ „De rerum natura“ in marsianischen Wub-Pelz binden … und die Fachleute laufen Sturm, denn der Inhalt der Bücher hat sich verändert. Alle Stellen, die sich mit dem Tod befassen, sind vom Inhalt her vollkommen geändert worden. NACH dem Einband. Und offenbar hängt das mit dem Wub-Pelz zusammen …
Als die Amerikanerin Joan Hiashi, Lebensgefährtin des Musikers Ray Meritan in der Geschichte „Das kleine schwarze Kästchen“ zum chinesisch unterwanderten kommunistischen Kuba geschickt wird, soll die Zen-Buddhistin eigentlich nur im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes „der chinesischen Bevölkerung dort religiösen Beistand geben“. Aber das ist ein fingierter Auftrag. In Wahrheit geht es um ein Netzwerk der sogenannten „Merceristen“, die mit dem messianischen Wilbur Mercer über ein Empathiekästchen verbunden sind. Diese neue Ersatzreligion unterspült die weltlichen und spirituellen Wurzeln der Menschheit.1 Aber was genau ist Wilbur Mercer, und was will er? Unerwartete Entwicklungen verwandeln die Protagonisten vollkommen …
„Das unvergleichliche M“ ist ein Hilfsmittel in einem Mordfall. Genauer: es ist eigentlich der Mörder. Aber was tut man, wenn man zwar von diesem Ding weiß, aber der ermittelnde Polizist stur und fest an das glaubt, was gezielt vom Hintermann des Mordes fingiert wird …?
„Der Krieg mit den Fnools“ ist eine Satire, diesmal über die Invasionsphobien, die in der SF gerne kursieren. Als die Fnools in Utah landen, stöhnen die Polizisten. Schon WIEDER Fnools! Die Kerle werden es auch NIE lernen! Das Problem bei ihnen ist – sie sehen immer alle genau gleich aus. Diesmal sind sie als 90 Zentimeter große Gebrauchtwagenhändler gekommen, Hunderte von ihnen, und sie begreifen selbst nicht, warum es den Terranern gelingt, sie so schnell zu entlarven. Und zwar IMMER. Bis sie dazulernen. Aber auch das hat seine Tücken …
„Der letzte der Meister“ variiert ein beliebtes Dick-Thema: den Zusammenbruch der Zivilisation nach einem weitflächigen Krieg. Meist sind es Nuklearkriege, hier jedoch eher ein Bürgerkrieg, der die herrschenden Regierungsformen wegfegte. Anarchistische Brigaden haben die alten Militaristen verfolgt, doch das liegt inzwischen schon zweihundert Jahre zurück. Alles zerfällt allmählich … nur in einem kleinen, abgeschlossenen Tal hat wie durch ein Wunder eine Enklave überlebt, ein mikroskopischer Militärstaat, ähnlich dem antiken Sparta. Aber dann macht ihre Führerpersönlichkeit allmählich Probleme. Und ein Anarchistentrupp wird in der Umgebung gesichtet. Die Gesellschaft gerät in eine Krise …
„Der Zeittaucher“ ist eine berühmte Geschichte Dicks. Und wieder einmal variiert er ein Lieblingsthema, die Zeitreise. Über die Prinzipien macht sich Dick wie üblich wenig Gedanken. Man „kann“ es eben einfach, durch die Zeit reisen. Aber die Wissenschaftler wollen eben nicht nur die Vergangenheit erforschen, sondern auch die Zukunft, was eigentlich verboten ist. Und dort entdecken sie beim ZWEITEN Durchlauf, der eine paradiesische Welt zeigte, eine vollkommen verwüstete Zukunft. Offensichtlich haben sie allein durch den „Zeittaucher“ die Zukunft verändert. Und nun wollen sie wissen, wie das geschehen konnte …
„Ein ungerechtes Spiel“ bringt einen Zirkus auf eine irdische Kolonialwelt (es könnte auch im amerikanischen Mittelwesten spielen, so, wie es dargestellt wird), und die Kolonisten wissen: da muss man immer vorsichtig sein. Beim letzten Mal wurden sie mörderisch übers Ohr gehauen. Aber diesmal setzen sie einen jungen Mutanten ein, der dem Zirkusbesitzer das Fell über die Ohren zieht. Aber das, was sie gewinnen, hat es auf bösartige Weise in sich …
„Tod eines Handelsroboters“ ist eine wirklich sehr schlichte Geschichte über den Terror der Medienindustrie und die Aufdringlichkeit von Verkäufern. Dick, der selbst einmal Verkäufer war, weiß nur zu gut, was er hier erzählt, und die Lösung fällt ausgesprochen dramatisch aus …
„Ein wertvolles Andenken“ ist für Milt Biskle, einen Rekonstruktionsingenieur auf dem Mars das einzige, das er von seinem Besuch auf der Erde mitnimmt. Nachdem er jahrelang harte Arbeit auf dem Mars verrichtet hat, kehrt er – gegen den Widerstand der Obrigkeit – zur völlig überbevölkerten Erde zurück und muss hier bald ein paar gespenstische Entdeckungen machen. Vielleicht ist der jahrelange, erbitterte Krieg gegen die Prox doch anders ausgegangen, als man ihm das immer erzählt hat …
„Kleinstadt“ erzählt schließlich die Geschichte von Verne Haskel, einem kleinen Angestellten in der Stadt Woodland, der zwanzig Jahre in einem Ventilwerk gearbeitet hat, sich immerzu mit seiner Frau streitet und nur einen einzigen Trost besitzt: seine Spielzeugeisenbahn im Keller, in dem er in jahrelanger Kleinarbeit die ganze Stadt Woodland nachgebildet hat. Und dieses Modell hat ein ganz besonderes Geheimnis …
Ich denke, diese Geschichten machen durchaus Appetit auf mehr von Dick wenigstens 120 Kurzgeschichten, von seinen zahlreichen Romanen einmal ganz zu schweigen. Auch wenn man diese Storysammlung nur noch antiquarisch bekommen kann, lohnt sie die Suche gewiss.
Das Titelbild von Tony Roberts hat leider keinen Bezug zum Roman. Am ehesten kann man es mit „2001“ und „2010“ von Arthur C. Clarke in Verbindung bringen, mit dem goldglänzenden Embryo in einem halbtransparenten Ringplaneten zwischen Erde und Mond. Aber dass Cover mit dem Inhalt nichts gemein haben, ist in der Phantastik ja häufig so. Halten wir uns an den Inhalt und machen uns unsere eigenen Bilder …
© 2006 by Uwe Lammers
In der kommenden Woche erden wir uns dann wieder bodenständig und besuchen eine amerikanische Galerie. Näheres erfahrt ihr in sieben Tagen an dieser Stelle.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Und diese Idee wird intensiver in Dicks Roman „Do Androids dream of Electric Sheep?“ ausgeführt (dt.: „Blade Runner“). In der Verfilmung von Ridley Scott löst sich dieser Handlungsstrang leider völlig auf.