Liebe Freunde des OSM,
als mir ein befreundeter Autor und guter Freund dieses Buch im Jahre 2002 zum Geburtstag schenkte, hatte ich, ganz frei eingestanden, von dem belgischen Schriftsteller Georges Simenon noch nicht allzu viel Ahnung. Wie ich durch die Lektüre dieses hochinteressanten Buches lernen sollte, hatten wir aber doch eine sehr interessante mentale Nähe zueinander (wiewohl ich vermutlich nie auch nur annähernd so bekannt oder erfolgreich wie er sein werde und dies auch, ehrlich eingestanden, gar nicht anstrebe. Ich bin kein sonderlich ehrgeiziger Mensch).
Ebenso wie das Buch „Suspense“, in dem die Kriminalschriftstellerin Patricia Highsmith ihre eigene Form der Geschichtenentwicklung offenlegte1, hat das vorliegende Werk in gewisser Weise analytischen, durchleuchtenden Charakter, ohne dabei allerdings zu so etwas wie einer „Schreibanleitung“ oder einer „Bekenntnisstudie“ zu werden. Es hat gleichwohl Anteile an beidem.
Wer immer schon von Kommissar Maigret oder von Simenon selbst fasziniert war oder ihn näher kennen lernen wollte, der hat nun mit diesem Buch die Chance. Ich nehme zwar an, dass es lange vergriffen ist und der Neugierige es allein antiquarisch erwerben kann … aber vertraut meinem Urteil: das ist es wert!
Und nun begeben wir uns mal in die Arztpraxis, bespannen die Couch, lassen den Autor sich darauf niederlassen, und dann beginnt das gnadenlose Verhör der fünf Mediziner:
Simenon auf der Couch
Fünf Ärzte verhören den Autor sieben Stunden lang
(OT: Simenon sur le gril)
detebe 21658
Übersetzt von Irène Kuhn
176 Seiten, 1985
ISBN 3-257-21658-0
Wer jemals daran gezweifelt hat, dass der Schöpfer des überaus erfolgreichen Kommissar Maigret in irgendeiner Weise psychologisch vorbelastet ist (hat das irgendwer geglaubt?), der wird in diesem Buch nachdrücklich eines Besseren belehrt. Wer indes denkt, dass Georges Simenon ganz genau wissen müsse, was in seinem Bewusstsein vor sich geht, wenn er schreibt, der irrt sich in gleicher Weise.
Wie, das widerspricht sich? Wer sagt, man müsse doch bei diesen ausgeklügelten, raffinierten Charakteren, die Simenon in seinen Büchern entwickelt, zuvorderst seine eigene abgründige Seele kennen, um daraus seine Figuren gleichsam zu destillieren? Bei Simenon läuft man mit einer solchen Mutmaßung in eine Falle, ähnlich der, in die einstmals der Philosophieprofessor Dr. Dr. Gerhard Vollmer beim Rezensenten tappte, als er ihm unterstellte, es müsse doch eine Art von „Kochrezept“ geben, nach dem sich ein Kreativer seine Romane und Geschichten zusammenbaue. Eine Art Baukasten.
Besonders bei dem Vielschreiber Georges Simenon liegt das nahe. Selbst die Ärzte, die den Schriftsteller hier sieben Stunden lang „verhören“ und „ausquetschen“, nehmen das zu Beginn an – und bekommen doch sehr rasch heraus, dass sie sich vom Schein täuschen lassen. Sätze wie „Während ich das Buch schreibe, muß ich so schnell wie möglich schreiben und dabei so wenig wie möglich daran denken, so dass das Unbewußte in höchstem Maße selbständig arbeitet“, nehmen ihnen den Wind aus den Segeln. Und anschließende Sätze wie „Im Grunde genommen wäre ein Roman, den ich bewusst schreiben würde, wahrscheinlich sehr schlecht“ lesen sich wie eine absolute Gegenposition von Patricia Highsmith, die ja meinte, akkurate Vorausplanung und zielgenaues Umsetzen seien bei ihr unumgänglich (wenngleich auch die Phantasie keine unwesentliche Rolle spielte).2
Doch wo sie die Handwerkerin ist, ist Simenon eine Art von Wahrträumer, dessen Romane sich mehr oder weniger von selbst materialisieren. Verwirrt? War ich auch. Aber es wird noch abenteuerlicher. Im Verlauf der Unterredung, die das gesamte Buch einnimmt, gesteht er, für sein Leben gern in andere Rollen geschlüpft zu sein, er sagt, dass die Romane gewissermaßen die Psychoanalyse ersetzen. Simenon bettet – im Verein mit den Fragen der Psychologen – seine Werke in seinen Lebenslauf ein, lässt bereitwillig untersuchen, womit er in den Geschichten anfängt, was ihn darin stört oder eine Idee zum Absterben bringt … und vieles mehr. Es wäre kein Ende des Aufzählens, führe ich fort, was er uns und den Ärzten noch so alles enthüllt, drum reiche dies als Aperitif auf das Werk.
Man lernt als Leser sehr viel von diesem überaus erfolgreichen Schriftsteller, und doch muss letzten Endes davor gewarnt werden, alles 1:1 zu übernehmen. Schon im Falle der Patricia Highsmith wurde das gesagt3, doch auch hier trifft es durchweg zu – jeder dieser Autoren weist nur in eine gewisse Richtung, manches deckt sich mit den Erfahrungen und Intentionen des Rezensenten, doch nicht alles. Und interessant wird es eigentlich da, wo die Abweichungen beginnen, die möglicherweise den schmalen Grat zwischen Erfolg und Nichterfolg signalisieren. Doch darauf einzugehen, kann nicht Sinn und Thema dieser Rezension sein.
Hier kann man nur neugierig gemacht werden auf den Autor und seine Art zu schreiben. Simenon, der am 13. Februar 1903 in Lüttich als Sohn eines Versicherungsbuchhalters geboren wird, schwankt schon von Kindesbeinen an zwischen dem Wunsch, Priester zu werden oder schreiben zu wollen. 1919 wird er aufgrund einer Krankheit seines Vaters frühzeitig ins Berufsleben geworfen und augenblicklich Reporter bei einer kleinen Zeitung. Bereits ein Jahr später erscheint sein erster Roman, doch im Jahr darauf stirbt sein Vater, 1923 heiratet er das erste Mal und beginnt nun ein unruhiges, durchaus hektisch zu nennendes Leben, dem drei Ehefrauen, zahlreiche Kinder, vermutlich viele Liebschaften und 29 eigene Häuser mindestens bis zum Jahr 1981 zuzurechnen sind. Er stirbt schließlich am 4. September 1989 in Lausanne.
Der erste Maigret-Roman entsteht 1931, doch da blickt Simenon schon auf lange Jahre Schreibtradition zurück, auf zahlreiche Groschenromane und viele Erzählungen. Die Masse seiner Werke wird von über 40 Seiten Bibliografie in diesem Band vorzüglich gegliedert erfasst (und ist sehr wahrscheinlich nicht vollständig, da er ja noch lebte, als das Buch erschien). Und hier erscheint Maigret nur als Teil vom Ganzen, als durchaus geringerer Teil. Da gibt es auch Theaterkritiken, es gibt Reiseberichte, allerlei durchaus humoristische Sachen, Vorworte, autobiografische Werke, Essays, Interviews, schließlich auch Verfilmungen … es ist kein Ende an Informationen in diesem faszinierenden Buch. Doch für diejenigen, die ihn wirklich kennenlernen möchten und womöglich auf seinen Pfaden zu wandeln gedenken, für diejenigen ist das Interview unabdingbare Voraussetzung, ja, geradezu eine „Bibel“, die zu lesen sich jede freie Minute lohnt.
Und ich kann aus eigener Lektüre bestätigen, dass man sich nachher selbst besser kennt als zuvor, gerade, weil man unbewusst (!) seine Schreiberfahrungen und sein Vorgehen mit dem von Simenon vergleicht, so unterschiedlich beides auch sein mag. Man geht aus dem Buch mit Gewinn hervor, mit beträchtlichem Gewinn. Dies ist nicht mit vielen Werken der Fall. Es verdient, hervorgehoben und aufs Podest gestellt zu werden …
© 2003 by Uwe Lammers.
Es gibt schon überraschende, interessante Bücher in meinen Regalen, die ich z. T. vor langer Zeit verschlungen und rezensiert habe. Das hier und die beiden, die oben in den Fußnoten angesprochen werden, zählen dazu. Sie werde ich nach Blog 300 besprechen, versprochen.
In der kommenden Woche steuern wir in deutlich seichtere, sinnlichere Gewässer. Was das bedeutet? Schaut einfach nächste Woche wieder herein, dann seid ihr schlauer.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Die Rezension ist in Vorbereitung für den Rezensions-Blog.
2 Vgl. dazu beizeiten das Buch „Suspense“. In Vorbereitung für den Rezensions-Blog.
3 Ich beziehe mich hier auf das Werk „Über Patricia Highsmith“, das ich 2002 las und vor dieser Rezension besprach und dessen Rezi ich veröffentlichte. Im Rezensions-Blog ist das Buch noch nicht besprochen worden, aber dafür in Vorbereitung.