Rezensions-Blog 293: Die Boten des Unheils (2)

Posted November 3rd, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

vor vier Wochen entführte ich euch erstmals in Peter F. Hamil­tons „Commonwealth“-Imperium, dessen erste zarte Ansätze in dem Roman „Der Dieb der Zeit“ (Rezensions-Blog 284) be­gonnen haben. Eigentlich gehört „Die Boten des Unheils“ in den Roman „Der Stern der Pandora“, nur war Bastei damals auf dem Trip, so voluminöse Romane in zwei Teile aufzuspalten. Das ist hier noch durchgängig der Fall, weshalb es sich also empfiehlt, „Stern der Pandora“ und diesen hier in einem Zug zu konsumieren. Dass das gelingt, weiß ich aus eigenem Erle­ben.

Es führt aber zugleich, diese Warnung sei ausgesprochen, zu dem wirklich fiesen Cliff-hanger am Ende dieses Romans, wo ich ungläubig auflachen musste, weil ich meinte, Hamilton könne so etwas doch wohl seinen Lesern nicht antun. Doch, konnte er. Und ich konnte Ozzies Fluch so gut verstehen, als er über den Rand der Welt kippte und in einen unauslotbaren Abgrund stürz­te … ah, aber ich verrate zu viel.

In diesem Roman gelangt also das irdische Expeditionsschiff Se­cond Chance an sein Reiseziel und entfesselt eine furchtbare Nemesis, die zur größten Krise des menschlichen Sternenreichs führt.

Vorhang auf also für den Auftritt der „Boten des Unheils“:

Die Boten des Unheils

Commonwealth-Zyklus Roman 1, Teil 2

(OT: Pandora’s Star, Part II)

von Peter F. Hamilton

Bastei 23293, April 2006

702 Seiten, TB; 8.95 Euro

Deutsch von Axel Merz

ISBN 978-3-404-23293-2

Aufgeschreckt durch die Entdeckung des Randwelt-Astronomen Dudley Bose, hat das menschliche Commonwealth, repräsen­tiert durch seine Familiendynastien, beschlossen, das Raum­schiff Second Chance zu bauen und unter dem Kommando von Wilson Kime, dem letzten Mars-Astronauten alten Schrot und Korns, zum fernen Sternpaar Dyson Alpha und Dyson Beta zu entsenden. Beide Sterne sind bekanntlich umhüllt worden von einer fremdartigen Barriere, die seit über tausend Jahren exis­tiert, aber offensichtlich von einem Moment zum nächsten ent­standen ist.

Als die Second Chance ihr Zielgebiet erreicht, stürzt jedoch die Barriere um Dyson Alpha in sich zusammen, kurz nach der Ent­deckung einer gigantischen, vollkommen fremdartigen Festung, die auf der Oberfläche dieser Barriere installiert worden zu sein schien. Vermutlich ist sie der Ausgangspunkt dieser Abschot­tung.

Hinter der Barriere enthüllt sich ein Sonnensystem, das von ei­ner hochtechnisierten und außerordentlich aggressiven Spezies bevölkert wird. Als es zum ersten Kontakt kommt, kann das irdi­sche Raumschiff nur knapp der Vernichtung entgehen. Zwei Be­satzungsmitglieder müssen allerdings bei der Flucht zurückge­lassen werden: der Astronom Dudley Bose und eine Raumfahre­rin namens Emmanuele Verbeke (der Übersetzer hatte mit dem Namen so seine Probleme, manchmal verwandelt er sie in einen Mann).

Zurück im Commonwealth gerät der Missionskommandant we­gen dieser Flucht unter Medienbeschuss. Man wirft ihm vor, er habe zu Früh das Weite gesucht. Kimes Prognose lautet, dass die aggressive Feindzivilisation versuchen dürfte, die menschli­che Einflusssphäre zu erreichen. Sie brauchen also nach seiner Ansicht ein Raumfahrtprogramm – auch wenn die Aliens offen­sichtlich weitreichende interstellare Antriebe noch nicht besit­zen, erst recht keine Wurmlöcher, auf deren Anwendung die menschliche Zivilisation beruht.

Niemand ahnt jedoch, um was für eine Spezies sich handelt. Die seit Jahrhunderten in ewigem Krieg miteinander liegende Rasse der Primes von Dyson Alpha hat sich aus einer Art Kollektivintel­ligenz entwickelt, und die am höchsten entwickelte davon ist MorningLightMountain, in dessen Hände auch die beiden Men­schen fallen. In Rekordzeit adaptiert er die Erkenntnisse der Ge­fangenen und lernt es, Wurmlöcher zu öffnen. Viel schneller als befürchtet, macht sich MorningLightMountain daran, seine Streitmacht auf den Weg zu schicken. Und sie zählt nach Tau­senden von Schiffen und Millionen von Fußsoldaten …

Derweil geht im Commonwealth die Entwicklung der anderen Handlungsstränge weiter: die Geschichte auf Oaktier, einer Pha­se-I-Welt, von der man eigentlich mit Ende des ersten Buches meinte, sie sei abgeschlossen. Hier wurde vom Chief Investiga­tor des Intersolar Serious Crimes Directorate (ISCD) Paula Myo der Mord an der Bürgerin Tara Jennifer Shaheef und ihrem Ge­liebten aufgeklärt.

Das Problem, das nach der Verhaftung des Täters übrig blieb, war seine jugendliche Geliebte Mellanie Rescorai, die in diesem Buch eine überraschende Karriere macht und schließlich, unter­stützt von der Datenpersönlichkeit der SI, die überall im Com­monwealth durch die Unisphäre zu erreichen ist (in ihr werden auf freiwilliger Basis die Gedächtnisinhalte von Bürgern gespei­chert, die nicht mehr durch die Rejuvenation physisch fortleben wollen), zur Starreporterin der Medienpersönlichkeit Alessandra Barron aufsteigt.

Was Mellanie, eine bildhübsche, blutjunge Firstliferin, dabei nicht weiß, lernt sie rasch – Alessandras „Assistentinnen“ sind nicht weniger als Huren, die von ihrer Chefin zwecks Wissenser­werb in die Betten informationsträchtiger Kunden geschickt werden. Weigerung führt zum unausweichlichen Karriereende. Niemand kann jedoch vorhersehen, dass Mellanies brennender Hass auf Paula Myo sie auf diese Weise schließlich auf die Fähr­te von Dudley Bose bringen wird – und so auf die Spuren des le­gendären Starflyers

Der zweite Handlungsstrang betrifft Paula Myo selbst: sie ist nach wie vor auf der Jagd nach dem Terroristen Bradley Johans­son, den Gründer der Guardians of Selfhood, dessen Operati­onsbasis sich auf dem fernen Randplaneten Far Away befindet. Johansson behauptet bekanntlich, die Regierung der Menschheit sei von einem feindseligen Alien namens Starflyer unterwan­dert, der auch den Einsturz der Barriere um Dyson Alpha be­wirkt habe (durch einen Agenten an Bord der Second Chance). Allgemein wird angenommen, dass dieses Alien nur ein Hirnge­spinst Johanssons ist, der einstmals auf Far Away im Auftrag der Halgarth-Dynastie ein gestrandetes Alien-Raumschiff untersuch­te.

Als Paula Myo Johanssons Waffenhändler Adam Elvin, einem einstmaligen radikalen Sozialisten, auf einer Wasserwelt so dicht auf den Fersen ist, dass sie ihn fast gefasst hat, taucht auf einmal ein Killer auf, der mit absoluter Brutalität die Operation von Johanssons Guardian of Selfhood unterbricht und Elvins Waffenlieferung zerstört. Der Killer entkommt unerkannt. Der Fehlschlag der Operation wird Paula Myo angelastet, und sie muss ihren Hut nehmen. Sie denkt allerdings nicht im Traum daran, ihre seit über einem Jahrhundert andauernde Verfolgung Johanssons aufzugeben. Sie wendet sich nun an einen Angehöri­gen der Burnelli-Dynastie, und damit beginnen die Probleme richtig …

Ebenfalls in die Burnelli-Dynastie gehört Justine Burnelli, die im ersten Roman als Abenteuertouristin auf Far Away in Erschei­nung trat und dort für wenige Tage zum „Engel“, heißblütigen Geliebten und großen Liebe des jungen Guardian Kazimir Mc­Foster aufstieg. Beide können einander nicht vergessen, und als Kazimir von Bradley Johansson selbst mit einer Mission auf der Erde betraut wird, setzt er alles daran, seinen Schwarm wieder­zusehen …

Der vierte Handlungsstrang kümmert sich um Ozzie Fernandez Isaac. Zusammen mit Nigel Sheldon – letzterer hat die Sheldon-Dynastie gegründet, während Ozzie es vorzog, sich lieber ein phantastisches Heimat-Refugium in einem ausgehöhlten Aste­roiden zu errichten, ohne familiären Anhang um sich zu scharen – hat er einst im 21. Jahrhundert die Wurmloch-Technologie er­funden. Ozzie ist der Auffassung, dass die rätselhafte Alienrasse der Silfen auf der Welt Silvergalde mehr über die Aliens von Dyson Alpha wissen könnte. Außerdem möchte er gerne mehr über die geheimnisvollen „Pfade“ der Silfen erfahren.

Nun, wenigstens letztgenannter Wunsch geht in Erfüllung, aber anders, als er sich das denkt: zusammen mit dem halbwüchsi­gen, elternlosen Jungen Orion folgt er den Silfen und landet auf einer Welt des ewigen Frostes, indes ohne realistische Chance, hier zu überleben. Im letzten Moment können gestrandete Men­schen die beiden in eine Eiszitadelle der Silfen retten, in der zahlreiche Alienrassen leben – beziehungsweise jene Unglücks­eligen, die sich auf die Pfade der Silfen verirrt haben und nie wieder zurückfanden. Eine Frau ist seit dem 21. Jahrhundert (!) hier, und inzwischen schreibt man das Jahr 2383.

Keine schönen Aussichten, findet Ozzie, und sinnt darauf, von dieser Welt zu flüchten. Dann, wenn die Silfen das nächste Mal erscheinen und die so genannten „Icewhales“ jagen. Ein einsa­mer Außerirdischer, den alle nur Tochee nennen, schließt sich den beiden bei dieser Flucht an. Allerdings geraten sie vom Re­gen in die Traufe – in eine nicht minder unheimliche Welt, die Ozzie allerdings bekannt ist. Er führte einstmals ein Gespräch mit einem Menschen, der behauptete, er sei auf dieser Welt in einem dichten stellaren Nebel schon einmal gewesen und von hier aus ins Commonwealth zurückgekehrt – ein Mann namens Bradley Johansson …

Im zweiten Teilband des Romans „Pandora’s Star“ beginnen sich die Handlungsstränge auf faszinierende Weise miteinander zu verknüpfen. Aber vieles ist und bleibt eben doch noch offen. Zwar erweist sich rasch, dass das Alien, das Johansson „Star­flyer“ nennt, äußerst real ist, aber wer nun in der irdischen High Society in seinem Auftrag arbeitet, bleibt unklar. Ebenso die ge­nauen Detailziele dieses Wesens. Der umtriebige und geheim­nisumwitterte Bradley Johansson wird immer rätselhafter, wäh­rend andere Personen des ausufernden Stabes der dramatis personae interessante Wandlungen durchmachen. Nicht die un­interessantesten betreffen Paula Myo und Mellanie Rescorai.

Der Angriff der „Boten des Unheils“, wie die Truppen der Prime-Zivilisation bezeichnet werden, schockiert mit kompromissloser Härte und macht schnell deutlich, dass die menschliche Zivilisa­tion zu dramatischen Gegenmaßnahmen gezwungen sein wird, wenn sie bestehen möchte. Und zugleich wird der Commonwe­alth von innen ausgehöhlt, die Intrigen und Hierarchiekämpfe gehen unverdrossen weiter und dokumentieren nachdrücklich zur „großen Politik“ durchaus auch die Individualschicksale, zu denen beispielsweise die von Hunderttausenden und bald dar­auf Millionen von Flüchtlingen gehören.

Hamilton, das wissen seine Leser, gehört allerdings eigentlich nicht zu den Autoren, die der Ansicht sind, mit Gewalt könne man alles lösen. Es gibt hier also im Roman einen moralischen Konflikt, der die Reformierung der Gesellschaft betrifft, und viel­leicht geht man nicht fehl, wenn man – unter anderem dann, wenn man solche Worte wie „Selbstmordattentate“ liest! – in dieser Handlung eine Art Widerhall auf die aktuelle amerikani­sche Politik seit Herbst 2001 sieht: Wie verhält sich eine Gesell­schaft, die nicht auf Krieg gefasst ist und auf einmal brüsk „überfallen“ wird? Wird sie sich so sehr ideologisieren lassen, dass die Friedensgesellschaft sich in eine militaristische verwan­delt? Was hat das für mentale Folgen? Was für Vereinfachungs­mechanismen setzen ein, wie tief geht die Strukturwandlung dieser Gesellschaft?

Mit solchen Fragen greift Hamilton tief in die Gegenwartspolitik ein, denn eben einer solchen Wandlung ist die amerikanische Gesellschaft und Politik seit Jahren unterworfen, mit durchweg katastrophalen Folgen. Auch sonst spart er Problemkomplexe nicht aus, die sich mit den neuen Technologien verbinden, die er als Grundlagen des Commonwealth etabliert: wie beeinflusst beispielsweise die Möglichkeit der regelmäßigen Rejuvenation, die jahrhundertelanges Leben möglich macht, die Struktur von Partnerschaften, ist es moralisch vertretbar, wenn sich ein Reli­fer im 200. Lebensjahr eine „Firstliferin“ angelt, die gerade mal neunzehn Jahre jung ist? Was ist mit Kindern aus verflossenen Ehen, die inzwischen teilweise selbst wieder Kinder haben? Wie endlich beeinflusst solche Technologie die Verteilung der Güter und Finanzen in einer Gesellschaft? Hat unter solchen Aspekten sozialistischer Idealismus überhaupt noch eine Existenzberechti­gung, oder ganz besonders jetzt? Und so weiter.

Jenseits des militärischen Konflikts, jenseits des hochspannen­den kriminalistischen Handlungsstranges und der äußerst kom­plexen, mehrheitlich dynastisch geprägten Interessenpolitik ent­wickelt sich diese Serie hintergrundbedingt ähnlich faszinierend tiefsinnig wie weiland der „Armageddon“-Zyklus. Und man kann als Leser gespannt sein, wie Hamilton die vielen Handlungs­stränge letztlich vereint. Besonders neugierig sein darf man weiterhin auf Bradley Johanssons Geschichte und die Entde­ckung des Starflyers. Und dann gilt es, die Menschheit zu ret­ten. Mehr dazu im kommenden Band.

© 2006 by Uwe Lammers

Nervenaufreibend und megaspannend? Wohl wahr, Freunde. Und damit ihr euch wieder ein wenig herunterkühlen könnt, be­suchen wir in der kommenden Woche mal einen französischen Krimiautor und analysieren ihn.

Mehr dazu in sieben Tagen an dieser Stelle.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

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