Liebe Freunde des OSM,
natürlich sollen auch Klassiker der Literatur in dieser illustren Runde meiner Rezensions-Blogs nicht fehlen. Vor einigen Monaten kümmerte ich mich um „Manon Lescaut“ von Abbé Prévost, was uns ins vorrevolutionäre Frankreich zurückversetzte, und heute präsentiere ich euch meine Lese- und Rezensionsfrucht aus dem Jahre 2006, als ich die kommentierte Ausgabe des Doyle-Klassikers „Der Hund der Baskervilles“ las (sehr oft auch heutzutage immer noch falsch als „Der Hund von Baskerville“ falsch übersetzt, wodurch aus dem Adelsgeschlecht der Baskervilles kurzerhand eine Stadt gemacht wird).
Natürlich mag man sagen, dass dieses Spätwerk von Arthur Conan Doyle wesentlich von dem Widerwillen seines Schöpfers getragen wurde, der schließlich Sherlock Holmes Jahre zuvor mit voller Absicht in den Reichenbachfällen entsorgt hatte – gegen den ausdrücklichen Wunsch der Leserschaft. Das bedeutet aber nicht, dass er den Verstand beim Schreiben dieses episodischen Romans ausgeschaltet hätte. Da ist er durchaus auf der Höhe seines Könnens, und folgerichtig ist es Sherlock Holmes auch … selbst wenn der sich nach anfänglichem Auftritt lange Zeit rar macht. Das hat seine Gründe und ist durchaus wirkungsvoll.
Also machen wir einfach mal einen Ausflug auf ein nebliges, vermeintlich verfluchtes Moor und folgen der Fährte eines Höllenhundes:
Der Hund der Baskervilles
(OT: The Hound of the Baskervilles)
von Sir Arthur Conan Doyle
Haffmanns-Doyle-Gesamtausgabe Band III, 1984
212 Seiten, geb.
Übersetzt von Gisbert Haefs
Lange hatte der Leser geglaubt, das letzte Stündlein habe Sherlock Holmes, dem begnadeten, durchgeistigten und durchaus problematischen Detektiv aus der Baker Street 221b geschlagen. Im abschließenden Fall, den Dr. John Watson in The Strand im Dezember 1893 lieferte, schockierte er die Leser zutiefst: Holmes traf hier in „Sein letzter Fall“ auf den sinistren Professor Moriarty und wurde von diesem kriminellen Genie in der Schweiz in die mörderischen Reichenbachfälle und damit in den sicheren Tod gerissen.
Seither sind acht Jahre vergangen, in denen der getreue Chronist der Holmes-Fälle immer wieder bestürmt worden ist, von den zahllosen, früheren Abenteuern des großen Detektivs zu berichten. Im August 1901 ist es schließlich soweit. Er beschreibt einen der seltenen Fälle, in dem Sherlock Holmes sich mit dem Übernatürlichen zu messen hatte, etwas, an das Holmes natürlich selbst nicht glaubte. Spätere Chronisten haben dieses Abenteuer auf den Oktober des Jahres 1888 datiert1, wiewohl es Versuche gab, sie auf das Jahr 1900 zu verlegen. Folgendes berichtet Watson:
Die Geschichte beginnt mit einem Klienten, den Holmes und Watson kurz verpassen, der aber seinen Spazierstock dalässt, aus dem der Detektiv schnell auf einen jungen Arzt schließt, mit kleinem Hund, Neigung zur Zerstreutheit und Vorliebe für lange Fußmärsche. Als Dr. Mortimer schließlich eintrifft, entpuppt sich das als durchaus zutreffend.
Dr. Mortimer ist guter Freund und Nachbar von Sir Charles Baskerville, der in Dartmoor direkt am Sumpf lebt. Mortimer, eigentlich nicht sehr abergläubisch, berichtet recht mitgenommen unter Vorlage eines alten Dokuments vom schrecklichen Fluch, den einst Hugo Baskerville auf seine Schultern geladen hat, als er vor Jahrhunderten eine Jungfrau aufs Moor verfolgte. Eine teuflische Kreatur besiegelte sein Schicksal. Seit damals gibt es die Legende vom Höllenhund der Baskervilles, der ein Familienmitglied nach dem anderen dereinst ins Jenseits befördern würde.
Selbstverständlich schnaubt Holmes despektierlich. Aberglauben. Eine närrische Vorstellung.
Doch er horcht auf, als er vom Tod Charles Baskervilles und insbesondere den rätselhaften Begleitumständen hört, zu denen auch ein riesenhafter Pfotenabdruck neben der Leiche zählt, der in der Allee vor der Haustür des Anwesens zu entdecken war.
Dr. Mortimer kommt deswegen, weil der letzte Baskerville aus in London eingetroffen ist, um den er sich schreckliche Sorgen macht. Sir Henry Baskerville, erheblich jünger als der Verstorbene, möchte unbedingt den Familiensitz besuchen und sich dort einrichten. Er ist ein energischer, dynamischer Tatmensch, wie sich rasch herausstellen soll. Neugierig geworden, lernt Holmes Henry Baskerville am kommenden Tag kennen und wird sofort mit neuen, überraschenden Fakten konfrontiert: Baskerville ist ein Schuh im Hotel abhanden gekommen, dann wird ihm eine aus der Zeitung ausgeschnittene Warnung zugestellt, er solle wieder abreisen. Und schließlich stellt Holmes fest, dass jemand den jungen Erben beschattet – jemand, der sich dreist als „Sherlock Holmes“ ausgibt!
Das ist nun zu viel.
Der Detektiv schickt seinen Adlatus Watson mit Henry Baskerville aufs Moor hinaus, wo der Arzt rasch die düstere Kulisse von Baskerville Hall und seine zum Teil schrulligen Nachbarn kennenlernt, beispielsweise den alten, streitsüchtigen Mr. Frankland und den Botaniker Stapleton sowie seine bezaubernde Schwester.
Fernerhin ist offenbar auch das alte Haushälter-Ehepaar der Baskervilles von einem Rätsel umgeben. Warum weint die Ehefrau so bitterlich wie heimlich? Weshalb gibt Mr. Barrymore nächtens Leuchtsignale? Und hängt die Flucht des mörderischen Verbrechers Selden, der vom Boden verschlungen zu sein scheint, mit dem Baskerville-Fluch zusammen?
Ein dichtes Netz von Rätseln, harmlosen und gefährlichen, rankt sich um Baskerville Hall, und schließlich beginnt selbst Watson zu verstehen, dass sein Freund Sherlock Holmes Recht hat – dass hier ein mörderisches Verbrechergenie am Werke ist, so genial, dass auch Holmes dem Feind nichts nachweisen kann, selbst dann nicht, als er sich der ersten Leiche gegenübersieht. Ein tödlicher Wettlauf mit dem Verderben beginnt …
Bereits 1987 las ich „Der Hund der Baskervilles“, doch damals in einer arg gekürzten und schlichteren Fassung, außerdem ohne jedes Vorwissen im Falle Holmes. Folgerichtig konnte ich natürlich den Roman nicht entsprechend würdigen. In der sehr textgetreuen Übersetzung, die vom Übersetzer Gisbert Haefs dezent kommentiert worden ist, gewinnt der Roman, der erstmals von August 1901 bis April 1902 als Fortsetzungsgeschichte im legendären Strand Magazine erschien, entschieden mehr Profil und lässt sich besser genießen. Durch den auf diese Weise restaurierten Episodencharakter eignet sich das Buch ausgezeichnet dazu, es in Etappen von 2-3 Kapiteln je Tag zu lesen und sich zwischendrin immer eigene Gedanken zu machen – die klassischen „Whodunnit“-Gedanken natürlich: Wer ist der Mörder? Warum tut er, was er tut (denn es gibt natürlich immer einen Grund, reine Sadisten oder Serienkiller aus schierem Blutdurst, die eigentlich kein Motiv außer dem Mord selbst brauchen, sind in solchen Geschichten verpönt), welche Winkelzüge machen Holmes und Watson, um dem Gegner auf die Spur zu kommen?
Altbacken, höre ich da jemanden murmeln? Übertrieben durch stilistische und atmosphärische „Tricks“ in die Länge gezogen? Nun, das muss man wohl am Studienobjekt selbst beurteilen lernen. Ich für meinen Teil habe mich bei der Geschichte nicht gelangweilt, wiewohl mir recht schnell klar war, wie die Lösung aussah. Aber vergesst nicht: ich kannte den Roman auch schon. Für einen Neuleser hat das Buch sicherlich einige Überraschungen zu bieten. Und wer Holmes schätzt, wird ohnehin sanftmütiger und mit einem seligen Lächeln an diesen Fall herantreten, wo Holmes mit einem Höllenhund konfrontiert wird, und natürlich mit dem – zum damaligen Zeitpunkt (1888) – finstersten und genialsten Verbrecher, dem er je gegenüberstand.
Doch, es lohnt sich.
© 2006 by Uwe Lammers
Das muntere Kontrastprogramm geht in der nächsten Woche weiter. Dort werden wir uns ein paar tausend Kilometer ostwärts bewegen und ein paar Jahrhunderte weiter zurück, um geradewegs im Orient zu landen. Um was genau es geht, werdet ihr in sieben Tagen an dieser Stelle entdecken können.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. Mike Ashley: „Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton“, Bergisch-Gladbach 2003, S. 728.