Liebe Freunde des OSM,
wie in der vergangenen Woche versprochen – heute mache ich mal wieder mehr Worte als neulich. Und das bei einem Buch, das ich im gleichen Jahr las… indes, ihr werdet es spüren, es hat deutlich mehr Diskussionspotenzial als die kurzweiligen Comicabenteuer eines Dimensionsdetektivs. Und ja, natürlich hat das Buch auch deutlich mehr Seiten, aber das ist nicht wirklich entscheidend.
Zentral ist stets die inhaltliche Qualität, der Fokus der Aufmerksamkeit und die schillernde Vielgestaltigkeit dessen, was ich gelesen habe. Das muss nicht unbedingt sehr lang sein, um gehaltvoll zu sein (ist es aber meistens – ich bin eben nicht die Form von Leser, die kurzen philosophischen Texten seitenlange Auslegungsexkurse angedeihen lässt, sondern versuche schon, mich über vergleichsweise leicht lesbare Bücher auszutauschen. Sollte jemand etwas anderes hier suchen, würde ich vorschlagen, er oder sie sucht sich einen philosophischen Blog, den es gewiss auch irgendwo in den Weiten des World Wide Web gibt).
Mit dem vorliegenden Buch durcheilen wir die Jahrhunderte und, genau genommen, sogar die Jahrtausende. Die Kulturhistorikerin Susan Griffin durchleuchtet das Phänomen und das Wesen der Kurtisanenkultur auf kulturwissenschaftlicher, aber ausgesprochen kurzweiliger Basis und rüttelt so auf schöne Weise an vielleicht bestehenden Vorurteilen. Dass das Marketing ihr die Sache dann so schwermachte (wie ich unten andeute), ist nicht ihr anzulasten.
Entscheidend war, fand ich damals und finde es heute immer noch, dass dieses Buch mein Interesse erweckte und ich es bald nach Erwerb neugierig und mit Gewinn durchschmökerte. Und ja, ich leugne nicht, dass es mich in einer kreativen Phase meines eigenen schriftstellerischen Schaffens traf, als ich derlei Ratschlag durchaus brauchte. Es sei nur kurz angedeutet – in meinem tropischen Archipel, der romantisch-erotischen Gegenwelt zu meinem zentralen kreativen Hauptwerk, dem Oki Stanwer Mythos (OSM), war ich damals gerade dabei, in die komplexen Tiefen der Archipel-Metropole Asmaar-Len einzutauchen.
Und Asmaar-Len, das werdet ihr vermutlich beizeiten durch entsprechende Veröffentlichungen von mir erfahren, besitzt eine sehr ausgeprägte Kurtisanen-Gesellschaft, die dort gewissermaßen via Ausbildungsberuf „herangezüchtet“ wird.
Höchste Zeit also für mich, zu erfahren, was diese so zwiespältig wahrgenommenen Frauen ausmachte. Und das vorliegende Buch machte mir vieles von ihrem Wesen verständlicher.
Vorhang auf für:
Die Tugenden der Kurtisanen
(OT: The Book of the Courtesans)
von Susan Griffin
Diederichs-Verlag, 2002
324 Seiten, geb.
Übersetzt von Elisabeth Liebl
Kurtisanen, das ist ein Wort aus dem Gestern, denkt der Uneingeweihte. Verruchte Frauen, die in der mondänen Zeit der vergangenen zwei Jahrhunderte im großbürgerlichen und adeligen Milieu zu Ruhm und nicht unumstrittener Anerkennung gelangten, indem sie die Reize ihres Körpers für Geld an diejenigen vermieteten, die es bezahlen konnten. Also, könnte man moralisch urteilen, durchaus dubiose, verworfene Geschöpfe, die man besser meidet.
Wer so denkt, wird über den Titel des Buches unweigerlich stolpern müssen. Tugenden? Tugenden der Kurtisanen? Wo doch ihre „Berufsbeschreibung“ schon an sich den Begriff der Tugend ausschließt, ja, sie als genaues Gegenteil bürgerlicher Tugenden erscheinen lässt? Wie geht das zusammen?
Wer nicht sogleich das Buch aus der Hand legt, abgeschreckt von dem frivolen Berufsstand der Kurtisanen, der heute gerne – und zu Unrecht – mit dem der Prostituierten in einem Atemzug genannt wird, wer neugierig geworden ist, wie eine Autorin, zudem auch noch eine feministisch angehauchte wie Susan Griffin, argumentiert, der wird überrascht werden. Er muss vermutlich eine Reihe liebgewonnener Vorurteile über Bord werfen, die ihm das Leben leicht gemacht haben und verschiedene Dinge aus gänzlich ungewohnten Blickwinkeln betrachten.
Der Verlag hat es dem Betrachter freilich nicht leicht gemacht. In der Hoffnung, mit berühmten Namen zu prunken und anzuziehen, projizierte er ein legendäres Nadar-Foto Sarah Bernhardts auf das Titelbild und grenzte unzulässig den zeitlichen Rahmen ein. „Mächtige Frauen mit eigener Moral. Von Madame de Pompadour bis Lola Montez“ heißt es im Untertitel. Tja, korrigieren wir das einmal zuerst.
Die Spur der Kurtisanen fängt natürlich nicht erst im 18. Jahrhundert an, und sie endet auch nicht zu Beginn des 20. Vielmehr bedingt die Spurensuche, auf die Susan Griffin uns in ihrem in sieben Bereiche subtil unterteilten Buch mitnimmt, auch Stippvisiten im antiken Griechenland bei der legendären Kurtisane Phryne, die uns heute noch aus jeder antiken Venus-Büste entgegenstrahlt, sowie im frühen Venedig des 16. und 17. Jahrhunderts, wo den Forschern zufolge zeitweilig auf 100.000 Einwohner nicht weniger als 10.000 Kurtisanen kamen.
Schöne Frauen finden wir hier, hinreißende Biografien und unglaubliche Wechselfälle des Schicksals. Ob wir die ätherische Liane de Pougy nehmen, der ein Freier nicht weniger als 80 Millionen Franc zahlte, um sie einmal nackt zu sehen und die von ihrem Mann niedergeschossen wird (es aber überlebt, mit zwei Kugeln in der Hüfte), ob wir irische, ungebärdige Kinder kennenlernen, die sich später als spanische Tänzerinnen ausgeben oder den Berufsstand der Näherinnen, Stickerinnen und Schauspielerinnen im 18. und 19. Jahrhundert aufsuchen, um den verschlungenen Pfaden der Lebenslinien unglücklicher Frauen zu folgen, überall gibt es unerwartete Entdeckungen zu gewärtigen.
Griffin erzählt davon, dass es zu schlicht ist, nur auf die Oberfläche zu schauen, auf das, was die Kurtisanen aus sich gemacht haben, als sie erst einmal erfolgreich waren. Sie beschreibt stattdessen, in guter Historikertradition bis zur Wurzel ihrer Existenz zurückgehend, teilweise zwei Generationen weit zurück, wie das komplexe Geflecht der Vereinigungen von Männern und Frauen das Schicksal vorausbestimmt. Und immer wieder wird sichtbar, dass die jungen Mädchen aus verzweifelten, aussichtslosen Berufsständen und Gesellschaftsklassen sich gegen das Schicksal auflehnen, gegen die gesellschaftlichen Konventionen und ihre düstere Zukunft.
Und Kurtisanen werden.
Das lässt dem Leser dann doch unwillkürlich den Atem stocken: Kurtisane als Berufswunsch, der das Leben verbessert? Irgendwie lässt sich das nun gar nicht mit dem Klischee der moralischen Verdorbenheit in Einklang bringen, es hat so sehr wenig mit dem verrufenen Image der Hure von heute zu tun.
Gewiss, das Fleischliche ist nicht zu verleugnen, es ist da, und es macht natürlich die Frauen zu Objekten, hauptsächlich sexuell wahrgenommen zu werden und zu einem guten Teil mit Sex ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Aber die Kurtisanen drehen in vielerlei Hinsicht den Spieß um. Nicht SIE sind es am Ende, die am Haken zappeln, sondern vielmehr ihre Freier, die Männer, die sich arme Näherinnentöchter und Schauspielerinnen auf drittklassigen Bühnen angeln. Und sie sind nicht erfolglos damit – Schriftsteller gehen ihnen ebenso auf den Leim wie Goldsucher am Klondike, Industriemagnaten, Millionäre, Filmemacher, Schauspieler, Adelige, gelegentlich sogar Könige (die wie im Fall von Ludwig I. von Bayern dadurch ruiniert werden können).
Doch wie schaffen sie das?
Schön müssen sie aussehen, natürlich, aber Schönheit alleine genügt nicht, denn der Wettbewerb unter den verzweifelten Frauen aller Zeitalter ist groß, der Wunsch, ganz nach oben zu kommen, weit verbreitet. Und so legt die Autorin Susan Griffin, indem sie die Psychologie und die „Technik“ der Kurtisanen durchleuchtet und mit deren Lebensläufen parallel schaltet, die Tugenden offen, sagen wir besser: die Fähigkeiten (denn „Tugenden“ halte ich persönlich für einen etwas zu wertenden Terminus, der allein von der Übersetzerin und dem Verlag als Etikett gewählt wurde, der besseren Verkaufbarkeit wegen) dieser erfolgreichen Frauen offen.
Wir lernen etwas über das Timing, das wesentlich mehr ist, als nur zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Schönheit wurde schon angesprochen, ein verwelkendes und fragiles Gut (manche der Kurtisanen wurden nur 40 Jahre alt). Keckheit fällt dem Leser nicht unbedingt als „Tugend“ einer Kurtisane ein, ist aber zwingend erforderlich. Brillanz hat hier auch mit Wissen, Belesenheit, teilweise sogar mit Philosophie zu tun (die Kurtisane Tullia d’Aragona war beispielsweise beides in einer Gestalt – Philosophin und Kurtisane). Lebensfreude erscheint nahe liegend, doch sie beschränkt sich keineswegs nur auf die jugendlichen Jahre, sondern kann auch in hohem Alter noch wirken. Grazie kann den Männern schier den Kopf rauben und sie zu Dingen veranlassen, die ein unbeeinflusster Beobachter als schieren Wahnsinn bezeichnet. Und zuletzt muss eine erfolgreiche Kurtisane noch Charme aufweisen.
Vielseitige Fähigkeiten, die bei jeder der so genannten „grandes horizontales“ unterschiedlich stark ausgeprägt sind, und deren Kombination, je nach Zeit und Land, nach Berufsstand und Zielgruppe verschieden erfolgreich angebracht werden können. Die Kurtisane Phryne beispielsweise war zum Ende ihres Lebens steinreich. Die Kurtisane Madame Du Barry endete hingegen weinend und jammernd auf dem Schafott der Französischen Revolution. Und wer hätte gedacht, dass sich auch eine Frau wie Coco Chanel (genau, Coco Chanel!) letzten Endes als Kurtisane entpuppt…?
Das Buch hält, sehr unterhaltsam und nachdenklich geschrieben, eine Fülle von faszinierenden Biografien parat. Die thematische Struktur des Werkes macht ein gewisses beliebiges Springen unumgänglich, was aber auch seinen Reiz ausmacht. Es ist wie ein Knäuel voller Schlingen, das gelegentlich von einer Lebenslinie zur nächsten, von einem Jahrhundert zum darauffolgenden (oder auch tausend Jahre zurück) springt. Und so subtil, wie die Moralität der Kurtisanen seziert wird, erhalten auch in allen Zeiten die Berufsstände der Männergesellschaft „ihr Fett weg“, ihre Amoralität, gebrochene Versprechen, das religiöse Bekenntnis nach Keuschheit auf der einen Seite, auf der anderen Seite Kardinäle, die die Ehemänner von Kurtisanen ins Gefängnis werfen lassen, um fleischliche Dienste zu erpressen, die sie eigentlich gar nicht beanspruchen dürften, eifersüchtige Liebhaber oder Ehemänner…
Doch, der scharfsinnige Leser merkt den feministischen Anspruch des Buches rasch, ein Anspruch, der sich in der Aussage kondensieren lässt, dass die Kurtisanen früherer Jahrhunderte, streng genommen, indem sie ihre eigene Moral aufstellten und damit gegen die vorherrschenden Regeln der durchaus repressiv zu nennenden Gesellschaft opponierten, unter heutigen Gesichtspunkten als Vorreiterinnen der Frauenbefreiung zu verstehen sind.
Der Standpunkt ist gewöhnungsbedürftig, wenn man Kurtisanentum und das Leben als Liebesdienerin nur unter dem Aspekt der Ausbeutung der Frau durch das Patriarchat betrachten möchte. Diese Vereinfachung wird hier nicht vorgenommen, sondern auch gelegentlich auf süffisant-ironische Art und Weise ad absurdum geführt.
Es lässt sich resümieren, dass derjenige Leser, der für Alltagsgeschichte sein Herz entdecken möchte, hier gut aufgehoben ist. Und danach hat er vielleicht Appetit auf das eine oder andere Buch, das berühmte Kurtisanen in späteren Jahren geschrieben haben, oder auf Emile Zolas Nana, vielleicht möchte er auch gerne ins Theater gehen oder sich die eine oder andere Biografie zu Gemüte führen. Doch, dies ist ein guter Weg, sich für Geschichte zu begeistern.
© 2004 by Uwe Lammers
Auch mit einem Abstand von gut 15 Lesejahren ist zu konstatieren, dass man dieses Buch nach wie vor mit großem Gewinn lesen kann – egal übrigens, ob der Archipel nun für Leser zugänglich ist oder nicht. Als kulturhistorisches Phänomen haben Susan Griffins Ausführungen über die Kurtisanen auch für das Verständnis unserer Gegenwart einigen Wert. Wer sich also von meiner obigen Rezension angesprochen fühlt, tut gut daran, das Buch zu suchen.
In der nächsten Woche tauchen wir buchstäblich zurück in den Parallelkosmos von Clive Cussler, dessen Bücher ich jetzt in etwas größeren Abständen rezensieren werde… immerhin nähern wir uns da so allmählich der Lektüregegenwart.
Bleibt neugierig, Freunde! Bis nächste Woche!
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.