Liebe Freunde des OSM,
Kriege sind Störfälle der Weltgeschichte, so würde ich das mal technisch betrachten. Es gibt natürlich schon seit den Zeiten der alten Griechen Staatstheoretiker, die der Auffassung sind, Kriege gehörten zur menschlichen Geschichte einfach dazu, und sie seien wie „reinigende Gewitter“, die frischen Wind in die eingerosteten gesellschaftlichen Konventionen bringen … aber wer auf diese Weise Militärgeschichte zu glorifizieren sucht, übersieht einen ganz wesentlichen Punkt.
Kriege sind grausame Ereignisse, die mit der Wucht einer Naturgewalt zerstörerisch wirken, die Menschenschicksale zerschmettern und unendliches Leid hervorrufen. Nahezu niemals erfüllen kriegerische Waffengänge die Ziele, die sie letzten Endes erfüllen sollen. Weder sind Territorialgewinne langfristig haltbar noch wirken etwa Vertreibungen, wie sie als „Kollateralschäden“ bei kriegerischen Konflikten vorkommen, langfristig so harmonisierend, wie sich die Planer das gedacht haben.
Menschliche Gesellschaft ist ein fragiles, empfindsames Geflecht, das durch solche Verheerungen Narben davonträgt, und viele Kulturen tragen jahrzehntelang, womöglich jahrhundertelang an den Folgen, wenn deren Verursacher schon längst zu Staub zerfallen sind.
Einer der sicherlich wirkungsmächtigsten Kriege, der weltweit bis heute nachwirkt, war der Zweite Weltkrieg. Er ist insofern ein wenig anders, als es hier tatsächlich einmal gelang, die zentralen Krieg auslösenden Mächte niederzuwerfen und mithilfe von Militärtribunalen zur Verantwortung zu ziehen.
Nürnberg 1945, das ist das Schlagwort, von dem man hier reden muss.
Krieg ist jedoch auch in diesem Fall ein Ereignis, das ganz eigentümliche Folgekonsequenzen auszulösen imstande ist. Manche davon sind so eigenartig, dass selbst Historiker wie ich konsterniert und überrumpelt vor dem Ergebnis stehen. So ging es mir auch, als ich Christiane Kohls Buch zum „Zeugenhaus“ entdeckte.
Was das „Zeugenhaus“ ist? Und wer da Zeugnis ablegte und worüber? Das erfahrt ihr, wenn ihr weiterlest – lasst euch überraschen:
Das Zeugenhaus
Nürnberg 1945: Als Täter und Opfer unter einem Dach zusammentrafen
von Christiane Kohl
Goldmann Hardcover
276 Seiten
München 2005
ISBN 978-3-442-31066-1
Nürnberg 1945.
Jeder zeithistorisch einigermaßen orientierte Mensch bringt mit diesem Ort und diesem Datum die alliierten Kriegsverbrecherprozesse in Verbindung, die an diesem Ort begannen und schließlich dazu führten, dass zahlreiche Größen des untergegangenen nationalsozialistischen Deutschland für ihre Verbrechen durch den Tod am Strang büßen mussten. Dies erschien damals wie heute vielen, die von den Nazigräueln hörten, als überaus gerecht. Manche finden, es hätte noch wesentlich mehr Todesurteile geben müssen. Einige der „Verbrecher“ seien viel zu glimpflich davongekommen – etwa Rudolf Heß, der bis ans Lebensende im Berliner Gefängnis Moabit einsaß. Oder Albert Speer, Hitlers Meisterarchitekt, der monströse Pläne für das Nachkriegsdeutschland unter dem Nazibanner geplant hatte1, auch Heinrich Hoffmann, der Leibfotograf des „Führers“ war gewiss jemand, dem man ein härteres Los gewünscht hätte.
Doch abgesehen von dieser Tatsache – hat sich jemand schon einmal ernsthaft in diesem Zusammenhang den Kopf über die Frage zerbrochen, wo die geringeren nationalsozialistischen Funktionäre, gegen die prozessiert wurde, eigentlich unterkamen? Oder die Zeugen der Anklage? Die Historikerin Christiane Kohl geht in diesem spannenden Buch exemplarisch dieser Frage nach und hat eine Geschichte recherchiert, wie sie unwahrscheinlicher kaum klingen könnte. Doch sie ist absolut wahr…
Den Anfang der detektivischen Spurensuche machte ein geselliges Beisammensein bei der Familie Kohl am Abend des 31. August 1980, bei der ein steinalter Hausfreund, Bernhard von Kleist2, unerwartet – wie Christiane Kohls Vater – plötzlich über den Zweiten Weltkrieg zu reden begann. Er hatte sogar für das, was er darbot, einen „Zeugen“ zur Hand: ein kostbar aussehendes, altes Gästebuch, in dem sich unwahrscheinliche Leute verewigt hatten: der Widerständler Robert Havemann, der Gestapo-Gründer Rudolf Diels, der geniale Konstrukteur Willy Messerschmitt, der KZ-Häftling Eugen Kogon. IG Farben-Manager, Zwangsarbeiter… und alle zur gleichen Zeit, binnen weniger Monate.
Weder die junge Christiane Kohl noch ihr Vater konnten es recht fassen, was von Kleist ihnen an jenem Abend erzählte – dass es ein sogenanntes „Zeugenhaus“ am Rande von Nürnberg gegeben habe, in dem sich Täter und Opfer direkt im Anschluss an den Holocaust und die Besetzung Deutschlands gewissermaßen die Klinke in die Hand gegeben hatten, zeitweise am selben Abendbrottisch saßen.
Wie war die Stimmung? Was genau war dort vorgefallen? Was für Geschichten mochten hinter den spärlichen Einträgen in dem Gästebuch stehen, das ein unikater Zeitzeuge war?
Diese Fragen ließen die spätere Historikerin Christiane Kohl nicht ruhen, aber es dauerte über zwanzig Jahre und machte umfangreiche Archivrecherchen und Reisen bis nach Amerika zu Überlebenden der damaligen Geschehnisse erforderlich, bis sie schließlich das zweite Gästebuch des „Zeugenhauses“ aufspüren konnte – und die charismatische Leiterin der ungewöhnlichen Herberge, die ungarische Gräfin Ingeborg Kálnoky, die sich noch lebhaft an damals erinnerte.3
Gerade von ihrem vierten Kind entbunden, von ihrem Mann getrennt, dessen Schicksal ungewiss war, wurde sie von den Amerikanern engagiert, ein Haus zu leiten, dessen Eigentümer, die Familie Krülle, kurzerhand zu Dienstboten im eigenen Haus degradiert worden waren. „Keep things running smoothly“, hatten ihr die Behörden aufgetragen: „Sorgen Sie dafür, dass alles ruhig verläuft.“
Nur, wie sollte man das tun in einem vom Krieg weitgehend verheerten Land, in dem die Besatzungsmacht – oberflächlich betrachtet – alle Fäden in der Hand hielt und die Bevölkerung sonst weithin Hunger litt?
Es waren Ex-Nazis wie der Fotograf Heinrich Hoffmann, der es demonstrierte. Er, der bald in der Küche des „Zeugenhauses“ die Anwesenden, besonders die Familie Krülle, mit „Hoffmanns Erzählungen“ aufs Angenehmste unterhielt, dabei die dunklen Seiten des Nazireiches nie gesehen haben wollte und ansonsten die Fähigkeit besaß, einen schwunghaften Handel mit Fotos und Schwarzmarktwaren aufzuziehen.
Dann gab es aber auch die Problemkandidaten wie jenen Mann, der im ersten Stock unter ständigem Arrest gehalten wurde, aber in Bälde hochrangigen Damenbesuch aus dem Adelshaus Faber-Castell bekam – ein abgehärmt wirkender Kerl mit Schmiss und Casanovatouch, von dem Hoffmann überrascht meinte: „Ich dachte, der sei tot.“
Rudolf Diels, der Gründer der Gestapo, von der Kálnokys Familie selbst verfolgt worden war!
Schließlich kam ein Mann mit rotem Schal ins „Zeugenhaus“, schweigsam, durch Händel-Musik im Radio zu Tränen gerührt: General Erwin Lahousen Edler von Vivremont, seines Zeichens im militärischen Widerstand unter Admiral Canaris tätig und Kronzeuge der Anklage vor dem Kriegsverbrechertribunal (was ihm später die gezischte Bemerkung von Nazigrößen eintrug, er sei „leider bei der Säuberung vergessen worden“). Seine Aussagen trugen wesentlich dazu bei, die Spitzen der NS-Elite ihrem gerechten Schicksal zuzuführen.
Diese Personen und zahllose weitere trafen im „Zeugenhaus“ ein, übernachteten Seite an Seite mit den Opfern bzw. ärgsten Feinden, manchmal nur wenige Tage, mitunter aber auch Wochen oder Monate. Dazwischen bizarre Zwischenspiele: beispielsweise der bei Hitler in Ungnade gefallene General Franz Halder, der mit Kálnokys kleinen Kindern Weihnachten mit Hilfe von konfiszierten Nazi-Spielzeugsoldaten Schlachten des Zweiten Weltkriegs im Wohnzimmer nachstellte; Heinrich Hoffmann, der sich die Adressen von Holocaust-Überlebenden geben ließ; und dann war da natürlich auch noch der junge, katholische Priester Fabian Flynn, der der attraktiven Gräfin „unverhohlen den Hof machte“, wie es hieß…
Der Leser spürt sehr schnell, dass das „Zeugenhaus“ ein faszinierendes, vielfältiges Potpourri von Biografien und verschlungenen Lebenswegen ist, die an einem vermutlich einzigartigen Kulminationspunkt des Schicksals zusammengeführt worden sind, und es gebührt der Autorin, diese Schicksale und ihre Interferenzen auf so lebendige Weise dem Vergessen wieder zu entreißen.
Ebenfalls wirft man auf diesem Weg einen Blick auf die verworrenen Abläufe hinter den Kulissen des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses und seiner Folgeprozesse – das „Zeugenhaus“ bestand bis Herbst 1948 – und die teilweise chaotischen und abenteuerlichen „Deals“, die notwendig wurden, um die „großen Fische“ zu fangen. Da wurde dann auch schon mal ein Auge zugedrückt, beispielsweise im Fall Diels.
Und der noch nicht so sehr in NS-Geschichte Bewanderte kann durch dieses faszinierende Fenster des „Zeugenhauses“ gleichzeitig einiges über Zyklon-B, Birkenwald, den Wilhelmstraßen-Prozess, den Prozess gegen die IG Farben oder die KZ-Ärzte mitbekommen… und selbstverständlich über den verblüffenden Assimilationsprozess zwischen Besetzten und Besatzern.
Eine Vielzahl knapper Kurzbiografien runden das Buch schließlich ab.
Leider ist das Werk selbst relativ kurz, und so ist man auch in moderatem Tempo bereits nach spätestens vier Tagen am Schluss anlangt. Man wünschte sich wirklich, es wäre doppelt so lang. Und das ist, finde ich, doch ein schönes Kompliment für ein ungewöhnliches, reizvolles und aufschlussreiches Buch über einen weißen Fleck der Historiografie. Möge es mehr davon geben. Und mögen die Leser es entdecken. Die Lektüre lohnt sich.
© 2008 by Uwe Lammers
Gar zu schnell war diese Lektüre dann leider wieder vorbei. Das oben angesprochene Diktum, dass gute Bücher immer zu kurz sind (und mögen sie auch tausend Seiten umfassen wie im Fall vieler Romane von Diana Gabaldon), es ist bedauerlicherweise immer in Geltung.
In der kommenden Woche möchte ich mal wieder einen kleinen Step ins Genre des Comics machen, aber zugleich beim Bereich der Phantastik bleiben. Mehr sei an dieser Stelle noch nicht verraten.
Bis bald, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. hierzu Ralph Giordano „Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg“, Rasch und Röhring, Hamburg 1989.
2 Kleist war US-Dolmetscher in der Zeit der Nachfolgeprozesse nach Nürnberg. Seine Frau löste die ursprüngliche Herrin im „Zeugenhaus“ ab.
3 Zweifellos hilfreich für dieses Buch war die Tatsache, dass die Gräfin zeitnah Memoiren über ihre dortigen Erlebnisse erstellte und in den Staaten schließlich mit Hilfe der Ghostwriterin Ilona Herisko die Erinnerungen publizierte. Vgl. Ingeborg Gräfin Kálnoky & Ilona Herisko: „The Guest House“, New York 1975.