Liebe Freunde des OSM,
Zeitreisen sind ein SF-Setting par excellence, und das bereits seit mehr als 120 Jahren, seit H. G. Wells einen namenlosen Reisenden in die ferne Zukunft der Erde schickte. In der Folge erwies sich meist die Vergangenheit als wesentlich faszinierender. Das hängt zweifellos mit den logischen Fallstricken und den möglichen Zeitparadoxa zusammen, die dort manifestieren können und die uns vertraute Gegenwart zu einem sehr fremden Ort machen oder ganz auslöschen können.
Allerdings ist es immer ein wenig tricky, Zeitreisen zumindest partiell wissenschaftlich fundieren zu wollen – dabei kann wirklich viel schief gehen. Und wenn dann ein Historiker wie ich einen Zeitreiseroman kritisch liest, kann er zwar von der Handlung mitgerissen werden, wie das heute der Fall ist in dem Buch, das ich vorstellen möchte… auf der anderen Seite kann er sich aber seine kritische Distanz bewahren und Passagen bemängeln, wo die Handlungslogik den Autor im Stich ließ (ich deute nur mal an: Magnetometer. Schaut es euch weiter unten an. Das tat echt weh).
Der vor einigen Jahren verstorbene Michael Crichton, der sich mit Geschichten um toxischen Staub aus dem Weltall („Andromeda“) und wieder genetisch neugeschaffene Dinosaurier („Jurassic Park“) einen Namen sowohl in der Buch- wie Filmlandschaft gemacht hat, war noch für vieles andere gut. Ich habe dazu bereits schon mal geschrieben, vor längerer Zeit.1
Und natürlich hat er sich auch um Zeitreisen gekümmert… oder um etwas, das man Zeitreise nennen könnte. Ich habe das vorzustellende Buch im Jahre 2002 gelesen und rezensiert, kurz nach Abschluss meines Geschichtsstudiums. Und es hat mir ausgesprochen gut gefallen, selbst wenn es – wie angedeutet – ein paar Fallstricke zu bieten hat und damit Passagen, wo es sich der Autor doch ein wenig zu einfach gemacht hat. Das ist ebenfalls nicht singulär, ich kenne einen ähnlichen Effekt von Bernhard Kegels „Ölschieferskelett“, das ich einst aus genau dem Grund solcher Logikfehler verriss – weswegen diese Rezension wohl kaum den Weg in diesen Blog finden wird. Crichton hat jedoch jenseits dieser logischen Klippen einen packenden, durchaus empfehlenswerten Abenteuerroman mit Zeitreise-Zutat geschrieben.
Neugierig geworden? Dann lest mal weiter:
Timeline
(OT: Timeline)
von Michael Crichton
Goldmann 45122
Übersetzt von Klaus Berr
640 Seiten, 11.00 Euro
Januar 2002
Es ist schon eine vertrackte Sache mit Rekonstruktionen alter Ruinen. Wenn man als Historiker und Archäologe darauf angewiesen ist, Gebäude vergangener Jahrhunderte anhand unscharfer Auskünfte des darauf folgenden Jahrhunderts zu zeichnen und gegebenenfalls wieder zu errichten, dann ist das immer ein undankbarer Job, und jeder seriöse Historiker tut gut daran, nur soviel wieder aufzubauen, als man aus den Grundlagen und Ruinen auch wirklich herauslesen kann.
Dieses Problem stellt sich auch, als das Ausgrabungsteam von Professor Johnston in Frankreich Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in einem Tal entlang der Dordogne zwei Burgen, einen Klosterkomplex und eine alte Wassermühle ausgraben und im Auftrag ihres Geldgebers, des amerikanischen Hochtechnologiekonzerns ITC so wiederherstellen soll, dass damit eine detailgetreue Rekonstruktion ermöglicht wird. Die Arbeiten gehen mit typisch wissenschaftlicher Akribie vonstatten, aber Robert Doniger, genialer ITC-Gründer, will es schneller haben, er möchte Resultate. Das hängt in erster Linie mit neuen Sponsoren zusammen, die er für seine extrem teuren Forschungen benötigt.
Was indes keiner der Wissenschaftler ahnt, ist folgendes: Doniger ist über die Landschaft, in der die Archäologen tätig sind, und über das wirkliche Aussehen ihrer Zielobjekte, also der beiden Burgen, der dazugehörigen Städte und des Klosters sowie der Mühle viel besser im Klaren als die Historiker selbst. Professor Johnston erfährt das durch einen reinen Zufall, und sein Misstrauen erwacht.
Als der Anruf eines einfachen Polizisten aus einem Navajo-Reservat in Arizona zur Folge hat, dass über das Faxgerät ein Grundriss des Klosters von Sainte Mére das Archäologenteam erreicht, inklusive Gebäudeteile, die noch nicht mal von den Forschern ENTDECKT worden sind, da werden sie alle sehr stutzig. Der Professor verlangt Aufklärung und fliegt in die Staaten.
Und verschwindet.
Die Ausgrabungen gehen derweil weiter. Jedenfalls bis zum plötzlichen Einbrechen in unterirdische Gewölbe, die seit sechshundert Jahren von der Außenwelt abgeschnitten waren. Und hier entdecken die jungen Archäologen ein Manuskriptbündel aus dem Jahre 1357, was ein unglaublicher Glücksfund ist – und mitten darin steckt unerwartet eine Notiz des Professors, ebenfalls auf dieses Jahr datiert. Ein Hilferuf.
Zunächst glauben sie an einen Scherz, müssen sich aber rasch eines Besseren belehren lassen, als die ITC-Leute eine Gruppe von ihnen in die Staaten holen. Ihnen wird ohne größere Umschweife erklärt, es habe „Probleme“ gegeben. Probleme mit ihrem Chef, der „in die Welt eingedrungen“ sei.
Nach einer Weile dämmert den vier Wissenschaftlern die Ungeheuerlichkeit dessen, was hier eigentlich enthüllt wird: ITC besitzt seit einigen Jahren funktionierende Quantentransmitter, die es möglich machen, dass man Reisen in die Vergangenheit paralleler Welten machen kann. Das ist, streng genommen, keine Zeitreise, aber der Effekt ist derselbe. Plötzlich befindet man sich in der Realität des 14. Jahrhunderts und kann alles dort im Sichtbereich beobachten.
Solange man sich nahe der Maschine aufhält, die die Reise ermöglicht, kann eigentlich nichts passieren. Doch sobald man unerlaubt ihren Senderadius überschreitet, wird man Teil dieser Welt, und exakt das ist dem Professor widerfahren, der nun schon vier Tage dort verschollen ist und sich offenbar in Schwierigkeiten befindet.
Drei der Wissenschaftler werden zurückgeschickt ins Jahr 1357, unterstützt von zwei Ex-Marines, die die Bewachung übernehmen sollen. Doch einer der Marines kommt sofort zurück, einen Pfeil in der Brust… und die Vergangenheit erweist sich als so viel anders und gefährlicher, dass die Rettungsaktion schnell zu einem brutalen Kampf auf Leben und Tod wird. Und die Chancen schwinden immer rascher dahin, überhaupt jemanden aus der Vergangenheit lebend zurück zu erhalten…
Man kann dem inzwischen 60jährigen Michael Crichton vieles vorhalten, aber eines nicht: dass er es nicht verstehe, spannende Romane zu schreiben. „Timeline“, ein Buch, das schon lange auf meiner Suchliste stand, alleine der Thematik wegen, liest sich fast von selbst, es saugt den Leser, der ein wenig Ahnung von Zeitreise und von historischen Romanen hat, förmlich in sich ein. Und es lässt ihn nicht wieder los.
Die Art und Weise, wie er sich dem Problem des Zeitparadoxons stellt, das fast unvermeidlich kommt, ist interessant. Und es lässt schaudern. Diese Art von Quantentransmitter, so wird ausgeführt, ermöglicht es NICHT, Zeitreisen durchzuführen. Schlimmer noch: eigentlich müsste man in der Empfangswelt eine Empfangsstation haben, wenn das, was gesendet wird (Menschen) komprimiert und dann wieder rematerialisiert wird. Aber so läuft die Sache nicht.
Stattdessen wird der Reisende in der Herkunftswelt durch die Sendemaschine komplett vernichtet. Und aus einer sehr, sehr nahen Parallelwelt landet ein quasi identischer Reisender in der Vergangenheit – aus einer Parallelwelt, in der man herausgefunden hat, wie der Reisemechanismus in beide Richtungen funktioniert. Wofür Crichton am Ende des Romans keine Erklärung hat (und das lässt er damit geflissentlich unter den Tisch fallen), ist folgendes: weshalb kehrt dieser Reisende, der aus der anderen Parallelwelt stammt, nicht IN DIESE WELT ZURÜCK, SONDERN IN UNSERE? Das würde doch drüben signalisieren, dass der Transit schiefgegangen ist. Denn dort gäbe es dann keinerlei Rückreise.
Dies ist die logische Zwickmühle, die wohl so ziemlich jeder Leser einfach überlesen wird, weil die Story so schön spannend und kurzweilig erzählt wird. Es ist ja auch gar zu neckisch, zwischen metzelnden Rittern, intriganten Herzögen, Tennis spielenden und dem Sex frönenden Mönchen und unkeuschen Adelsdamen herumzuwandern und zu schauen, wie die „Zeitreisenden“ von einer Gefangenschaft in die nächste wandern, geprügelt und fast ertränkt werden, Pfeilen ausweichen, zischenden Schwertern, Beilen und ähnlich netten Dingen.
Dennoch gibt es diese unbestreitbaren technischen Schwierigkeiten. Und sie zeigen sich auch auf einem trivialeren Niveau: Auf Seite 63 wird die Stätte der Ausgrabung mit einem Hubschrauber überflogen, und an ihn montiert sind Protonenmagnetometer. Nun muss das niemand kennen, aber für den Laien sei folgendes erklärt: Ein Protonenmagnetometer sucht nach Anomalien im Erdmagnetfeld. Solche Anomalien sind beispielsweise Mauern, die unter der Erde liegen, Gräber usw. Insbesondere reagieren sie ausgezeichnet auf Metalle.
Da ist der Knackpunkt. Solche Geräte sind keine Science Fiction, sie werden heute schon verwendet, beispielsweise bei der Suche nach den Stadtteilen von Pi-Ramesse im Nildelta oder der Unterstadt von Troja. Aber diese Magnetometer werden auf hölzernen Karren von Menschenkraft gezogen, wobei niemand, weder das Fahrzeug, noch die ziehenden Menschen, auch nur irgendein Stück Metall am Leibe haben dürfen, da dies die Messungen verfälscht.
Crichton schert sich darum nicht und lässt das Ding von einem – garantiert sehr metallhaltigen – Hubschrauber durch die Gegend fliegen. Dass er damit keine Resultate erzielen dürfte, ist evident.
Doch ungeachtet dieser kleinen Unschärfen und Mogeleien ist der Roman sehr lesbar. Wenngleich ich mich jedoch an vielen Stellen irgendwie an das Catch-as-catch-can der Doc Savage-Romane oder der TIME TUNNEL-Filmepisoden erinnert fühlte. Crichton hat sehr viel Action in den Roman gebracht, ruhige Sequenzen findet man kaum, entsprechend atemlos liest sich das Buch dann auch.
Das wird natürlich durch den engen Handlungsrahmen von 37 Stunden bedingt, in dem alles stattzufinden hat. Warum diese zeitliche Begrenzung? Und was wohl „Transkriptionsfehler“ sein mögen, die es mir jetzt noch kalt den Rücken herunterlaufen lassen? Tja, lesen, Leute. Lesen…
© 2002 by Uwe Lammers
In der kommenden Woche landen wir dann wieder in einer ganz anderen Struktur von Roman. Wir verharren in der Gegenwart, reisen aber – gewissermaßen in der Manier von Clive Cussler und seinen Kollegen – in die Vergangenheit zurück, diesmal ohne Zeitreisegeräte zu benutzen. Es ist mehr ein archäologischer Thriller… den ich gleichwohl nach Lektüre und Rezension aus meinem Buchbestand aussortierte und ihn nicht für bewahrenswert einstufte.
Warum ich das tat?
Davon erfahrt ihr mehr in der nächsten Woche. Und wer weiß, vielleicht seid ihr danach ja auch der Ansicht, mein Urteil sei gar zu harsch ausgefallen. Die Geschmäcker sind definitiv verschieden… wer weiß also, vielleicht ist das dann genau die Kost, die ihr gern lesen würdet.
Lasst euch mal überraschen.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. dazu den Rezensions-Blog 42: Der große Eisenbahnraub (13. Januar 2016).