Rezensions-Blog 162: Zeitknick

Posted Mai 2nd, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Zeitreisen können tricky sein, das weiß wohl so ziemlich jeder belesene Phantast. Es gilt, Paradoxien zu vermeiden, und selbst wenn man sie verursacht, ich meine jetzt: absichtlich verursacht, erweist sich das Resultat durchaus nicht als so konsistent, wie sich der Manipulierende das üblicherweise vorgestellt hat. Die Zahl von Geschichten, in denen bei einer Reise in die Vergangenheit Dinge schief gehen, ist Legion, jeder von euch kennt solche verrückten Ge­schichten.

Nun, ich liebe Zeitreise-Geschichten. Sie treffen sowohl meinen Nerv als fakten­versessener Historiker wie meine neugierige Phantasie, die sich mit den Welten des „Was wäre, wenn…“ der Kontrafaktik auseinandersetzt. Grenzwertig wird es immer dann, wenn zu diesen beiden – nahezu unvermeidlichen – Zutaten einer klassischen Zeitreisegeschichte auch noch das Element des Grotesken hinzu­tritt. Das ist üblicherweise bei Zeitreiseromanen von Keith Laumer der Fall, und das kann mitunter heftig nach hinten losgehen.

Ein ähnlich ambivalenter Fall liegt mit dem Buch vor, das ich euch heute vorstel­len möchte. Die Zweitlektüre des (einst nicht rezensierten) Buches erfolgte 2015 und fiel etwas ernüchternd aus. Aber möglicherweise sehe ich die Dinge ja auch zu eng, und manch einer von euch mag so überdrehte Geschichten.

Wovon rede ich? Von Frank Mihaliks Ausflug auf die Weltausstellung des Jahres 1939, wo er sich unerwartet im Spinnennetz der Zeit selbst verheddert und nicht mehr wieder wegkommt. Wie das aussehen soll? Seht selbst:

Zeitknick

(OT: The Knick of Time)

von George Alec Effinger

Heyne 4720, 1990

288 Seiten, TB

Aus dem Amerikanischen von Isabella Bruckmaier

ISBN 3-453-04305-7

(nur noch antiquarisch erhältlich)

Zeit ist für uns ein steter Fluss, der von der Vergangenheit in die Zukunft strömt und auf dessen Verstreichen wir keinen Einfluss ausüben können. Aber das ist in phantastischen Romanen bisweilen anders, so auch in diesem. Wer unvoreinge­nommen in diesen Roman geworfen wird, hat einige Überraschungen zu erwar­ten. Und dabei fängt alles so unscheinbar und harmlos an…

Am 17. Februar 1996 gelingt Dr. Waters in New York ein sensationeller Durch­bruch – er schafft es, erstmals einen Menschen in der Zeit zurück zu versetzen. Der verwegene Pionier heißt Frank Mihalik, und er ist darauf eingestellt, einfach nur ein paar Stunden im Jahre 1939 auf der New Yorker Weltausstellung zuzu­bringen, ehe er dann erfolgreich in die Gegenwart zurückkehrt und Bericht er­statten kann. Erst danach kann daran gedacht werden, Zeitreisen in irgendeiner Weise kommerziell einzusetzen – beispielsweise als Ventil für eine vollkommen übervölkerte Erde, in der selbst in Amerika Raumnot und karge Lebensverhält­nisse herrschen. Allein an Süßwaren gibt es hier ein Überangebot, aber Süßig­keiten sind bekanntlich nicht alles.

Anfangs scheint alles glatt zu gehen. Frank erscheint tatsächlich an einem ab­gelegenen Ort der Weltausstellung des Jahres 1939, einem ruhigen Tag, den er durchaus genießen kann. Nur knurrt ihm bald der Magen, weil nicht an Proviant gedacht wurde, und sein Anzug hat nicht einmal Taschen, von Geld ganz zu schweigen.

Nun, es ist ja nur für ein paar Stunden. Denkt sich Frank.

Doch als der Transmissionsschock ihn schließlich erfasst, findet er sich durchaus nicht wieder im New York des Jahres 1996, sondern… auf der Weltausstellung von 1939. Und zwar exakt am gleichen Morgen, an dem er auch „gestern“ schon hier erschienen ist. Die Menschen folgen demselben „Programm“ wie am Vortag, bis in die Wortbeiträge hinein.

Der kurze Ausflug wird zum Alptraum.

Frank Mihalik muss bald begreifen, dass irgendetwas mit der Transmission grundlegend schief gegangen ist, denn er kommt mit penetranter Regelmäßig­keit wieder an denselben Tag zurück. Die Weltausstellung von 1939 ist eher ein Gefängnis als irgendetwas anderes, und sie scheint sich nie zu verändern. Er selbst kann keine Vorräte anlegen, alles, was er sich erwirbt, ist mit der nächs­ten Transmission unwiderruflich verschwunden, zurückgekehrt zum ursprüngli­chen Besitzer. Niemand auf der Ausstellung hat eine Erinnerung an „Gestern“, und selbst als der Zeitreisende seit Monaten an diesem einen Tag festsitzt, än­dert sich scheinbar überhaupt nichts. Nicht einmal eine Botschaft in die Zukunft kann er senden.

Als seine Kollegin Cheryl schließlich überraschend ebenfalls im „Zeitgefängnis“ von 1939 erscheint, haben sie das Gefühl, ein wenig Kontrolle über die Dinge zu gewinnen, doch diese Vorstellung ist trügerisch. In Wirklichkeit sind Frank und Cheryl längst in den Treibsand paralleler Zeitwelten geraten, und auch die Evakuierung in die Zukunft bringt ihnen schließlich keine Hilfe – weil es nämlich nicht „ihre“ Zukunft ist, sondern eine parallele, in der so etwas wie die „Agen­tur“ und das „Ewigkeitsministerium“ regieren, die die gezielte Deportation von Bevölkerungsüberschuss in die Vergangenheit zum Programm erhoben haben… und das ist leider alles erst der Anfang…

Zeitknick“ ist ein Roman, den ich im August 1990 kaufte und gleich nach Er­scheinen schier verschlang. Seltsamerweise verfasste ich damals keine Rezensi­on dieses Buches, und das kam mir so eigenartig vor, dass ich mir das Werk nach 25 Jahren noch einmal vornahm und es – wieder in wenigen Tagen – las, mit dem klaren Vorsatz der Rezension.

Nach der Lektüre wurde mir klar, warum ich damals keine Rezensionsabsicht gehegt hatte. Das Buch schwächelt nach anfänglicher Stärke recht bald und zieht sich dann zum durchweg unbefriedigenden Ende immer weiter in die Län­ge wie ein Kaugummi, der überdehnt wird und fad schmeckt. Ihn auf dem Cover mit den Worten „Ein kosmischer Slapstick durch Raum und Zeit, voll Witz, Hu­mor und satirischen Seitenhieben“ auszugeben, ist doch arg übertrieben (wie­wohl ich natürlich eingestehe, dass ich vielleicht nicht die entsprechende Bil­dung besaß, um die Seitenhiebe zu erkennen, aber das klingt doch nicht sehr realistisch).

Ich fand eigentlich bereits in dem Moment, wo die beiden Zeitreisenden im Reich der Königin Hesternia und des Königs Proximo landen, dass die Story lah­mer und immer zielloser wurde, und alle Anspielungen auf den „Wizard of Oz“ und die Smaragdstadt (heute verständlicher, weil ich L. Frank Baum zwischenzeitlich gelesen habe) machen die dünne Suppe von Story nicht viel schöner. Es ist deutlich zu spüren, dass Effingers Grundidee, die eigentlich eine Modifikation vieler Zeitreisegeschichten des lange verstorbenen Keith Laumer bzw. auch des Filmklassikers „Und täglich grüßt das Murmeltier“ darstellt, einer langfristigen, in sich geschlossenen Struktur ermangelt.

Vielleicht ist das ein grundsätzliches Manko solcher Romane, die auf eine Über­raschung eine noch überdrehtere, noch wildere Überraschung folgen lassen müssen, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Ich denke, der Roman wäre mit abwechslungsreicherem Personal, einer stringenteren Handlung und vielleicht auch Straffung deutlich besser geworden.

So kann ich ihn nur für ausgesprochene Fans von Zeitreisegeschichten empfeh­len.

© 2015 by Uwe Lammers

Ein ernüchterndes Fazit? Nun ja… ich sagte ja nicht, dass ich ausschließlich Wer­ke empfehle, die ich rundum gelungen fand. Manche liegen auch in einem sol­chen Zwischenbereich des „Schwächelnden“, die dann vielleicht gerade noch nach dem Schulnotensystem mit einer 3- davonkommen würden. Gemessen freilich stets an meinem Qualitäts-Wertsystem. Da ich für Satiren ohnehin nur bedingt etwas übrig habe, mögen Freunde humoristischer SF den obigen Ro­man vielleicht begeistert goutieren.

In der kommenden Woche kehren wir in den Parallelkosmos von Clive Cussler zurück und kümmern uns nach dem Rezensions-Blog 151 um das zweite Abenteuer der OREGON-Crew. Diesmal geht es um ein höchst problematisches religiöses Artefakt, und ich behaupte mal, dass heutzutage in Zeiten des „Krie­ges gegen den Terror“ wohl kaum ein Verlag so bereitwillig ein Buch verlegen würde, das sich so weit aus dem Fenster lehnt.

Was das bedeuten soll? Nun, das zu kontrollieren überlasse ich euch in der kommenden Woche. Tatsache bleibt, dass es ein höchst interessantes Werk ist, das – wie schon „Der goldene Buddha“ mit einer ganzen Reihe von Überra­schungen aufwartete.

Lasst euch überraschen, Freunde.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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