Liebe Freunde des OSM,
wer meinem Blog schon länger gefolgt ist und sich Woche für Woche Bücher empfehlen lässt, die ich mal mehr, mal etwas kritischer empfehle, der weiß, dass ich mich mit solchen Termini wie „Helden“ oder „Klassiker“ schwer tue. Es gibt fraglos solche Dinge, das zu bestreiten wäre töricht. Aber ich setze doch solche Bezeichnungen nur sehr sparsam ein, weil das der Realität entspricht: derlei Dinge sind selten, und sie inflationär zu benutzen, wie es etwa leichtsinnige Journalisten aus Gründen der Popularisierung tun, hieße, sie letzten Endes zu entwerten.
Nein, da sind mir kritische, vorsichtige Worte doch sehr viel lieber. Sie erzeugen keine übertriebenen Erwartungen, schüren keine Hoffnungen, die die Lektüre der besprochenen Bücher dann nicht zu halten vermag.
Nun, das gilt für die Majorität der von mir vorgestellten Werke, zugegeben. Mit dem Buch, das ich euch heute wärmstens ans Herz legen möchte, ist das ein wenig anders. Es wird „Klassiker der Science Fiction“ genannt, und ich bin mehr als geneigt, nachdem ich es selbst endlich gelesen habe, dieser Einschätzung voll und ganz zuzustimmen.
Sehr gute Bücher, die es wert sind, Klassiker genannt zu werden, sind in allen Literatursparten rar, aber das folgende, das uns auf einen exotisch-fremdartigen Planeten Mars eines offenkundigen Paralleluniversums mit einer alternativen Zeitlinie entführt, gehört zweifelsohne dazu. Wer das Staunen auch in hohem Alter nicht verlernt hat und bislang an diesem Buch ahnungslos vorbeigegangen sein sollte, der lese unbedingt weiter. Und wer es kennt und schätzt, wird vielleicht auch bereit sein, meinen faszinierten Ausführungen zuzustimmen.
Vorhang auf für:
Die Mars-Chroniken
(OT: The Martian Chronicles)
Von Ray Bradbury
Heyne 3410, München 1974
(ursprünglich entstanden 1946-58)
240 Seiten, TB
Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Jeschke
ISBN 3-453-3280-X
Es ist der Januar des Jahres 1999 – Raketensommer. Die Menschen schauen gen Himmel und sehen den Feuerschweif eines Sternenschiffs, das zum Himmel aufsteigt. Es geht zur nächsten Grenze, hinauf zum roten Planeten Mars! Aufbruch der Menschheit!
So wenigstens beginnt Ray Bradburys legendärer Episodenroman „Die Mars-Chroniken“, der wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und dem nuklearen Inferno von Hiroshima und Nagasaki, inmitten der beginnenden Wirren des Kalten Krieges, eine Vision der Zukunft ausmalt und uns den nächsten Sonnensystem-Planeten Mars als Sehnsuchtsziel und Auswanderungsort imaginiert. Und ja, man muss von Imaginieren sprechen, denn mit dem realen Mars hat die Welt, die uns Ray Bradbury in diesem Werk vorstellt, nicht allzu viel gemein – seid darum nicht enttäuscht, liebe Naturwissenschaftler und Astronomen und versierten Laien, die ihr euch an die Bildaufzeichnungen von „Opportunity“ aus den staubigen, eisigen roten Marswüsten gewöhnt habt.
Lasst euch von Ray Bradburys Mars singen, einer Fabelwelt voller Überraschungen, Tragik und Melancholie, wie er sie sich vor über sechzig Jahren erträumte und mit Leben füllte.
Der Mars ist bei Bradbury eine alte Welt. Alt und weise – Heimstatt einer sanftmütigen Alienspezies, die uns physisch sehr ähnlich ist und doch völlig anders. Eine Welt erschließt sich hier, voller fremdartiger, prächtiger Städte, aufgereiht wie Perlen auf einer Kette entlang der alten Marskanäle, und ihr Alter zählt nach Jahrtausenden. Kunst und Literatur stehen in hoher Blüte, niedergeschrieben auf Büchern mit metallenen Seiten, vorgetragen in Theaterstücken unter dem nächtlichen Sternenhimmel, an dem ein funkelnder, naher Stern steht, bläulich schillernd – die Erde.
Natürlich, vom Mars aus sieht die Welt anders aus, aber ich betonte schon, dies ist nicht unser Mars. Hier ist die Erde dem Mars physisch und ideell sehr nahe, was ja auch die Flugzeit zum Mars so sehr verkürzt, dass die erste Marsexpedition schon im Februar 1999 dort landet… vorhergesehen von einer Marsianerin namens Ylla, die zugleich auch das Verhängnis für diese Reisenden darstellt. Die erste Expedition scheitert.
Im August 1999 landet die zweite Expedition, personell größer als die erste. Sie kommen tatsächlich in Kontakt mit den Marsianern und wollen eigentlich nur freundlich begrüßt werden… stattdessen hält man sie für Halluzinationen und bereitet ihnen ein grässliches Ende.
Offensichtlich sind beide Seiten nicht bereit für einen Erstkontakt. Doch der hat leider schon längst stattgefunden, wie nach dem Scheitern auch der dritten Expedition im April 2000 schließlich die nächste Gruppe von Reisenden im Juni 2001 entdecken muss – durch Mikroorganismen nämlich, die die schutzlosen Marsianer in Massen dahinrafft. Eine Parallele zu H. G. Wells´ „Krieg der Welten“ ist nicht zu leugnen, selbst wenn diese Marsianer nicht wirklich feindselig sind, sondern allein zu ihrem Selbstschutz die frühen Expeditionsgruppen auslöschten.
Im Sommer 2001 beginnt dann die erste Kolonisationswelle aus den Tiefen des Weltraums. Die nahezu ausschließlich amerikanischen Siedler – auf den anderen Kontinenten der Erde toben bereits erbitterte Kriege, über deren Natur sich Bradbury ausschweigt, wir können uns hier aber durchaus Rohstoffkriege vorstellen – finden eine stille Welt vor, voll von rätselhaften, leeren Städten, staubiger Pracht und voller verwitterter marsianischer Leichen, die sie erst einmal entsorgen müssen, ehe sie hier heimisch werden (hier streift uns der unheimliche Hauch des Holocaust, und fraglos nicht zufällig!).
Doch werden sie heimisch? Auf einer Welt wie dieser? Wieso nicht, fragt sich Benjamin Driscoll, der von der Vision besessen ist, den kargen Mars ergrünen zu lassen, auf dass er mehr Sauerstoff zum Atmen bekommt. Und tatsächlich gelingt ihm dieses Zauberkunststück buchstäblich über Nacht… naturwissenschaftlich absurd, freilich, und auch die sehr fruchtbaren Böden des Mars, ihre wundertätige Wachstumskraft und die konstanten Regenfälle widersprechen unserem Bild des Mars fundamental.
Doch noch einmal: dies ist nicht unser Mars, es ist der Mars, den sich Bradbury in den späten 40er Jahren und frühen 50er Jahren in seinen Geschichten erträumte und später durch weitere Verbindungsstücke und eine nachträgliche Datierung der einzelnen Erzählungen zu einem Roman in Erzählungen zusammenfügte.
Die menschliche Besiedelung des Mars stellt indes nur eine temporäre Angelegenheit dar – denn als auf der Erde ein Nuklearkrieg ausbricht und „jedermann gebraucht wird“ (bei einem Nuklearkrieg eher eine fragwürdige Reaktion, aber Bradbury braucht einen Grund für seine Handlungsweise), setzt eine Remigrationswelle der Kolonisten ein. Am Ende sind die von den Erdenmenschen zusammengezimmerten Frontiersiedlungen ähnlich verlassen wie diejenigen der ausgestorbenen, sanftmütigen und paramental begabten Marsianer… abgesehen von einigen Individuen, die aus unterschiedlichsten Gründen den Mars als Siedlungsgrund vorgezogen haben…
„Die Mars-Chroniken“ ist ein phantastisches Leseabenteuer für Menschen, die Ray Bradbury schätzen und die gern naturwissenschaftlich den Boden unter den Füßen verlieren wollen. Für jene Leser, die der reale Mars enttäuscht und die sich lieber an Edgar Rice Burroughs und ähnliche Autoren des Pulp-Zeitalters halten, ist Bradburys vorliegendes Werk ganz die rechte Kost. Natürlich mag man sagen, es sei albern, sich vorzustellen, dass von der Erde zum Mars ganze Raumschiffsladungen Bauholz zu den Sternen geflogen werden (redet mal mit den Leuten der NASA über die Nutzlastkosten! Da könnte man die Gebäude auf dem Mars auch gleich aus Diamant bauen!). Man mag sich über die fruchtbaren Böden des Mars amüsieren oder über die heißen Sommertage, die es dort effektiv nicht gibt. Dass es Marskanäle und reichlich Wasser gibt, das in Brunnen sprudelt, selbst als die Marsianer längst ausgestorben sind… nette Visionen ohne Realitätsgehalt. Aber darum geht es nicht wirklich. Das sind Oberflächlichkeiten.
Es geht um die tieferen Aussagen in diesem Buch. Darum etwa, dass Bradbury mit dem stillen Genozid an den Marsianern unverhohlen an die Quasi-Ausrottung der nordamerikanischen Indianer durch die Siedler erinnert und beides für unrecht erklärt. Darum beispielsweise, dass er die kulturelle Barbarei der Erdsiedler dem hohen Kulturniveau der Alteingesessenen gegenüberstellt und traurig demonstriert, wie rücksichtslos und instinktlos doch die rohen „Barbaren“ von der Erde sind, wie sie gleich Elefanten im Porzellanladen unsensibel ihren eigenen Lifestyle durchsetzen wollen. Würstchenbuden. Hölzerne Frontier-Städte. Lautes Marodieren durch die leeren Marsianerstädte… peinlich, um das Wenigste zu sagen.
So, sagt der Autor, so tretet ihr draußen in Erscheinung, ihr, die feinen amerikanischen Gutmenschen. Und damit meint er eigentlich nicht den Mars, sondern er spiegelt das durchaus auf die reale Welt der 50er Jahre… mit Recht, wie ich finde. Zugleich verschweigt er nicht, dass im Innern das Denken stehengeblieben ist, nämlich etwa im Süden der USA im Zeitalter des Rassismus („Juni 2003: Mit dem Kopf in den Wolken“).
Und was bleibt am Ende, wenn die marsianische Kultur, die Jahrtausende überdauerte, in Rekordzeit ausgelöscht worden ist? Staubige Ruinen auf dem Mars… ja. Aber wie sieht es auf der Erde aus? Da lehrt er uns das Grauen in einer der letzten Geschichten: „August 2026: Es werden kommen leise Regen“… mit einem automatischen Luxushaus inmitten einer radioaktiv verseuchten Schuttwüste, die einstmals die Stadt Allendale, Kalifornien, war.
Seht, sagt Bradbury, der Mensch ist nicht nur außerstande, das Fremde zu akzeptieren und mit dem Fremden und den Fremden zusammen eine Koexistenz einzugehen, sondern er ist so egozentrisch und destruktiv, dass er zugleich in seiner Dummheit alles auslöscht, was das Leben lebenswert macht, sich selbst eingeschlossen. Und so bleibt am Schluss wirklich nur, wie in der Bibel, der Neuanfang in kleinstem Kreise.
„Die Mars-Chroniken“ ist ungeachtet seines Alters ein äußerst nachdenkliches, über weite Strecken hin melancholisches Buch, das tiefe philosophische Gedanken und Reflexionen enthält. Wer genau liest, findet hier übrigens auch den Geschichtenkeim von Bradburys 1953 veröffentlichtem Roman „Fahrenheit 451“ schon angelegt. Und wer bereit ist, über die naiven naturwissenschaftlichen Prämissen hinwegzugehen, die der Prüfung durch die Fakten der Gegenwart nicht standhalten können, wird in „Die Mars-Chroniken“ zudem einen magischen Roman vorfinden, der mit Recht als Klassiker der Science Fiction gilt.
Schade, dass es mehr als 25 Jahre dauerte, bis ich ihn zur Hand nahm… und dann in fünf Tagen buchstäblich verschlang, weil er mich so fesselte. Kann man etwas Schöneres über ein altes Buch sagen?
Wenn ihr es nicht kennt – sucht danach und lest es. Es lohnt sich!
© 2016 by Uwe Lammers
Schwärmerisch, gell? Fürwahr, das ist diese Rezension, die noch nicht mal zwei Jahre alt ist… aber ich versichere euch, dieses Buch ist ungeachtet seines Alters diese Schwärmereien mehr als wert. Eine echte Perle der Science Fiction, die leider viel zu dünn ausfällt (gute Bücher sind wirklich IMMER zu kurz! Sniff!) und deshalb viel zu schnell vorbei ist.
Da hilft es wohl nur, das nächste Buch aus dem Regal zu ziehen. Was haben wir denn da vor uns…? Eine weitere Reise, und sie führt uns am kommenden Mittwoch auf die Weltausstellung von 1939. Aber Vorsicht, es ist eine Kost mit Problemen.
Neugierig geworden? Dann schaut wieder rein, Freunde.
Bis nächsten Mittwoch.
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.