Rezensions-Blog 122: Ungewöhnliche Menschen

Posted Juli 25th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ungewöhnliche Menschen… das klingt nach einem relativ unspektakulären Titel für ein Buch, nicht wahr? Ungewöhnliche Menschen, die kennt wohl jeder von uns: Arbeitskollegen, die uns durch ihr Verhalten verwirren; Verkäufer, die mehr sich selbst anpreisen als ihre Waren; Schauspieler, die häufiger durch Exzesse auffallen als durch ihren Beruf… natürlich stimmt das. Aber darum geht es hier nicht.

Worum dann? Nun, wenn man einem Altmeister der Historie, Eric Hobsbawm (der leider inzwischen auch, hoch betagt, von uns gegangen ist, ehe diese Re­zension euch zugänglich gemacht werden konnte), bei seinen zahlreichen kenntnisreichen Aufsätzen lauscht respektive sie sich langsam lesend einver­leibt, dann tut man gut daran, sich auf Überraschungen einzustellen. Hobsbawm, Brite durch und durch und Marxist durch und durch, war sich nie zu schade, ernste Kritik an ideologischen Strukturen zu üben, und das schimmert hier überall durch. Deshalb ist das auch ein faszinierendes Spektrum seiner breit angelegten Interessen, das ich euch heute präsentieren möchte. Vielleicht reizen manche seiner Themen dazu, sich mit seinen zahlreichen weiteren Wer­ken zu befassen, die uns erhalten bleiben, während er von uns gegangen ist.

Ich habe diese Rezension schon vor langer Zeit geschrieben, aber immer noch nehme ich den voluminösen schwarzen dtv-Band gern in die Hand und lese dar­in hin und wieder nach. Ganz zu schweigen davon, dass es noch zahlreiche sei­ner Werke gibt, die mir zwar schon zur Verfügung stehen, für deren Lektüre es mir bislang aber noch an Zeit ermangelte.

Wer Hobsbawm kennen lernen möchte – und es lohnt sich wirklich sehr, ver­sprochen! – , der hat hier eine ideale Möglichkeit. Folgt mir in das Abenteuer dieses schönen Sammelbandes und lasst euch mehr und mehr verblüffen:

Ungewöhnliche Menschen

von Eric Hobsbawm

Untertitel: Über Widerstand, Rebellion und Jazz

dtv 30873, 424 Seiten

Februar 2003, 16.00 Euro

Übersetzt von Thorsten Schmidt

– Thomas Paine war ein gemäßigter Revolutionär, eine Gestalt, die eigentlich ein Widerspruch in sich war, weil eine Revolution nun einmal immer etwas Gewalttätiges, Umstürzlerisches ist. Aber ein einziger Blick auf Thomas Paines politisches Programm reicht aus, um Stirnrunzeln hervorzurufen: sein Ziel war nichts Geringeres als „allgemeiner Friede, Zivilisation und Handel“…

– Im frühen 19. Jahrhundert existierte in England eine legendäre Bewegung, die man als Ludditen bezeichnete. Meist agrarisch geprägt, zeichneten sie sich da­durch aus, dass sie etwa mechanische Webstühle zerstörten. Kritiker diffamier­ten sie später gerne als „Maschinenstürmer“.1 Aber manche verbündeten sich auch mit Industriellen, um deren Konkurrenten zu vernichten. Seltsam…

– Der Schuhmacher gilt allgemein den Historikern der Neuzeit als Revolutionär par excellence. In allen Rebellionen und Aufständen marschiert er in vorderster Front, soviel ist sicher. Aber warum? Und wie kann es sein, dass sich jemand später dankbar an seinen Schuhmacher erinnert als an „einen ehrbaren alten Mann, der, als ich Kind war, meine Schuhe und meinen Geist ausbesserte…“?

– Wenn in einem agrarisch beherrschten, meist von Analphabeten bevölkerten Land Lateinamerikas die Bauern einen Aufstand durchführen und Ländereien ausgedehnter Latifundien besetzen, wenn ferner sich eine marxistische Bewe­gung in diesem Land etabliert hat, dann geht man üblicherweise von einem kausalen Zusammenhang aus. Dann ist die Verwirrung groß, wenn der Leser verdattert feststellen muss, dass die Marxisten von bäuerlichen Landbesetzun­gen erstens kaum eine Ahnung und zweitens mit ihnen auch nichts zu tun ha­ben. Und dann greifen diese analphabetischen Bauern auch noch auf gesetzlich verbriefte Rechte aus der Zeit der spanischen Herrschaft zurück und weisen Ur­kunden vor, die bis 1607 zurückdatieren. Irgendetwas, merkt man rasch, ist hier ganz eigentümlich anders als angenommen…

– Der Bandit Turiddu Giuliano und Mario Puzos Roman „Der Sizilianer“ haben ei­niges miteinander gemeinsam. Während Giuliano sich allerdings als eine Art von „Robin Hood“ verstand und Mario Puzo ihn in seinem Roman so darstellt, war der reale Giuliano (1922-1950) hierfür ausgesprochen ungeeignet, schließ­lich richtete er unter Kommunisten auf Sizilien ein Blutbad an. Um es mit den Worten des Autors zu sagen: „So war er (Giuliano) in der Tat ein Robin Hood, wie ein amerikanischer Journalist in einem Interview mit ihm sagte – ein guter Junge, ein wackerer Kerl, der nur einen Fehler hatte (der sich allerdings schlecht mit dem Klischee des „edlen Banditen“ verträgt): Er brachte gern Menschen um. Vierhundertdreißig, um genau zu sein, im Verlauf seiner Karriere.“

Und der Leser runzelt die Stirn.

Es gibt eine Menge in diesem Buch, über das man die Stirn runzeln, ungläubig kichern und staunen kann. Manches ist auch durchweg beängstigend, etwa, wenn Hobsbawm schon 1965 konstatiert, dass der Krieg, den die USA in Viet­nam führen, nicht zu gewinnen ist und er aus rein strukturellen Erwägungen nur bis zu jenem Punkt geführt werden kann, wo Amerika sich ohne starken Ge­sichtsverlust aus dem Land zurückziehen kann (was 1975 dann geschah).

Dem Leser läuft es kalt den Rücken herunter, wenn er über „die Regeln der Gewalt“ (geschrieben 1969!) Dinge zu lesen bekommt, die auch für den Afghanistan- und Irakkrieg der Gegenwart gelten könnten.

Und ferner lernt der neugierige Leser bizarre Gestalten kennen, und eigentümli­che Verknüpfungen, die nicht unbedingt nahe liegend sind. So geht es etwa dar­um, die Verbreitung von Arbeitertraditionen nachzuskizzieren, indem die Ver­breitung von Fish- & Chips-Buden in England betrachtet werden oder auch der Ausbau von Seebädern. Man lernt etwas über viktorianische Werte und über die Frage, weshalb sich ausgerechnet kommunistische Agitatoren gerne auf Plakaten zum 1. Mai und anderen sozialistischen Feiertagen mit antiken Göttin­nen zu schmücken begannen (was nicht so ganz nahe liegend ist, um es behut­sam zu formulieren).

Schließlich beschäftigt sich Eric Hobsbawm auch noch mit der Entwicklung des Jazz, eines Themas, das man bei Historikern eigentlich nicht vermutet. Wer im­mer sich hier ein wenig auskennt – ich gestehe, ich bin Laie – , dem werden die Namen Count Basie, Duke Ellington, Louis Armstrong, Sidney Bechet oder Billie Holiday gewiss einiges sagen. Mit ihnen lässt sich hier ein Wiedersehen feiern, manchmal freilich mit Magengrimmen. Und man lernt zugleich eine Menge über Rassenschranken, die gesellschaftliche Schichtung in England, den USA und Europa seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg.

Ungewöhnliche Menschen“ ist ein Buch, das von der Struktur wie von der Ziel­richtung her ziemlich aus dem Rahmen dessen fällt, was man normalerweise in der Schule als „Geschichte“ beigebracht bekommt. Es handelt von Alltagsge­schichte, von Mentalitätsgeschichte. Oder, wie Hobsbawm selbst einleitend sagt: „Dieses Buch handelt von Menschen, deren Namen gewöhnlich niemand kennt, ausgenommen ihre eigenen Familien und Nachbarn und in modernen Staaten die Melde- und Standesämter… im Zeitalter der modernen Medien ha­ben Musik und Sport einige wenige von ihnen ins Rampenlicht gerückt. Sie wä­ren in früheren Zeiten anonym geblieben. Sie machen den Großteil der Mensch­heit aus.

Und er fährt fort: „Es geht mir also darum zu verdeutlichen, dass diese Frauen und Männer, wenn nicht als einzelne, so doch in ihrer Gesamtheit bedeutende Akteure der Geschichte sind. Wie sie handeln und was sie denken, ist von Be­deutung. Es kann und hat bereits die Kultur und den Gang der Geschichte verän­dert, und dies niemals mehr als im 20. Jahrhundert…“

Eric Hobsbawm, 1917 in Alexandria in Ägypten geboren, in Wien und Berlin auf­gewachsen und 1933 nach London emigriert, lehrte lange an verschiedenen Universitäten, gilt als ausgewiesene Koryphäe im Bereich der Alltagsgeschichte, insbesondere, was Arbeitergeschichte und Sozialismusforschung angeht. Er hat zahlreiche Werke über Arbeiterkultur vorgelegt, über Analysen der sozialis­tischen Bewegung, ohne jedoch, und das ist wichtig, deshalb in den Fehler mancher doktrinärer Sozialisten verfallen zu sein. Er ist wohltuend kritisch ge­blieben, und das merkt man an vielen Aufsätzen dieses Buches.

Die sechsundzwanzig Aufsätze sind in den Jahren zwischen 1950 und der Mitte der 1990er Jahre entstanden, teils handelt es sich um Rezensionen oder Vorstu­dien für seine Bücher (wie etwa „Sozialrebellen“). Die Mischung liest sich infol­gedessen ausgesprochen gut, denn wo immer möglich bemüht Hobsbawm un­konventionelle Blickwinkel, kritisiert „heilige“ Gegenstände oder widerlegt einfach gängige Thesen, indem er sie gleichsam maulwurfartig untergräbt. So gelangt er zu neuen Sichtweisen, die das Verständnis für Geschichte und für die Zusammenhänge herstellen, die vorher durch ideologische Verengung (nicht selten marxistische Ideologisierung!) verbaut blieben.

Wer immer sich ein neues Interesse für Geschichte aufbauen möchte, wer et­was über Jazzidole nachlesen möchte (Hobsbawm ist seit seinem 16. Lebens­jahr Jazzfan, wie er bekennt; dennoch wird er hier nicht glorifizierend) oder einfach nur sonst gesichtslose Menschen aus der Geschichte kennen lernen will, etwa den Schurken Roy Cohn, der hat hier einen guten ersten Zugang gewählt. Hobsbawm schreibt sehr lesbar, manchmal mit spürbarer Ironie2, der Übersetzer ist ausgezeichnet und die Themen der Artikel sind sehr abwechs­lungsreich. Die wenigen Längen, die es dennoch gibt, verzeiht der neugierige Leser rasch.

Kluges, sinnvolles Lesefutter für Menschen, die auch beim Bücherlesen noch et­was lernen möchten. Hier ist es realisierbar.

© 2004 by Uwe Lammers

Neugierig geworden? Das hoffe ich doch sehr – gerade der undogmatische Standpunkt, den Hobsbawm einnimmt, ist ausgesprochen erfrischend und nütz­lich für weitere, vertiefende Eigenrecherchen auf dem historischen Feld. Ich glaube, gerade in heutigen Zeiten, in denen das Schlagwort des „postfaktischen Zeitalters“ umgeht wie ein modernes Gespenst, in der scheinbar mehr das Bauchgefühl über die Tatsachen zu triumphieren scheint (in meinen Augen ein ernstes Problem, das schlimme Folgeprobleme nach sich zieht, und die Wahl von Donald Trump Ende 2016 war nur eins davon), ist es wichtig, solche quasi zeitlosen Werke zu lesen. Um zu wissen, wo die Geschichtswissenschaft vor dem „postfaktischen Zeitalter“ schon angekommen war. Um zu verstehen, dass das, was heutzutage als Fortschritt ausgegeben wird, in Wahrheit ein Rückschritt ist. Hobsbawm kann uns hier als faktenbasierter Leuchtturm dienen, und dieses Hilfsangebot sollten wir nicht ausschlagen.

In der kommenden Woche weiche ich mal ein wenig von meinem Kurs ab, der ja darin besteht, gute Bücher vorzustellen. Da muss ich in den sauren Apfel bei­ßen und der Vollständigkeit halber eins vorstellen, das mir gar nicht gefallen hat. Warum und weshalb das dennoch nötig ist, dazu etwas an dieser Stelle zu sagen, erfahrt ihr in einer Woche.

Bis dann, meine Freunde!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Ich selbst begegnete den Ludditen erstmals in dem SF-Roman „Die DifferenzMaschine“ von William Gibson und Bruce Sterling (Heyne 4860), der in einer Parallelwelt spielt, in der 1855 das von Dampfmaschinen und Lochkartensystemen angetriebene Computerzeitalter beginnt. Der Roman wurde im Jahr 2000 für den SFC UNIVERSUM rezensiert.

2 Unvergesslich ist für mich der kleine Seitenhieb auf Mario Puzo, wenn Hobsbawm über den Roman „Der Sizilianer“ schreibt: „Er (Giuliano) arbeitet in einem Umfeld, das einer Reisekatalog-Idylle gleicht und das von dem Künstler, der die Vorbesprechung des Romans im Playboy bebilderte, angemessen rekonstruiert wurde: Meer, Sonne, Vegetation, Hügel mit den Ruinen griechischer Tempel und Tafeln voller Gerichte, die sizilianische Bauern zweifellos als nicht ethnische Gaumenfreuden würdigen könnten. (Der Stil des Autors wird merklich lebendiger, wenn er Nahrungsmittel beschreibt.)“ Köstlich!

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