Rezensions-Blog 101: Längengrad

Posted März 1st, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute mache ich euch mal mit einem echten Genussbuch vertraut, das für je­den neugierigen Geist – mag er nun Wissenschaftsgeschichte mögen oder Bio­grafien schätzen bzw. das 17. und 18. Jahrhundert – eine Bereicherung darstellt. Mir fiel dieses Buch vor mehr als zwölf Jahren in die Hände und wurde, was wirklich selten bei mir ist, quasi sofort verschlungen.

Ein tolles Werk, sehr lesenswert und packend, voller Überraschungen, schillern­der und meist sehr berühmter Persönlichkeiten… und dann mitten darin eine exzentrische Persönlichkeit namens John Harrison, der sich Anfang des 18. Jahr­hunderts an ein scheinbar unlösbares Problem wagte und sich in ein Abenteuer stürzte, wie er es sich selbst wohl kaum vorgestellt hätte.

Vorhang auf für ein tolles Werk:

Längengrad

oder: Die wahre Geschichte eines einsamen Genies,

welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste

(OT: Longitude)

von Dava Sobel

btb 72882, 7.50 Euro

Sonderausgabe Oktober 2001

Aus dem Amerikanischen von Mathias Fienbork

Wenn ich in spielerischer Laune bin, mache ich mir aus Längen- und Breiten­graden ein Netz und fange damit im Atlantischen Ozean Wale.“ Das schrieb Mark Twain in Leben auf dem Mississippi.

Nur ein schrulliger Scherz, der die Leser zum Kichern bringen sollte? Ja, einer mit einem makabren Schatten in der Realität, gepflastert mit Leichen, die die Wissenschaftsjournalistin Dava Sobel „Märtyrer des Längengrads“ nennt. Als Twain seine Geschichte schrieb, war das Längengradproblem längst aus dem Blickfeld entrückt, die Welt surrte voller Schiffschronometer, und allenfalls, wer etwas ewig gestrig war, schaute noch auf zum Mond und mühte sich mit den Mondtabellen von Reverend Nevil Maskelyne ab. Aber dies war die Gegenwart. Die Vergangenheit sah ganz anders aus.

Etwa so:

Nach siegreichen Gefechten mit der französischen Mittelmeerflotte war Admi­ral Sir Clowdisley Shovell von Gibraltar aus zur Heimreise aufgebrochen, aber die schweren Herbstnebel waren nicht so leicht zu schlagen. Voller Sorge, seine Schiffe könnten auf Felsenriffe laufen, befahl der Admiral all seinen Navigati­onsoffizieren, die Köpfe zusammenzustecken.

Nach übereinstimmender Meinung befand sich die Flotte vor der Bretagne … Also hielt man weiter nördlichen Kurs, doch dann stellten die Seeleute zu ihrem Schrecken fest, dass sie ihre Position in Bezug auf die Scilly-Inseln falsch berech­net hatten. Diese Inselgruppe, etwa zwanzig Meilen vor der Südwestspitze Eng­lands, führt wie ein steinerner Pfad auf Land’s End zu. Und in der nebligen Nacht des 22. Oktober 1707 wurden die Scillys zum namenlosen Grab für zwei­tausend von Admiral Shovells Marinesoldaten.“

Dies war keineswegs die erste und auch nicht die letzte Tragödie, die sich ereig­nete, weil Seeleute seit ewigen Zeiten ein grundlegendes Problem hatten: sie konnten ihre Position nicht mehr korrekt bestimmen, sobald sie den Kontakt mit dem Land verloren hatten.

Wohl war es gut machbar, nach Breitengraden zu segeln und dies auch leidlich genau, doch wie weit war man von der Heimat entfernt? Wie nah an der nächs­ten Küste? Was, wenn Flauten oder Stürme die Durchschnittswerte, an denen sich die Nautiker orientierten, durcheinander brachten, wenn Messfehler nach Sonnenstand oder den nächtlichen Gestirnen Abweichungen erzeugten?

Dann war guter Rat teuer, und häufig kündigte solche Ratlosigkeit Katastrophen an. Zahllose Mannschaften verhungerten und verdursteten, gingen kläglich an Skorbut ein oder zerschellten an Klippen, die scheinbar „aus dem Nichts“ dort auftauchten, wo eigentlich den Berechnungen zufolge Meer sein sollte.

Bereits im 16. Jahrhundert begannen Wissenschaftler, Seeleute und Regierun­gen, Verfahren zu ersinnen, die Abhilfe schaffen sollten, zum Teil recht kuriose, zum Teil solche, die ihrer Zeit weit voraus waren und sich beim besten Willen technisch nicht realisieren ließen. So ersannen zwei Briten etwa den grandiosen Plan, den Ozean mit Signalschiffen etwa im Abstand von 90 Meilen zu bede­cken. Diese sollten, so der Plan weiter, dann jeden Tag um Mitternacht eine Leuchtkugel und einen Kanonenschuss abfeuern. An der Distanz der Klänge soll­ten Seeleute sicher über die Meere geleitet werden.

Ein anderer Vorschlag, der allen Ernstes ersonnen wurde, bediente sich des so genannten „Pulvers der Sympathie“, der Vorschlag wurde auch „Hunde-Theorie“ genannt. Sie kam im Jahre 1687 auf. Der schneidige Sir Kenelm Digby hatte die­ses Pulver entdeckt und behauptete, es entfalte seine Wirkung auch auf große Distanzen. Man musste es dafür auf einen Gegenstand des Kranken auftragen. Bedauerlicherweise rief die Berührung des Pulvers mit der Wunde infernalische Schmerzen hervor.

Digbys Plan beschreibt Sobel wie folgt: „Der Gedanke, dieses Zauberpulver auf das Längengradproblem anzuwenden, ergibt sich für einen aufgeschlossenen Geist von selbst. Man bringt einen verletzten Hund an Bord eines Schiffes, das in See sticht. Einer vertrauenswürdigen Person, die an Land zurückbleibt, wird be­auftragt, jeden Tag um 12 Uhr den Verband des Hundes in die Sympathie-Lö­sung zu tauchen. Der Hund wird daraufhin vor Schmerz aufjaulen und auf diese Weise dem Kapitän das Zeitsignal geben. Das Jaulen bedeutet: ‚Die Sonne steht in London im Zenit.’“

Natürlich sagt man heute: schiere Quacksalberei. Damals jedoch wurden solche und noch abenteuerlichere Vorschläge angesichts immer größerer Verzweiflung ernsthaft erwogen. Es nimmt nicht wunder, zu erfahren, dass etwa Jonathan Swift, der scharfzüngige Satiriker, die Längengradberechnung in eine Reihe mit der Erfindung eines Perpetuum mobile stellte, also kurzum für unmöglich er­klärte.

Die ernsthafteste Methode war jene, die die Monddistanzen ermittelte. Nur be­durfte es dafür erst einmal einer genauen Untersuchung der recht uneinheitli­chen Mondbahn. Solange war dieses Verfahren nicht viel sicherer als Glückss­piel. Als Sir Isaac Newton schließlich die Mondbahn genau berechnet hatte, kam die Monddistanz-Methode allmählich vorwärts, war und blieb aber noch immer ein außerordentlich aufwendiges Verfahren.

Seit 1714 gab es einen guten Grund, intensiv die Längengradforschung voranzu­treiben: in London war die Längengradkommission gegründet worden und hat­te ein Preisgeld in Höhe von 20.000 englischen Pfund (heute umgerechnet mehrere Millionen Euro) ausgesetzt für denjenigen, der ein Verfahren entwi­ckelte, „für eine Methode zur Ermittlung der geographischen Länge bei einer Abweichung von höchstens einem halben Grad.“ Immerhin noch zehntausend Pfund würde jemand erhalten, der ein solches Verfahren ersann, das bis zu ei­ner Abweichung von maximal einem Grad genau war.

Ein Grad Länge, das entspricht am Äquator einer Strecke von etwa 60 Seemei­len, mithin rund 111 Kilometern! „Dass die britische Regierung bereit war, solch riesige Summen für ‘Praktikable und Nützliche Methoden’ bereitzustellen, mit denen man das Ziel um viele Meilen verfehlen konnte, drückt die Verzweiflung der Nation über den beklagenswerten Zustand der Navigation beredt aus“, wie Sobel treffend schließt.

Die meiste Hoffnung wurde auf die Monddistanz-Methode gesetzt. Der Grund lag in der vernichtenden Beurteilung des damals 72jährigen Isaac Newton. Er erklärte der Kommission: Eine Methode besteht darin, mit Hilfe einer Uhr die genaue Zeit zu ermitteln. Es ist freilich noch keine Uhr hervorgebracht worden, die in der Lage wäre, unbehelligt von den Schiffsbewegungen, den Temperatur­schwankungen, der unterschiedlichen Luftfeuchtigkeit und der unterschiedli­chen Gravitation an verschiedenen Breitengraden genaue Ergebnisse anzuzei­gen.“ Er war der Auffassung, damit sei auch in Zukunft nicht zu rechnen. Uhren stellten um 1714 eher Kuriosa in fürstlichen Kabinetten dar als irgendetwas an­deres.

Nun, Newton irrte sich.

Er hatte nicht mit John „Längengrad“ Harrison gerechnet. Mit ihm konnte nie­mand rechnen – denn der Sohn eines Tischlers kam am 24. März 1693 im ländli­chen Yorkshire auf die Welt, und kaum etwas deutete darauf hin, dass er etwas anderes werden würde denn Tischler. Aber er überraschte seine Mitmenschen. John Harrison erlernte das Tischlerhandwerk und war außerordentlich musika­lisch begabt. Schließlich stimmte er die Kirchenglocken und dirigierte den Kir­chenchor seines Heimatortes Barrow. Und er war ein fiebriger, unruhiger, erfin­derischer Geist.

Das fiel 1712 dem Pfarrer auf, der Harrison mit naturphilosophischen Schriften vertraut machte, insbesondere mit der Mechanik des Mathematikers Nicholas Saunderson. Er schaffte sich Newtons „Principia“ an und begann im Alter von knapp 20 Jahren seine erste Pendeluhr – oder genauer gesagt: er schreinerte sie. Die Uhr bestand vollständig aus Holz. Sie existiert noch heute und trotzt be­harrlich dem Verfall.

Harrison war Autodidakt und bekam relativ bald Kenntnis von dem Längengrad­problem, das mit dem Erfolgen der Monddistanzmethode aus dem Ruch der Unmöglichkeit und des schrulligen Witzes in das Reich der Möglichkeit über­führt wurde. Er beschloss, genau jenen Weg einzuschlagen, den Newton ver­worfen hatte – mit Hilfe einer Uhr den Schiffen mehr Sicherheit zu geben.

Es kam nun alles darauf an, eine Uhr zu entwickeln, die ungeachtet der Umge­bungsbedingungen unerschütterlich gleichmäßig ging und vertrauenswürdig blieb. Keine Uhr also, deren Schmieröl sich verfestigte oder verflüssigte, je käl­ter oder wärmer es wurde. Keine Uhr, die aus dem Takt kam, weil das Schiff einen Sturm kreuzen musste…

Keine Uhr der damaligen Zeit schaffte es, diese Bedingungen auch nur nähe­rungsweise zu erfüllen. Die meisten, die es gab, gingen schon so notorisch falsch und verloren pro Tag häufig mehrere Minuten oder gewannen sie, weil sie zu schnell gingen. Durch Aufziehen – dabei blieben die Uhren stehen – ging noch mehr Zeit verloren.

Doch der Autodidakt Harrison baute zunächst die wartungsfreie (!) Uhr auf dem Gut Brocklesby Park, dann begann er ernsthaft damit, eigene Teile für Uhren zu entwerfen, die den Anforderungen der Längengradkommission entsprachen. Im Laufe der Jahre schuf er mehrere Uhren, eine perfekter als die nächste, ohne in­des – Perfektionist, der er war – jemals zufrieden zu sein. Für eine dieser Uhren feilte er auf bis heute unklare Weise sogar Zahnräder aus Diamant und Rubinen, um die Reibung und die Ausdehnung und Kontraktion von Metallen bei Wärme­differenzen auszuschalten.

Als es aber schließlich darum ging, nach erfolgreichen Testfahrten der Uhren Harrison das Preisgeld zuzusprechen, trat eine mächtige Strömung gegen ihn an: die Vertreter der Monddistanz-Theorie, allen voran der Reverend Nevil Mas­kelyne, der später den Nullmeridian durch Greenwich legte. Und so begann ein zermürbender, jahrelanger, unfairer Kampf zwischen den beiden so unter­schiedlichen genialen Männern…

Dava Sobel, die das Buch 1995 publizierte und es damit monatelang auf die Bestsellerlisten katapultierte, schaffte es auch in Deutschland, dem Buch zwi­schen 1996 und 1998 zwölf Auflagen zu bescheren. Auflagen und Ruhm, die meiner Ansicht nach wohlverdient sind.

In sehr klarer, zugleich aber auch fast lyrischer Sprache beschreibt Sobel die komplizierte, grausame und bisweilen bizarr karikierte Suche nach der idealen Maßmethode für die Ermittlung der geographischen Länge, und sie bindet eine Vielzahl berühmter Personen ein: wir sehen Sir Isaac Newton, wir entdecken Edmund Halley, Maskelyne, den Schweizer Mathematiker Euler und viele ande­re mehr, und schließlich werden wir zu Zeugen gemacht, wie ein eigenbrötleri­scher, aber höchst genialer Zeitgenosse am wissenschaftlichen Dünkel seiner Zeit beinahe zu Grunde geht…

Das ist packender Stoff, der häufig – nach meinem Empfinden – zu knapp aus­fällt, und der Leser, der höchstens ein bis zwei Tage braucht, bis er durch ist, sehnt sich danach, die Portraits von Harrison zu sehen oder die Fotos seiner noch heute im Museum der Sternwarte von Greenwich existierenden Uhren zu erblicken. Den Gefallen tut uns Sobel nicht, obgleich sie sowohl von den Por­traits als auch von den Uhren genug spricht, und das ist schade. Doch ansons­ten gibt es keine Grundsatzkritik am Buch.

Es ist spannender, faszinierender und Wissenslücken schließender Stoff, der Biografien miteinander verknüpft und in mir, dem Phantasten, den seufzenden Gedanken auslöste: „Was wäre geschehen, wenn sie ein wenig aufgeschlosse­ner gewesen wären, die Herren der Längengradkommission, weniger dem Stan­desdünkel verhaftet? Wie glorreich hätte sich Englands Marine entwickeln kön­nen? Was hätte Harrison mit großer Unterstützung wohl noch ersinnen kön­nen…?“

Vergebene Liebesmüh.

Aber es lohnt sich, darüber nachzusinnen.

© 2004 by Uwe Lammers

Wie ich einleitend sagte – ein echtes Buch zum Verschlingen und Faszinier­t-Werden. Ihr werdet, meiner Meinung zufolge, keine Minute bereuen, wenn euch der Stoff erst mal gepackt habt. Im Gegenteil – ihr werdet sicherlich mit mir einer Meinung sein und denken: Schade, dass das Vergnügen schon vorbei ist!

In der kommenden Woche reisen wir an dieser Stelle ein letztes Mal zurück auf Jack L. Chalkers phantastische Sechseck-Welt und erleben, wie der Kampf gegen das Ende des Universums ausgeht. Seid dabei!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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