Liebe Freunde des OSM,
heute gibt es mal zur Feier des Tages – 150 Wochen Blogartikel sind durchaus eine Art von Jubiläum – etwas ganz Exotisches. Vor geraumer Zeit habe ich mal einen interessanten Essay geschrieben, den ich euch heute mal in gründlich aktualisierter Version zukommen lassen möchte. Denn wer weiß, vielleicht hat euch ja auch schon mal der Gedanke umgetrieben, der mich damals zu den Tasten eilen ließ: Der Uwe ist also Historiker. Und er ist auch Science Fiction-Fan und Science Fiction-Schriftsteller. Ist das nicht eine kuriose Sache? Widerspricht sich das nicht?
Nö, dachte ich damals, und so denke ich noch heute. Doch einst führte ich ein paar gewichtige Argumente zur Begründung an. Nach inzwischen mehr als 10 Jahren sind allerdings einige Dinge nachzutragen gewesen. Ich habe sie mehrheitlich in die Fußnoten verlegt und sie dadurch etwas reformiert und ausgeweitet. Schaut euch diesen Essay einfach mal an, so rasch wird nichts von dieser Art folgen… aber möglicherweise eine ganze Menge Rezensionen von Werken, auf die ich unten rekurriere.
Guten Leseappetit, meine Freunde!
Historie und Phantastik – kein Widerspruch
(Essay)
Üblicherweise löse ich Verwirrung in meinem Bekanntenkreis aus, wenn ich im Bus nach Wolfenbüttel zu meiner Arbeitsstelle an der Herzog August Bibliothek fahre und meine Mithistoriker entdecken, dass ich, beispielsweise Bücher mit dem Titel „Die unbekannte Macht“ oder „Der Schwarm“ oder „Der magische Steinkreis“ bzw. „Das Wing-4-Syndrom“ lese. Bekanntlich sind das nicht unbedingt „historische“ Werke, manche spielen sogar auf fremden Welten und/oder Jahrhunderte in der Zukunft.
Science Fiction, Fantasy, Phantastik, Dinge also, die es eigentlich nach dem rationalen Geschichtsverständnis einfach nicht gibt, die von vielen „seriösen“ Wissenschaftlern schlicht als „Märchen“ abgestempelt werden, denen keine Beweiskraft innewohnt, all das scheint ein direkter Widerspruch zu meiner Profession als Historiker zu sein und geht gerade noch als „Entspannungslektüre“ durch, wenngleich da schon die Stirne gekraust wird.
Wenn ich dann aber auch noch bereitwillig erzähle, dass ich phantastische Geschichten SCHREIBE, ist die Verwirrung meist vollkommen. Der Gesprächspartner weiß dann gar nicht mehr, woran er mit mir ist. Dabei ist, wie nachzuweisen sein wird, Geschichte und Phantastik keineswegs ein Widerspruch, schon gar nicht für mich selbst.
Es scheint diesbezüglich sinnvoll zu sein, mit meiner eigenen Biografie zu beginnen, um gewissermaßen vom Speziellen zum Allgemeinen hin vorzustoßen. Das erhöht vermutlich die Akzeptanz, denn niemand sollte glauben, die stirnrunzelnde Reaktion sei auf Seite des Phantasten geringer ausgeprägt als auf der Seite der Wissenschaftler.
Meine erste Karriere war die des Phantasten, und ich halte sie nach wie vor für die wichtigere und intensivere von beiden. Die zweite ist, naheliegend, die des Historikers, und beide sind miteinander fusioniert in jenem nicht mehr ganz klar festzumachenden Moment, in dem ich die Geschichte als Handlungsmuster meiner Werke entdeckte. Das bedarf einer Erläuterung zum besseren Verständnis.
Schon als kleines Kind war ich sehr entgegengesetzten Impulsen ausgeliefert, und sie führten mich einmal in Richtung der Phantastik, zum zweiten in Richtung der Geschichte. Doch während meine phantastischen Neigungen relativ wahllos durch Fernsehfilme, Comics und erste Bücher (nicht den üblichen Kinderkram, ich stieg gleich mit Mark Brandis, John Christopher, Jules Verne, Heinlein und Lem und ähnlichem Kaliber ein und sattelte etwa 1977/78 auf Heftromane um, namentlich auf REN DHARK, TERRA ASTRA und später die TERRANAUTEN) gefüttert wurden, war der geschichtliche Input sehr konstant.
Er erfolgte durch meine mehrmals im Jahr gemachten Reisen zu meinem Großvater in Hildesheim und ins dortige Roemer-Pelizaeus-Museum. Wer das Museum aus eigener Anschauung kennt, weiß sicher, dass der Schwerpunkt der Exponate auf dem alten Ägypten liegt, und folgerichtig wurde ich schwerer Ägypten-Fan, maßgeblich angestachelt durch das vielfache Lesen des Geschichts-Klassikers „Götter, Gräber und Gelehrte“ von C. W. Ceram (alias Kurt Marek).
Als die Schullehrstoffe vom alten Ägypten abschwenkten, verlor ich das Interesse an der Geschichte, weil, natürlich, der Input aus Hildesheim, den ich mehrmals jährlich bekam, immer derselbe war. Ägypten, Ägypten, Pharaonen. Toll.
Es dauerte mehrere Jahre, bis fast zum Ende meiner regulären Schulzeit, bis ich meine Leidenschaft für Geschichte entdecken konnte. Dazwischen hing ich buchstäblich mit dem Kopf zwischen den Sternen und war nicht zugänglich.
Ich möchte behaupten, dass erst in dem Moment, in dem ich biografisch ein wenig Bodenhaftung bekam, also von Wolfsburg nach Gifhorn umsiedelte, wo mir in der Schule statt der bisherigen aggressiven Ablehnung von Altersgenossen (die meine selbstgewählte Isolation in den Büchern naturgemäß verstärkte) Sympathie und Freundschaft entgegenschlug, eine Änderung eintrat. Ich begann die Lehrer und Mitschüler zu schätzen, die erste Verliebtheit verdrehte mir grundlegend den Kopf, und mein Interesse an anderen Menschen erwachte – und an Personen der Geschichte.
Während ich mich nun in die allgemeine Geschichte intensiver einlas, gewannen auch die Personen in meinen Geschichten ein wenig mehr Kontur, sie hatten plötzlich ein Zuhause, eine Familie, eine Biografie. Das blieb aber alles noch in den Kinderschuhen, da die letzten 2-3 Jahre meiner Schulzeit kaum ausreichten, aufzuholen, was ich zehn Jahre hatte schleifen lassen. Dennoch, der Keim war gelegt.
Später, als ich Zivildienst in Hameln machte, entdeckte ich mein Herz für die inkaische Kultur, und wer jemals in den Genuss der OSM-Ebene 23 „Oki Stanwer – Der Dämonenjäger“ kommt, wird das hautnah spüren können. Die Darstellung des Tahuantinsuyu des Jahres 1531 als Ausgangsbasis für Oki Stanwers und Sarai Stanwers BASIS DER NEUTRALEN ist so intensiv, dass sie sich bis in die allgemeinen Details der Kleidung, der Religion und des Alltagslebens der Inkas ausdehnt.
Spätestens seit jenem Zeitpunkt, also dem Frühjahr 1990, war mir klar, dass Geschichte suchterzeugend war. Zahlreiche geschichtliche Werke standen bis dahin bereits gelesen in meinen Regalen, nun aber explodierte die Zahl schier, und die Intensität der Rückkopplung zu meinen eigenen Geschichten verstärkte sich.
In gewisser Weise könnte man also sagen, dass der Pfad von der Phantastik her direkt zur Geschichte hin ging, ohne indes so zu verlaufen, dass die eine Leidenschaft die andere ablöste. Das Gegenteil war der Fall, und seither laufe ich sozusagen „zweigleisig“. Wer sich das als anstrengend vorstellt, sieht nur eine Seite der Wirklichkeit.
Kommen wir zum Allgemeinen, damit ich den biografischen Exkurs nicht ad infinitum ausdehne. Die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman hat einmal sehr treffend – für die Geschichte – gesagt, es sei sinnvoll, zu schreiben, bevor die Recherchen abgeschlossen sind, anderenfalls bestünde die Gefahr, dass man einfach immer weiter recherchiere und sammle, um des Recherchierens und Sammelns willen. Das möchte ich hier nicht machen.
Was ist die Basis aller Geschichtswissenschaft? Natürlich das allgemeine Studium der menschlichen Gesellschaft in all ihren Facetten. Der Ursprung dieser Geschichte ist stets das menschliche Individuum, die Biografie. Das stellt für mein Geschichtsverständnis die Grundlage dar, auf die alle Recherchen letzten Endes zurückgehen. Auch wenn man Organisationen, Staaten oder Völker untersucht, gerät man früher oder später, wenn man akribisch genug ist, zurück auf den gesellschaftlichen Kern des Individuums.
Was ist, wenn wir den Blickwinkel wechseln, der Kern des Schriftstellerns, des Schreibens von Geschichten, Romanen und ähnlichem? Im Grunde genommen die Hauptpersonen. Geschichten, die keine ausformulierten Hauptpersonen besitzen oder deren Protagonisten amorph bleiben, sind schlechte Geschichten. Die Idee, die in ihnen steckt, mag noch so gut sein, ohne ausgefeilte Personendarstellungen bleibt die Idee in den Kinderschuhen stecken und kann den Leser nicht erreichen, der bald gähnend das Buch aus der Hand legt. Also muss der Schriftsteller – psychologisch gesprochen – ein Gespür für seine Protagonisten entwickeln. Er muss die Menschen kennenlernen, die Motivationen, die sie umtreiben. Er muss selbst zum Psychologen werden.
Doch wenn er dann darangeht, weitläufige Weltsysteme in seinen Werken zu entwickeln, reicht die Psychologie alleine nicht mehr hin, da eine zweite Schwäche ihn einholt, die Romanen gerne anhaftet: man mag die Personen so gut kennen, wie man will, wenn man eine schwache Story erzählt und in Allgemeinplätzen „versackt“, wie ich es mal nennen möchte, dann erzählt man allenfalls eine mittelprächtige Geschichte, die rasch vergessen ist.
Wie erzählt man nun eine GUTE Geschichte? Nun, mein Rezept dafür ist folgendes: Eine gute Geschichte besteht aus einem ausgezeichnet durchdachten, raffinierten und nicht durchsichtigen Plot, nicht zwingend eine gängige Plotstory, bei der erst am Ende das Aha-Erlebnis kommt, sondern möglichst eine ganze Reihe davon, verteilt über Handlungs-Zickzackkurven innerhalb der Handlung, die immerzu die Neugierde des Lesers von neuem aufstacheln. Unbedingte Zutat für solche Geschichten sind gut entwickelte Charaktere, die wandlungsfähig und nicht dogmatisch sein sollten. Sie müssen Leben besitzen, ein Eigenleben, das durchaus den Autor selbst überrumpeln und in die Verzweiflung treiben darf. Und letzten Endes muss der Background der Story so gut durchdacht sein, dass der Leser an den Background „glaubt“. Das gelingt mir relativ oft, wie mir scheinen will.
In diesem Sinne, das wird vielleicht nachvollziehbar sein, besitzen die Geschichte und die Geschichtswissenschaft eine außerordentliche Legitimationsfunktion. Ohne auf plumpe Argumentationsmuster und oft strapazierte Vergleiche zurückgreifen zu müssen – etwa die Feststellung, dass vieles, was Jules Verne als phantastische Erfindungen im 19. Jahrhundert kreierte, inzwischen zur Alltagstechnik gehört (wiewohl das stimmt) – , kann man so als neugieriger Leser vielleicht nachvollziehen, warum Phantastik und Geschichtswissenschaft zwar ein mitunter schwieriger Spagat sind, wenn man sie beide gleichzeitig betreibt, aber kein fundamentaler Widerspruch.
Die Phantastik ist nur eine Untergruppe der Schriftstellerei im allgemeinen, und die Geschichtswissenschaft nur eine Untergruppe der Forschungen, die sich mit der Natur des Menschen und seiner Gesellschaft befassen (wie auch die Genetik, Soziologie oder Psychologie, um einige davon zu nennen).
In dem Punkt, wo der gemeinsame Kern ist, eben beim Menschen, beim menschlichen Individuum, da treffen sich diese beiden Gebiete und besitzen eine Schnittmenge. Wer sich für die menschliche Geschichte interessiert und über genügend Phantasie verfügt, wie ich es tue, kann auch mit Leichtigkeit extrapolieren, und schon breitet sich ein Fächer virtueller Welten aus, in denen die menschliche Geschichte von dem bisweilen grundlegend abweicht, was man landläufig kennt. Es mag sich dabei um „seriöse“ kontrafaktische Geschichte handeln oder eben um frei flottierende phantastische Geschichten mit historischem Background.
Die Phantastik hat aber mit der menschlichen Geschichte nicht nur diesen Schnittpunkt. Wenn man konsequent die Verzweigungspfade weitergeht, die für viele Historiker vermutlich zu spekulativ (für mich aber zu reizvoll sind, als dass ich sie ignorieren könnte), der gelangt nicht nur in die gängige kontrafaktische Geschichte, die die Grundlage bildet für Alternativwelt- und Parallelweltgeschichten, sondern der gerät schließlich in ganz fremde Räume.
In diesen fremden Räumen verlassen wir die Menschheit und stoßen zu Völkern unter fremden Sternen vor, die nie zuvor ein Menschenauge erblickt hat. Und jählings segelt jener Forscher der Geschichte und Phantastik zugleich mit bizarren Wesenheiten über tropische Ozeane fremder Welten, besucht Inseln und Kontinente, die bisweilen von einer unglaublichen Schönheit sind, dass der Atem stockt.
Wer kennt schon solche Welten wie den schwebenden Kontinent Shonta-Land in der NISCHE? Wer kennt das versunkene Reich der legendären Veskoy, das binnen eines Tages über die Jahrmillionen und über Millionen von Lichtjahren zerstreut wurde? Wer kann sagen, welche tragische Geschichte hinter den düsteren metallenen Wüstenstädten der Rontat steckt? Wer kennt schon den Ursprung und die Zeitläufte des untergegangenen Volkes der Us’sheleyaa (also der „Wasserkinder“)?
Nun, diese Geheimnisse und diese GESCHICHTEN der nie gekannten Völker liegen vor dem Historiker und Phantasten auf einmal da, und er kann langsam, auf historische Weise, und schnell, mit der glühenden Verve des Phantasten, gleichermaßen darin eindringen und dies seinen neugierigen Lesern ausbreiten.
Der unbestreitbare Vorteil und Nachteil zugleich darin ist leider ebenfalls evident: ist schon die menschliche Geschichte, wenn man sie auf mikrogeschichtliche Weise betreibt, also in die kleinsten Einheiten der Geschichte vordringt, in die Biografien, nahezu unendlich groß ist, so gilt das in noch verstärktem Maße für diese parallelen Geschichtsverläufe anderer Völker.
Die Aufgabe, die sich einem Forscher in jenen wirren, gigantischen Räumen stellt, ist also unvergleichlich und im Grunde genommen endlos. Das mag im übrigen – ich stellte gerade meine eigene Forschungssituation in der Geschichte und in der Phantastik sowie in dem Schnittpunkt der „Phantastischen Geschichte“ dar – erklären, warum die gerne geäußerte Vermutung meiner Freunde und Leser nicht zutrifft. Sie denken oftmals, Geschichtenschreiben, das sei so ähnlich wie ein Glas mit Bier leeren. Wenn man viel daraus trinkt (lies: schreibt), sei der Tank irgendwann leer. Das ist ein klassisches Fehlurteil.
Indem ich immerzu neue Felder, immer neue Personen, Welten, Völker entdecke und ständig an Perfektion in der Beschreibung gewinne, kann man weder behaupten, es werde hier in irgendeiner Weise langweilig, noch kann man sagen, die Themen würden sich erschöpfen. Das Gegenteil ist der Fall: die Themen generieren sich aus dem, was man findet, immerzu neu. Je mehr ich schreibe, desto mehr entdecke ich und desto mehr kann ich zusätzlich schreiben. Ein bisschen lässt sich das vergleichen mit der biografiegeschichtlichen Archivrecherche – man stößt unablässig auf Abzweigungen und Hinweise, denen man weiter nachgehen kann und, wenn einen die Leidenschaft gepackt hat, auch will.
Eine Aufgabe ohne Ende, eine Aufgabe, die sowohl im Bereich der Geschichte – die mir zur Fundierung der Phantastik unabdingbar scheint – als auch im Bereich der Phantastik allgemein eine ständige Herausforderung bleiben wird und Entdeckungen ohne Zahl ermöglicht.
Vielleicht bin ich in meiner Argumentation ein wenig wirr geworden im reißenden Strom der Gedanken. Doch hoffe ich, dargestellt zu haben, dass wenigstens in meinem speziellen Fall die parallele Beschäftigung mit Geschichte UND Phantastik keinen Widerspruch darstellt, ja, eigentlich NIE darstellt, vorausgesetzt, man verfügt über die entsprechende Kreativität, Feinfühligkeit und das Gespür für die gute Verknüpfung zwischen der phantastischen Sphäre und den Grundlagen der realen Geschichte. Meine weiterführenden Wege in die Geschichten und Geschichtsschreibungen anderer, nichtmenschlicher Völker muss man nicht zwingend nachvollziehen, da das, zugegeben, eine ziemliche Herausforderung ist.
Aber vielleicht kann dieser kleine Essay ein wenig Verständnis für meine Situation wecken und auch ein bisschen Neugierde wecken. Das würde mich freuen.
Uwe Lammers
Braunschweig, den 23.-28. Juli 2005
Puh, was für ein gehaltvoller Wortschwall, gell? Aber ich glaube, wenn euch jetzt der Kopf raucht, so habe ich doch ein wenig das Phänomen U. L. transparenter gemacht als bisher. Das ist jedenfalls meine Hoffnung und meine Intention gewesen.
Bis nächste Woche! Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe