Liebe Freunde des OSM,
grandiose Stoffe tragen mitunter den Keim der eigenen Selbstzerstörung in sich. Die Autoren – und nicht selten auch die sie verlegenden Verlage – steigern sich so in die Angelegenheit hinein, dass sie von einer Art Hybris befallen sind, die sie blind für den Punkt macht, an dem das Großartige und Phantastische sich abnutzt und immer mehr Superlative die Geschichte einfach abstumpfen.
Ich erlebe das immer wieder, wenn ich mir DC-Comicverfilmungen anschaue, die sich regelmäßig in geistlosen Prügelszenen erschöpfen, die dann anstelle von intelligenter Unterhaltung für Dramatik sorgen sollen, aber, genau genommen, nur öde und inhaltsleer sind (bei allem Respekt: Die meisten Marvel-Filme sind da sehr viel unterhaltsamer, man schaue sich etwa nur mal die Dialogstruktur bei der Serie Loki an …!).
So ähnlich ergeht es Dan Simmons dann leider im hinteren Teil dieses Zweiteilers an vielen Stellen. Man spürt deutlich, wie er der wilden Handlung nicht mehr recht Herr wurde und einfach weiterfabulierte, die Schraube überdrehte und damit zumindest bei mir zunehmenden Verdruss auslöste.
Damit ist nicht behauptet, dass das ein uninteressanter Roman ist, er ein untalentierter Autor wäre (davon bin ich weit entfernt), aber es gibt eben Teile der Geschichte und besonders deren Auflösung, die ich zum Teil uninspiriert bis historisch-politisch bedenklich fand, um es vorsichtig zu formulieren. In der Konsequenz kippte dann also, nachdem ich das Buch ausgelesen hatte, meine anfängliche Begeisterung gründlich und kühlte doch sehr ab.
Man erkennt klar, warum etwa der Anfangsabschnitt um den Trojanischen Krieg so detailverliebt dargestellt werden konnte – weil Simmons sich hier eng an den ebenfalls sehr detailverliebten Homer anlehnen konnte. In dem Moment, wo das wegfiel, arbeitete er gewissermaßen ohne Netz und doppelten Boden und begann zu straucheln … und kompensierte das mit wilden und immer wilderen Phantasien. Wer so etwas mag, kommt hier zweifelsohne voll auf seine Kosten. Aber wer den Anfang eben wegen der Nähe zu Homer geschätzt hat, dem wird eine gewisse Ernüchterung wohl nicht erspart bleiben.
Aber vielleicht solltet ihr euch besser ein eigenes Bild machen, möglicherweise ist ja mein Urteil etwas zu streng ausgefallen, aus einer Distanz von fast 20 Lesejahren. Schaut am besten selbst, wie die historisch-phantastische Achterbahn fortgesetzt wird:
Olympos
(OT: Olympos)
von Dan Simmons
Heyne 52123, März 2006
960 Seiten, Paperback
Kosten: 15.00 Euro
Übersetzt von Peter Robert
ISBN 3-453-52123-4
Acht Monate sind seit dem fulminanten Ende des Romans „Ilium“ vergangen. Und es ist viel passiert:
Seit der einstige, wieder auferweckte Philologie-Professor Thomas Hockenberry (Hockenbush für seine alten Freunde, doch die sind leider schon seit Jahrtausenden tot) seinen neuen Job als Kriegsberichterstatter (KBE) für die olympischen Götter aufgab und sich anmaßte, selbst Gott zu spielen, ist wirklich die Welt auf den Kopf gestellt worden, und das gilt für alle ZWEI Welten zugleich, in denen diese wilde Rochade durchgeführt wird, von Wesen, die sich als olympische Götter verstehen bzw. von jenen, die eigentlich die Fäden in der Hand halten. Als da wären: Prospero, Setebos und Sycorax, die Hexe (manche nennen sie auch Circe).
Doch zunächst schalten wir einen Gang zurück, damit der geneigte Leser ein wenig Fuß in der Handlung fassen kann.
Seit zehn Jahren tobt der in Homers Ilias beschriebene Trojanische Krieg, und es geht eine Menge dort vor auf der Ebene von Ilium, das nach Thomas Hockenberrys Auffassung, der im Auftrag der olympischen Götter Bericht darüber erstattet, nicht in den Annalen des Geschichtsschreibers stand. Das alles hängt, wie gesagt, mit Hockenberry zusammen. Als er begreift, dass er von Athene instrumentalisiert werden soll, um die Göttin Aphrodite umzubringen, wird ihm schon mulmig. Noch mulmiger ist ihm aber zumute, als er, mit Hades-Helm (der unsichtbar macht) und einem Quantenteleportationsmedaillon ausgestattet, dann noch mitbekommt, dass ihn dieser Plan unweigerlich das neue Leben kosten wird. Es sei denn, er tut etwas dagegen – also sabotiert er seine Auftraggeberin.
Was dazu führt, dass die entfesselten Musen alle seine KBE-Kollegen massakrieren. Was wiederum dahin führt, dass Hockenberry den Trojanischen Krieg sabotiert, die Gestalt von Göttern annimmt und einen Waffenstillstand zwischen Trojanern und Griechen erzeugt – und letzten Endes geht die gemeinsame Streitmacht zusammen mit den rätselhaft auf dem Olymp auftauchenden Moravec-Robotern aus dem Jupiterraum, dazu über, den Olymp zu belagern, der sich als der Olympus Mons auf dem Mars herauskristallisiert.
Die vereinten Griechen und Trojaner haben nun nämlich ihren eigenen Göttern den Krieg erklärt! Und das führt wiederum zum Bombardement der arg gebeutelten Stadt Ilium durch die olympischen Götter – mittels Mittelstreckenraketen und nuklearer Sprengwaffen.
Den Leser schwindelt – und wie gesagt, das ist nur eine Handlungsebene am Ende des ersten Bandes „Ilium“.
In der zweiten Ebene, wo die Geschichte der naiven Menschen von Ardis Hall verfolgt wird, erscheint auf einmal ein kerniger, griechischer Krieger namens Odysseus (! Ja, ja, es gibt ihn zweimal, macht euch nichts daraus! Es gibt hier so einige Dinge zweimal, was mit zur Konfusion beiträgt) und bereitet die arglosen Menschen, die weder lesen noch schreiben, geschweige denn sich verteidigen können, auf einen Krieg vor, „der kommen wird, wenn die Sterne herabfallen“.
Kryptische Worte – bis aus einem der Orbitalringe um die Erde, die die Nachmenschen vor zahllosen Jahrhunderten anlegten, Meteoriten herabzuregnen beginnen. Niemand auf der Erde weiß, dass dies letztendlich die Folge eines verzweifelten Ausfluges der Ewigen Jüdin Savi und ihrer beiden Begleiter Daeman und Harman ist, die, aus Jerusalem auf der Flucht vor den Voynixhorden, vom trockenen Mittelmeerbecken von dem Avatar der Ichbewussten Logosphäre der Erde, Ariel, hinaufgeschickt wurden in den Orbit. An einen Ort, wo die „Klinik“ der Nachmenschen steht, die jeder der heutigen Menschen in seinem Leben wenigstens fünfmal, alle zwanzig Jahre nämlich, besucht. Ein grauenhafter Ort, wo sie einen Geist namens Prospero fanden – und ein sehr reales, amphibisches und menschenfressendes Ungeheuer namens Caliban.
Zwar gelingt den beiden Männern schließlich die Flucht zur Erde, aber die Welt ist ein für allemal verändert. Niemand hat zu diesem Zeitpunkt eine Ahnung, wie sehr …
Acht Monate nach diesen dramatischen Ereignissen dreht sich die Welt weiter und stürzt den Leser in den neuen, noch längeren, noch verwickelteren Roman. Inzwischen sind einige Dinge klarer geworden, andere eher verwirrender:
An der trojanisch-olympischen Front herrscht ein Patt. Zwar kann an vorderster Front der griechische Heros Achilles, der meint, die Götter hätten seinen Freund Patroklos ermordet (stattdessen hat ihn Hockenberry einfach ins antike Amerika zu den Indianern quantenteleportiert, aber er wird sich hüten, das zuzugeben!), immer wieder Götter niedermetzeln, doch die verwandeln sich in schwarze Funkenschauer und entschwinden zum Olymp, um am nächsten Tag munter erneut in den Kampf einzugreifen.
Zwar sind die Trojaner formell Verbündete der Griechen (seit dem Tag, da Andromache, Hektors Frau, ihrem Gatten klarmachte, dass Göttinnen ihren gemeinsamen kleinen Sohn auf bestialische Weise niedermetzelten; in diesem Roman kommt freilich – schon erahnt – heraus, dass sie das Verbrechen mit einem anderen Kind verübt hat und der gemeinsame Sohn durchaus quicklebendig ist. Auch sie würde das im Traum nicht preisgeben), doch es gibt Verschwörungen:
Der griechische, abgesetzte Heerführer Menelaos versucht, seine abtrünnige Ehefrau Helena umzubringen, die zwischenzeitlich mit Hockenberry ins Bett gegangen ist. Was soll man auch tun? In den acht Monaten zwischendurch ist ihr Gatte Paris gefallen, und sie ist kein Kind von Traurigkeit. Und zugleich sehr unberechenbar, was Hocky bald schmerzhaft zu spüren bekommt.
Auf dem Olymp zettelt derweil Hera, des Zeus göttliche Gattin, einen Putsch an und schaltet ihren Ehemann wirksam aus. Und eine wutentbrannte Amazone namens Penthesilea, ebenfalls von den Göttern aufgestachelt, erscheint auf der Bildfläche, um Achilles umzunieten.
Gleichzeitig treffen die Moravec, die inzwischen auf dem Marsmond Phobos ein Raumschiff gebaut haben, Anstalten, die Erde anzusteuern. Jene von zwei seltsamen Ringen umkreiste Erde, auf der die Menschen in Ardis Hall inzwischen erbittert ums Überleben kämpfen. Die Voynixe, jene stummen, insektenartigen Androidenwesen unbekannter Herkunft sind nämlich seit dem Absturz des Klinik-Asteroiden dabei, gnadenlos alle Menschensiedlungen zu attackieren und ohne Rücksicht auf Verluste alle wenigen noch lebenden Menschen zu massakrieren.
Als würde das noch nicht genügen, stellt der durch den Aufenthalt in den Ringen kampftüchtiger gewordene Daeman fest, dass sein Erzfeind, der blutrünstige, unberechenbare Caliban, offensichtlich den Sturz aus Hunderten Kilometern Höhe unbeschadet überstanden hat. Er ist nun auf der Erde und begibt sich zuerst nach Paris, wo Daemans Mutter lebt … als Daeman selbst hier ankommt, findet er nur noch ihren blutigen Schädel vor, eine zynische, blutrünstige Botschaft Calibans an ihn persönlich. Und dann reißt ein Dimensionstor auf und lässt ein gigantisches, auf großen Händen kriechendes Hirn nach Paris marschieren, das daraufhin in einem mächtigen Eispanzer erstarrt: Setebos ist erschienen und macht sich daran, die Energie von Schlachtfeldern in sich aufzusaugen, während seine Kreaturen, die Calibani aus dem Mittelmeerbecken, ebenfalls die Menschheit angreifen.
Für Daemans früheren Gefährten Harman, dessen Lebensgefährtin, die inzwischen schwangere Ada in Ardis Hall zurückgeblieben ist, um den Kampf gegen die Voynixe zu organisieren, hat das Schicksal besonders bösartige Tücken vorgesehen: Sie führen ihn erst vom Golden Gate bei Machu Picchu zu einem grünen Geistwesen namens Ariel und zu dessen sehr bekannten Dienern, den „Kleinen Grünen Männchen“. Und schließlich zu einer bizarren Konstruktion, die Ariel „Eiffelbahn“ nennt – Hunderte von Eiffelturm-Imitaten, die über die Erde verstreut sind.
Und in Begleitung Prosperos trifft er schließlich in einem gigantischen Grabmal über dem Himalaya auf einen schwebenden Sarg, in dem eine wunderschöne, junge Frau liegt und schläft. Und Harman glaubt einmal mehr zu träumen – denn diese Frau ist, wiewohl das völlig ausgeschlossen ist, eine jüngere Version der Ewigen Jüdin Savi …!
Nein, dies alles ist nur ein kleiner Teil dessen, was die Handlung dieses voluminösen Romans ausmacht, aber man mag es mir nachsehen, wenn ich nur ein solches Stück erzähle – das Buch enthält genug Stoff zum weitergehenden Staunen.
Wenn ich jüngst schon sagte, dass der erste Roman in der zweiten Hälfte etwas arg überhastet daherkam, so muss ich diesem hier attestieren, dass er in vielerlei Hinsicht Fragen offen lässt und an manchen Stellen arg melodramatisch überzieht, um schließlich – wie etwa bei Peter F. Hamilton – am Schluss so gekünstelt Harmonie herzustellen, dass man sich eine Magenverstimmung holen könnte.
Ignorieren wir, dass der Klappentext Professor Hockenberry hartnäckig als „Philosophie-Professor“ tituliert (er ist Philologe, aber der Klappentexter konnte das Wort offenbar nicht verstehen).
Ignorieren wir auch Stephen Kings hysterischen Kommentar („Dan Simmons schreibt wie ein Gott. Ich kann kaum sagen, wie sehr ich ihn beneide.“), der nur zum Kopfschütteln animiert.
Ignorieren wir selbst das Credo des Romans in Bezug auf die jüdische Kultur. Wie schon in seiner Story „Das neute Av“ in der Storysammlung „Welten und Zeit genug“ geht es, wie man in diesem Buch schließlich erkennt, im Wesentlichen um eine etwas krude Idee, die schon im 20. Jahrhundert fröhlich noch und noch ausgewalzt wurde: Die Juden sind etwas Schlimmes, weswegen die arabischen Staaten alles daransetzen, sie auszulöschen!
Ob sie ein Virus erschaffen, das (oh, welche Ironie des Schicksals!) nahezu alle Menschen ausrottet, Araber inklusive, aber ausgerechnet die klugen Juden nicht; ob sie schließlich ein Gigant-U-Boot mit Sprengköpfen aussenden, die in sich mikroskopische Schwarze Löcher tragen, ob sie Androidenhorden mit Zeitmaschinen in die Zukunft senden (eine Idee, die wir vom Shrike aus dem Hyperion-Zyklus schon kennen, nur war sie dort viel besser und raffinierter gemacht!), letzten Endes MUSS das alles natürlich misslingen.
Eine unbehagliche, der political correctness der Gegenwart entlehnte Idee, die dem Leser schließlich doch den Appetit verderben kann. Und die zwar ganz nette, aber letztlich nicht so richtig ausgegorene Idee, woher denn nun Prospero, Sycorax und Caliban sowie Setebos kommen … nun ja, das ist lieb gemeint, aber Simmons deshalb als den „bedeutendsten mythenschaffenden Schriftsteller unserer Zeit“ zu feiern, scheint mir völlig verfehlt.
Um ehrlich zu sein, bleibt der zweite Teil des Zyklus erheblich hinter dem ersten zurück, was nicht ausschließlich daran liegt, dass die Helden der Ilias jetzt alle bekannt sind und hier nur noch – im Wesentlichen – als metzelnde Staffage dienen dürfen. Irgendwie ist die Luft raus, und alle Hinzufügungen wie Setebos oder die Eiffelbahn oder unablässig sich vergrößernde Voynixheere und wilde Gemetzel führen letztlich nur zu einer Art von hohler Überkrustung der Geschichte.
Die Kerne der Geschichte sind entweder altbacken, Kopien aus dem Hyperion-Endymion-Zyklus oder aber nicht vollständig durchdachte und am Ende durch übertriebene Effekthascherei sich selbst zerstörende Spielereien.
Sorry, Dan … der Anfang war gut, der Schluss weniger. Viele der hiesigen Seiten hättest du dir sparen sollen.
© 2006/2022 by Uwe Lammers
In der nächsten Woche könnt ihr wieder entspannt die Sensoren auf seichtes Niveau zurück kalibrieren, da spreche ich über den Schlussband des „Devoted“-Zyklus.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.