Liebe Freunde des OSM,
ich nehme das mal vorweg, damit ich den Kritikern gleich ein wenig den Wind aus den Segeln fangen kann – was ich heute erzähle, ist nichts für Dogmatiker oder Menschen, die die Worte auf die Goldwaage legen. Es geht heute auf eine originelle Weise um die Freiheit der Rede, die vermutlich jeden gestandenen Historiker erblassen lassen wird.
Hey, könntet ihr da einwenden, ich selbst, der da jetzt schreibt, bin doch auch Historiker. Ist das nicht ein wenig widersprüchlich, wenn ich solche Bemerkungen mache? Verwickele ich mich nicht automatisch in flagrante Widersprüche?
Seht ihr, wo wir diesen Punkt so schnell erreicht haben, sind wir exakt dort, wo ich hin möchte. Und zugleich jener, der mich immer wieder grinsen lässt, wenn ich Zeilen an meinen Archipelgeschichten ergänze. Ich lebe diesen faszinierenden Widerspruch ständig, und inzwischen finde ich ihn durchweg charmant. Ich will aber auch nicht leugnen, dass er mich vor zwanzig Jahren bisweilen zur Weißglut vor Verzweiflung trieb. Im Alter wird man einfach ein wenig ruhiger … das gilt zumindest für die Majorität der Menschen, die ich kenne. Und das ist auch ganz gut so.
Fangen wir die Diskussion langsam an und tasten uns zu dem zentralen Punkt behutsam vor.
Die Archipelwelt, soviel ist sicherlich auch all jenen unter euch bewusst, die entweder schon sehr lange meinem Blog folgen oder bzw. ergänzend die eine oder andere Archipelgeschichte gelesen haben, die ich verschiedentlich in den zurückliegenden zehn oder fünfzehn Jahren im Fandom veröffentlicht habe, die Archipelwelt muss man als ausdrückliche low tech-Welt verstehen. Der zivilisatorische Standard entspricht hier etwa dem der frühen europäischen Neuzeit oder des ausgehenden Mittelalters.
Erschwert wird die zivilisatorische Entwicklung hier durch verschiedene Faktoren. Im durchweg tropischen Archipel – den man mit einer deutlich vergrößerten pazifischen Inselwelt auf unserer Welt parallelisieren könnte – herrscht zum einen eklatanter Metallmangel. Auf den Inseln gibt es nach meiner bisherigen Kenntnis keine Bergwerke, auch Meteoriteisen dürfte eher selten sein. Der zweite Grund, warum die Gesellschaft dort eher nicht vom Fleck kommt, ist in einer stark retardierten Fruchtbarkeit der Menschen zu sehen.
Die Konsequenzen daraus sehen dergestalt aus, dass die Archipelinseln von kleinen Dorfgemeinschaften gesprenkelt sind, die nur sehr oberflächliche Verbindung miteinander besitzen. Selten haben diese Siedlungen mehr als hundert oder zweihundert Einwohner. Die meisten davon liegen an Buchten am Meer, während das zumeist dicht bewaldete Hinterland nahezu überhaupt nicht erschlossen ist.
Da zudem die Entwicklung eines eigenen Schriftsystems nicht existent ist, hat sich eine ausgeprägte mündliche Überlieferungskultur etabliert. Und hier fingen für mich als Historiker die Probleme schon an, als ich 1997 diese Welt zu erkunden begann.
Natürlich wollte ich, sowohl als Historiker wie auch als Autor dieser Welt wissen: Wie ist es eigentlich um die Vergangenheit dieser Welt bestellt? Woher kommen diese Menschen, wie ist ihre Lebensform entstanden?
Es gab gute Gründe für solche Fragen. Ich nenne nur ein paar:
Zum einen stellte ich schon sehr früh fest, nämlich im allerersten Archipel-Roman „Die drei Strandpiratinnen“ (1997/98), dass es zivilisatorische Reste gab, Ruinen, künstliche Gewässerbauten, im Urwald versunkene Gebäudestrukturen … das alles legte nahe, dass die heutige Archipelkultur auf den Schultern einer versunkenen Kultur stand. Und ich war neugieriger Historiker genug, um mir plausible Fragen zu stellen: Wie sah diese Vorgängerkultur aus? Was wurde aus ihr? Nun, die Beantwortung derartiger Fragen war … schwierig.
Im dritten Archipel-Roman, „Christinas Schicksal“ (1999/2000), bekam diese Kultur einen Namen. Es waren, hieß es, die so genannten Us’sheleyaa, die so genannten „Wasserkinder“. Eine Kultur, die in den mündlich tradierten Legenden als ungemein fortschrittlich und mächtig beschrieben wurde. Herren einer phantastischen Technik (z.B. im Bereich des Wasserbaus und auch des Schiffsbaus und der Navigation), von diesen Fähigkeiten wurde ihr Volksname abgeleitet.
Aber mit Legenden ist das so eine Sache: Werden sie nicht schriftlich fixiert, verschwimmt die Überlieferung von Generation zu Generation immer stärker. Im Archipel, das sollte ich bald entdecken, war es sogar noch deutlich problematischer. Denn hier wurde die Kommunikationsverbindung zwischen den versprengten Siedlungen, etwa auf der großen Archipel-Insel Coorin-Yaan, durch wandernde Geschichtenerzähler aufrechterhalten, etwa durch den Erzähler Aukan, der verschiedentlich durch Rhondas Heimatdorf kam.1
Inwiefern war das problematisch? Sollte man sich nicht darüber freuen, dass überhaupt irgendwer, und sei es in Form von eher legendenhaften Geschichten, das Wissen über die Vergangenheit bewahrte?
Eindeutig – ja. Aber dabei blieb es ja nicht.
Aukan, um bei diesem Beispiel zu bleiben, hatte neben der Funktion, Legenden der Vergangenheit zu erzählen, auch die Eigenschaft, Neuigkeiten von einem Dorf zum nächsten weiterzugeben. Und außerdem besaß er eine soziale Funktion, indem er nämlich heranwachsende Sprösslinge, insbesondere abenteuerlustigen Mädchen, durch diese Legenden davon abbrachte, auf eigene Faust das Dorf zu verlassen.
Wie stellte er das an? Nun, er baute schlichtweg Personen aus seiner Zuhörerschaft in die Geschichten ein und erzeugte auf diese Weise sowohl mehr Haftungswirkung dessen, was er erzählte, als er auf der anderen Seite so auch mahnte und warnte.
Aber veränderte das dann nicht automatisch die historische Überlieferung?, mögt ihr euch jetzt stirnrunzelnd fragen.
Aber ja!
Und das war ja erst der Anfang.
Aukan erzählte beispielsweise auch, daran erinnerte sich Rhonda später lebhaft, als sie in der Archipel-Metropole Asmaar-Len ihr neues Leben begann, von fernen Orten im Archipel. Besonders beeindruckend fand das kleine Mädchen Rhonda dabei die Darstellung von Asmaar-Len, das Aukan als ein Märchenreich beschrieb mit Dächern aus Gold und Korallen … absolut unwiderstehlich.
Die Realität sah, wie Rhonda entdecken musste, vollkommen anders aus. Und sie schloss daraus messerscharf: Aukan ist nie in Asmaar-Len gewesen.
Machte ihr das etwas aus?
Nein!
Das verdutzte mich dann einfach immer mehr. Und ich fragte mich unweigerlich: Wenn selbst das Wissen über reale Orte, die man selbst nicht gesehen hat, so verzerrt und in jederlei Weise irreal überhöht wird, wenn ferner die Geschichten sich von Ort zu Ort wandeln, weil stets lokale Personen in die Erzählungen eingebunden werden können und vielleicht sogar müssen … was um alles in der Welt passiert dann mit historischen Fakten, die Jahrhunderte zurückliegen?
Du lieber Himmel! Ja, das war ganz meine Ansicht.
Es sah doch nun wirklich alles danach aus, als wenn binnen weniger Generationen das reale historische Geschehen vollkommen in Vergessenheit geraten würde, nicht wahr? Das befürchtete ich naturgemäß auch.
Historische Wahrheit in unserem Sinne wurde auf diese Weise zu einem fluiden, verwirrenden und verwässerten Etwas, das ein wenig an eine Qualle erinnerte. Glibbrig und nicht mehr recht zu greifen, es würde dem Forscher beständig durch die Finger schlüpfen.
Es gab genügend Grund zu dieser Annahme.
Als Rhonda stärker in die Erzähltradition von Asmaar-Len hineinwuchs (zum gegenwärtigen Schreibzeitpunkt ist sie knapp 2 Jahre dort), entdeckte sie beispielsweise, dass zahlreiche Legenden in unzähligen Varianten erzählt wurden. Ich erwähne nur mal die Geschichte der Prinzessin Kyrina, die ab Seite 3500 des Romans „Rhondas Reifejahre“ erzählt wird, als dort eine Klientin gleichen Namens in den „Garten der Neeli“ gelangt.
Wie in eigentlich allen Archipel-Geschichten geht es hier um Liebeshändel, Abenteuerreisen und verlorene und wieder gefundene Liebende. In der Version, die Rhonda hier hörte, wurde beispielsweise das Schiff, in dem sie reiste, versenkt, und es sank auf den Meeresgrund, wo sie von einem untermeerischen Volk gerettet wurde.
Es gibt aber auch, wie Rhonda später im Roman „Rhondas Aufstieg“ erfuhr, eine Variante dieser Legende, in der die Prinzessin Kyrina von einem Wal gerettet wurde, weil sie sich im Besitz einer Nixenhaut befand, die es ihr ermöglichte, unter Wasser zu atmen.2
Und dann gibt es eine weitere Variante, in der, wie das Mädchen Francesca vergnügt erzählt, „die Wale am Meeresgrund lachen“.
Man erkennt hieran: Der Phantasie der Erzählerinnen und Erzähler ist kaum eine Grenze gesetzt. Historische Fakten verweben sich ununterscheidbar mit abenteuerlichsten märchenhaften Details, und es ist völlig normal, wenn in den Legenden, die die Geschichtenerzähler vorbringen, auf einmal Götter, Göttinnen, Waldgeister, Quellnymphen, Goldschuppennixen und andere rätselhafte, mystische Figuren auftauchen.
Für die historische Wahrheit ist das nahezu pures Gift.
Zugleich, das hat der Archipel-Historiker Olongis Na-Kere bei jahrzehntelangen Recherchen im Archipel entdeckt, fußen viele dieser Märchengestalten offenbar auf historischem Boden. Auch hier möchte ich nur stellvertretend für zweifellos viele andere ein einzelnes Beispiel herausgreifen: Als Rhonda im Unterricht in Asmaar-Len vom Unterweltherrscher Karcavennyo hört, der über seine Heerscharen von Juwelen schürfenden Zwergen gebietet3, da ist er für sie naturgemäß eine reine Legendengestalt.
Aber später, als sie durch Zufall auf die legendären Heiligtümer von Cooriday stößt, zu der auch unglaubliche Schätze an geschliffenen Juwelen gehören, da wird sie doch ein wenig wankend in ihrer Überzeugung. Denn immerhin: solche Juwelen gibt es ja wirklich. Und animistisch-gläubig, wie das Mädchen ist, nimmt es an, weil fest überzeugt vom Wirken der göttlichen Vorsehung und von der Existenz des Sonnengottes Laraykos und seiner vegetativen Gemahlin Neeli, dass es das Reich des Unterweltherrschers Karcavennyo vielleicht doch irgendwo gibt … und ist ganz froh darüber, dass die Legende so glimpflich für die Menschheit ausgegangen ist.
Sie hat natürlich keine Ahnung davon, dass in fernerer Zukunft ein Schatzsucher sich auf die Suche nach der Archipel-Insel Wushion machen wird. Einer Insel, auf der einstmals ein sagenhaft reicher Regent namens Karcay Vennyos gelebt und geherrscht haben soll.4
Allein hieran erkennt man recht deutlich, dass manche mythologische Persönlichkeit doch wohl in der realen Vergangenheit wurzelt. Man kann aber davon ausgehen, dass alle solchen wahren historischen Sachverhalte durch die verzerrende Überlieferung im Archipel dramatisch entstellt und ins Märchenhafte übersteigert worden sind.
Interessanterweise ist es die Liebesreligion des Archipels an den Sonnengott Laraykos und seine Gemahlin Neeli, die nicht allein retardierende Momente wirksam werden lässt. Viele Elemente der Vergangenheit werden, wenn auch ausgeschmückt und zweifellos übertrieben und verzerrt, durch die Gemeinschaft der Gläubigen in der einen oder anderen Form durchaus über die Generationen überliefert. Und dieser Glaube hat eine unglaubliche Beharrungskraft. Selbst als die Adeligen vom Südkontinent Coorin-Yaan besiedeln und mit Asmaar-Len die wohl bevölkerungsreichste Stadt des Archipels gründen, erweist es sich, dass diese Art der Erzählkultur und die solcherart tradierten Legenden unausrottbar sind.
Es sei nur am Rande darauf hingewiesen, dass auch die Bewohner des Südkontinents – wiewohl es dort eine etablierte Schriftkultur gibt! – auf sehr ähnliche Weise die reale Historie verzerren und mythologisieren. Das aber wäre einen eigenen Artikel wert, dafür ist heute der Platz nicht mehr gegeben.
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass historische Wahrheit und Fiktion im Überlieferungsgebaren der Archipelbewohner eine höchst kritische und vorsichtig zu betrachtende Melange darstellen, die man wirklich nicht 1:1 übernehmen kann. Ja, es sei denn natürlich, man ist ein leicht beeinflussbares Mädchen von 12 Jahren, wie es meine liebreizende Rhonda ist.
Tatsache bleibt außerdem, dass ich die Neugierde der Kinder auf Archipel-Legenden sehr gut verstehen kann. Man weiß wirklich absolut nicht, worauf man treffen wird, wenn man sich auf dieses Abenteuer einlässt … und genau deshalb bin ich wohl nach wie vor mehr fasziniert und entzückt als erschrocken und frustriert, wenn solcherart wirkungsvoll die historische Wahrheit sich hinter einem Schleier vernebelnder Worte versteckt und kaum mehr auffindbar ist. Es steht nicht zu erwarten, dass sich das in näherer Zukunft ändern sollte. Und das ist auch ganz gut so.
Bis bald, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. dazu die veröffentlichte Story „Zu Besuch in einem kleinen Dorf“, 2001.
2 Vgl. dazu die veröffentlichte Geschichte „Rhonda und die Legende von Sinaaya und der Geisterlagune“, 2008.
3 Vgl. dazu die veröffentlichte Story „In Karcavennyos Reich“, 2009.
4 Vgl. dazu beizeiten das Fragment „Schatzsucher“, 2003.