Blogartikel 532: Eine Begegnung mit einem Dybbuk

Posted Oktober 14th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Literatur ist etwas Wunderbares, und es ist dabei völlig unwe­sentlich, wie alt sie sein mag, wenn sie einfach gut geschrieben ist. Das habe ich heute (aktuelles Schreibdatum: 19. März 2023) wieder entdeckt, und ich finde es wichtig, euch daran teilhaben zu lassen. Denn Literatur hat neben der Tatsache, dass man sich damit bequem die Zeit vertreiben kann, die man sonst viel­leicht nicht anderweitig nutzbringend füllen könnte, auch den Vorteil, dass sie im idealen Fall die eigenen Gedanken in Bewe­gung bringt. Und in meinem Fall ist es so, dass man diese Ge­dankenanstöße sogar für den Oki Stanwer Mythos nutzen kann.

Aber ich sollte vielleicht vorne anfangen.

In meinen Bücherregalen stehen Aberhunderte von Büchern, die noch gelesen werden wollen, und es dauert mitunter Jahre, manchmal Jahrzehnte, ehe ich sie mir dann auch tatsächlich vornehme. In dem Bestreben, wieder einmal mehr der alten Kurzgeschichtensammlungen zu lesen, zog ich kürzlich einen solchen Band hervor. Es handelte sich um Robert Silverbergs „Steinbock-Spiele“, eine Goldmann-Storysammlung von 1976, die ich schon aus der Stadtbücherei in Wolfsburg kannte, aber nie gelesen hatte. Sie gelangte 1995 dann durch eine Sammlungsauflösung in meinen Besitz und wanderte seither ru­helos durch meine Bücherregale, wann immer ich meine Bü­cherbestände rückte – weil sie alphabetisch aufgestellt sind und die Neukäufe natürlich einsortiert werden müssen.

Nun zog ich mir die Storysammlung also hervor und begann sie zu lesen. Silverbergs qualitätsvoller Stil macht eine rasche Lek­türe quasi unmöglich, aber das ist auch das Schöne daran. So brauchte ich eine Weile, bis ich zu der Story vorstoßen konnte, die heute früh meine Morgenlektüre darstellte.

Ein wandernder Geist“ (OT: The Dybbuk of Mazel Tov IV) ist ein faszinierendes Stück SF-Geschichte, wie ich finde. Voraus­setzung, sie faszinierend zu finden, ist natürlich, dass man nicht irgendwelche antisemitischen Vorurteile mit sich herum­schleppt. Die Qualifikation brachte ich mühelos mit, nicht zu­letzt deshalb, weil ich mal für eine von mir sehr verehrte jüdi­sche Professorin an der Moses-Mendelssohn-Gedächtnisausgabe mitgearbeitet und diese Zeit in bester Erinnerung habe.

Für alle diejenigen, die mit dem obigen Titel nichts Rechtes an­fangen können, sei erläutert, dass ein Dybbuk ein Legendenwe­sen aus der jüdischen Mythologie ist. Es beschreibt einen wan­dernden Geist, insofern ist der deutsche Titel sehr passend. Der Geist eines Verstorbenen, um exakt zu sein, der von einem Le­benden Besitz ergreift und so die Lebenden verstört.

Nun stelle man sich die Ausgangslage dieser Geschichte vor: Is­rael ist auf der Erde untergegangen, und die Juden sind wieder in der Diaspora, diesmal auf einem Planeten, den sie Mazel Tov IV nennen und der 300 Jahre in der Zukunft liegt. Hier haben sich die säkularen Juden in Kibbuzim organisiert, aber sie glau­ben eigentlich nicht mehr wirklich an die Thora oder an Jahwe, sondern sind das, was man eigentlich das klassische europäi­sche Assimilations-Judentum nennen kann.

Und dann gibt es die Chassidim, eine kleine Splittergruppe stramm gläubiger jüdischer Bürger, die eine eigene Diaspora-Gemeinde geschaffen haben, die sehr viel fester in den alten Ri­ten und Glaubensvorstellungen verhaftet sind. Naturgemäß wird von den „aufgeklärten“ Juden auf sie herabgeschaut.

Nun, und dummerweise gibt es dann auf Mazel Tov IV auch noch Aliens, die Kunivar. Man sollte sie sich als eine Form von grün­felligen, vierbeinigen Zentauren vorstellen, mit denen sich die jüdischen Siedler zwar verständigen können, aber von denen sie eigentlich auch separiert leben. Manche sehen die Kunivar nur als bessere Tiere an, kaum viel zivilisierter als die Chassidim.

So weit die Ausgangslage.

Problematisch wird die Sache auf einmal, als ein Kunivar völlig desorientiert auf das Feld eines aufgeklärten jüdischen Landar­beiters stolpert … und Hebräisch spricht. Schlimmer noch: Er sagt, er sei Joseph Avneri, vor einem Jahr gestorben und nun als wandernde Seele in den Leib dieses armen Kunivar gefahren, um sich bemerkbar zu machen.

Der Dybbuk, da ist er.

Dumm daran ist Verschiedenes, was mich, während ich mit zu­nehmender Faszination diese Geschichte las, die gewisser ab­surder Züge nicht entbehrt, durchaus an gewisse metaphysi­sche Strukturen des OSM erinnerte. Ich komme dazu noch.

Zum einen glauben die aufgeklärten Juden nicht mehr an ein Leben nach dem Tode (anders als die Chassidim und, wie sich zeigen soll, auch anders als die Kunivar!).

Zum zweiten ist leider unleugbar, dass der Dybbuk Dinge weiß, die eben nur Joseph Avneri kennen kann … womit sich alsbald klar erweist, dass er die Wahrheit spricht.

Aber was kann man dann tun? Wie kann man ihn „erlösen“, wie er erfleht?

Ein Exorzismus?

Das ist finsteres Mittelalter, wird geurteilt. Es sei vermutlich besser, diese Angelegenheit den Kunivar zu überlassen. Die ge­ben denn auch bereitwillig zu, dass solche Seelenwanderungen in ihrem Volk durchaus bekannt sind (was die säkularen jüdi­schen Siedler natürlich nur in ihrer Vorstellung bestärkt, wie pri­mitiv doch diese Wesen sind … es geht hier also auch massiv um kulturelle Vorurteile).

Doch der Exorzismus der Kunivar ist wirkungslos. Der arme Dyb­buk bleibt im Kunivar-Körper eingeschlossen. Die Einheimischen sind also ratlos.

Da tritt Reb Shmuel, der Baal Schem der Chassidim, auf den Plan, sozusagen der Hohepriester der traditionalistischen jüdi­schen Siedler … und auch er ist der Ansicht, ein Exorzismus sei der einzige Weg, der gequälten Seele Josephs Ruhe zu ver­schaffen.

Diesmal gelingt der Exorzismus, und der Geist entweicht und findet seinen Seelenfrieden.

Ist das das Ende vom Lied? Nein, durchaus nicht!

Das wahre Problem kommt jetzt erst – denn die Kunivar, faszi­niert von der Tatsache, dass der chassidische Exorzismus wir­kungsvoller war als alles, was sie zustande brachten, sind nun fest überzeugt, dass der jüdische Gott Jahwe mächtiger ist als ihre eigenen Elementargeister … und sie scharen sich um den Baal Schem mit dem Wunsch: Wir wollen auch Juden werden!

Der Baal Schem ist entsetzt. Das sei unmöglich, die Kunivar sei­en keine Menschen, das ginge nicht.

Silverberg wird hier sehr feinsinnig. Ich zitiere mal:

Das sind gute Wesen: nehmen wir sie in Israel auf.“

Nein“, sagte der Baal Schem. „Ein Jude muss zuallererst ein Mensch sein.“

Zeigen Sie mir das in der Thora.“

Gütiger Himmel, ich musste so lachen, als ich an diese Stelle kam, ehrlich. Es ist von solcher feinsinniger Raffinesse, dass es wirklich gut gemacht und – meiner Ansicht nach – auch zeitlos ist. Es geht um Akzeptanz, Fremdheit, dogmatische religiöse Engstirnigkeit und vieles andere mehr an dieser Stelle. Eine sehr beeindruckende, tiefsinnige Geschichte, die man unbe­dingt gelesen haben sollte. Gute Science Fiction, unbezweifel­bar!

Und nun schwenke ich über zum OSM.

Ich habe verschiedentlich davon erzählt, dass es im OSM den Widerstreit einer monistischen mit einer dualistischen Weltsicht gibt. Der Monist ist – wie die säkularen Juden in der obigen Ge­schichte – der Ansicht, das Leben beginnt mit der Zeugung bzw. der Geburt und endet mit dem Tod. Stirbt der Körper, erlischt der Seelenfunke, Licht aus, Film ist zu Ende.

Der Dualist, dessen Position mir näher ist, auch wenn sie im strengen Sinne empirisch nicht zu beweisen ist, geht dagegen davon aus, dass Körper und Seele zwei getrennte, im Leben fu­sionierte Entitäten darstellen. Der Körper ist das notwendige Ve­hikel, damit die Seele sich ausdrücken kann, und wenn der Kör­per stirbt, wandert die Seele … sei es, dass sie sich dann in ei­nem wie auch immer gearteten Jenseits wieder findet oder in ei­ner neuen Körperhülle in Form einer Reinkarnation einen weite­ren Lebenszyklus auf der Erde (oder wo auch immer) von neu­em beginnt.

Im OSM vertreten nahezu alle Baumeister den monistischen Standpunkt, und sie werden eigentlich ständig widerlegt. Das ist deshalb plausibel, weil ich selbst eben Dualist bin und der OSM an vielen Stellen überdeutlich signalisiert: Doch, es gibt eine Seele, es gibt ein Leben nach dem Tod, es gibt so etwas wie Wiederkehr aus dem Jenseits.

Von daher war die Dybbuk-Geschichte für mich durchaus akzep­tabel. Aber Silverberg geht natürlich nicht so weit wie der Oki Stanwer Mythos, was nicht verblüffen kann. Er bleibt in der Ge­schichte, so interessant, vielseitig und tiefsinnig sie auch ist, in einem traditionalistischen Kreis gefangen, der seine Sichtweise notwendig beschränkt. Mag sie auch für Menschen, die ein mo­nistisches Weltbild besitzen, so schon provozierend genug sein … der OSM setzt da noch einen drauf, und zwar auf folgende Weise:

Im KONFLIKT 24 des OSM, also der Serie „Oki Stanwer – Der Neutralkrieger“, an der ich seit 1994 schreibe, hat sich die bi­zarre Situation ergeben, dass der Dämonenplanet TOTAM, der seit vielen Milliarden Jahren DIE Gefahrenquelle schlechthin und den Feind des Lichts dargestellt hat, zerborsten ist. Die Trüm­mer des schwarzen Kristallplaneten sind über das gesamte Uni­versum zerstreut und bilden diverse bizarre Enklaven. Ihnen ge­meinsam ist, dass die kristallenen Trümmerstücke, so genannte HEIMATSTÜCKE, Portale zu weit entfernten Teilen des Kosmos darstellen. Es gibt allerdings – soweit bislang bekannt – keine Art von Netzplan, der zeigen würde, wohin man gelangt, wenn man beispielsweise durch Tor 1 geht. Das kann zum Nachbar­planeten führen oder zu einer Welt, die Millionen Lichtjahre ent­fernt ist. Und wenn man dort ein weiteres Trümmerstück findet, kann man noch weiter vom Ursprung entfernt landen … der Ausgangspunkt beispielloser Odysseen.

Diesen Kosmos nennt man das „Netzuniversum“, es ist buch­stäblich uferlos.

Die Tatsache, dass man sich hierin endlos verirren kann, ist ein ernsthaftes Problem, aber in dem Kontext, der hier interessiert, gar nicht mal von entscheidender Relevanz. Viel schwieriger ist es, dass die HEIMATSTÜCKE Teile von TOTAMS legendären Kno­chenstraßen darstellen. Und die funktionieren nach wie vor. Ihre Funktion war es, treibende Seelen einzufangen und sie dann in Gestalt lebender Skelette, der Totenköpfe, in TOTAMS Standar­darmee, die LEGION, zu entlassen.

Ursprünglich wurden die Totenköpfe dann nach ihrer neuen Ge­staltwerdung auf TOTAM gedrillt und trainiert … aber TOTAM gibt es nicht mehr. Was also passiert nun? Die Antwort: Die trei­benden Seelen werden – meistens – immer noch zu Totenköp­fen, und sie tauchen überall im Universum auf. In gewisser Wei­se sind sie zu Schreckgespenstern geworden, die ihrer eigenen Agenda folgen.1

Auch das ist nicht das eigentliche Problem, das liegt in Wahrheit noch tiefer: Die Bediensteten der Lichtmächte, die sich um den AUREUS scharen, suchen weiterhin nach den Exponenten des Bösen. Denn die Existenz der HEIMATSTÜCKE, der Dämonen von TOTAM und der Totenköpfe zeigt ja überdeutlich, dass TOTAM noch irgendwo da draußen sein muss. Und solange das der Fall ist, ist der Krieg nicht entschieden.

In einem Krieg, das lernt jeder Stratege, ist nicht zentral, dass man über gute Waffen verfügt oder motivierte Soldaten oder gute Strategen, sondern das Wichtigste ist Information! Weswe­gen jede Armee bemüht ist, das Problem der Spionage zu unter­binden. Und damit kommen wir zum eigentlichen haarsträuben­den Problem des KONFLIKTS 24.

Es wird benannt mit dem Begriff des „absoluten Tabus“.

Das absolute Tabu für die Diener des AUREUS ist … der Tod!

Auf den ersten Blick klingt das abstrus, auf den zweiten wird deutlich, dass das alles gar nicht zum Lachen ist. Denkt mal mit: Wenn man ein wichtiger Wissenschaftler oder sonstiger Ge­heimnisträger der Lichtseite ist, ist man notwendig ein lebendes Wesen. Man mag zu Lebzeiten noch so loyal und ergeben sein, wie man möchte, irgendwann kommt der Zeitpunkt, da der Kör­per erschlafft und man sich eigentlich nur noch nach dem tiefen Schlummer des Todes sehnt.

Aber wir befinden uns im OSM.

In der gespenstischen Welt der Knochenstraßen und der wieder­geborenen Seelen. Da ist offensichtlich kein „tiefer Schlummer des Todes“, der all die Betriebsgeheimnisse für immer begraben würde.

Vielmehr wird im Moment des Todes die Seele freigesetzt und ins Universum geschleudert … wo die Knochenstraßen sie un­vermeidlich einfangen und als Totenkopf irgendwo im Kosmos wieder in ein neues, diesmal ewiges Dasein, entlassen.

Stellen wir uns vor, diese loyalen Lichtmacht-Wissenschaftler seien zuvor monistisch veranlagt gewesen … auf einmal entde­cken sie nach dem Tode, dass alle ihre Überzeugungen offen­kundig falsch und eindimensional waren. Denkt ihr, sie würden nun dennoch ihren alten Ansichten treu bleiben?

Nun, die hochrangigen Diener des AUREUS sind sich da nicht si­cher. Also geben sie eine Doktrin aus, die Unmenschliches aus­sagt: Das absolute Tabu darf nicht gebrochen werden. Konkret bedeutet das in der Umsetzung: Egal, wie hinfällig ein loyaler Lichtmacht-Wissenschaftler ist – er darf nicht sterben!

Deshalb werden schwer verletzte Soldaten oder todkranke Wis­senschaftler kurz vor ihrem Lebensende in ein ewiges Stasisfeld versetzt.

Um zu verhindern, dass sie nach dem Tod Geheimnisverrat be­gehen – sei es, weil man sie in ihrer neuen untoten Form einer ewigen Folter unterzieht, sei es, dass sie schwankend in ihren vormaligen Überzeugungen werden.

Ihr merkt schon, dass diese Vision über Silverbergs Dybbuk deutlich hinausgeht und ein sehr ernstes weltanschauliches Pro­blem darstellt.

Es gibt dafür aktuell noch keine Lösung, aber Tatsache ist, dass die Schaffung des „absoluten Tabus“ für eine moralische Grenz­überschreitung gesorgt hat, die die vermeintlich Guten zu einer moralisch höchst fragwürdigen, unmenschlichen Instanz ge­macht hat.

Wer also glaubt, die dualistische Weltsicht sei irgendwie von gestern und hätte keine Relevanz, der kann das gerne weiter glauben. Ich bin nicht dieser Ansicht, und ich werde im OSM weiterhin diese Pfade verfolgen und schauen, wohin sie mich führen. Solche Denkexperimente sind eine höchst faszinierende Sache, und ich freue mich, euch auf diese bizarren Felder mei­ner Geschichten zu geleiten. Beizeiten erfahrt ihr mehr davon.

In der kommenden Woche stelle ich euch ein sechstes Langzeit­projekt vor, in dem wir ins Erotic Empire zurückkehren werden.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Wie das im Detail aussieht, kann man in meinem E-Book „Mein Freund, der Totenkopf“, verfolgen. Der Roman spielt im 25. KONFLIKT, also im zweiten Netzuniversum, rund 5 Milliarden Jahre nach den obigen Geschehnissen.

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